GEFÜHLE OFFENBART

(Originaltitel: Unchecked Emotions)

 

von G.L. Medeiros

( glm777@aol.com )

 

Datum: 18. November 1996

 

aus dem Englischen übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de >

*** überarbeitet 2017 ***

 

Wertung: PG

Disclaimer: Die hier erwähnten Charaktere gehören zu Chris Carter, Fox und Ten Thirteen Productions. Diese Geschichte möchte das Copyright nicht verletzen.

Zusammenfassung: Scully stößt etwas Schlimmes zu und Mulders Beschützerinstinkte gehen mit ihm durch. Der erste Teil des Dreiteilers "Gefühle offenbart".

Wichtiger Hinweis: Obwohl diese Geschichte auf einer Vergewaltigung basiert, ist nichts davon auf irgendeine Weise detailliert beschrieben.

Nicht unbedingt direkte MSR, nur eine tiefgehende Freundschaft, die sich vielleicht eines Tages in eine Beziehung ändern kann, die die Herzen aller Relationshipper erfreuen wird! Diejenigen von Euch, die unsere Lieblings-Heldin nicht schwach oder verletzlich sehen möchten -> LEST DAS HIER LIEBER NICHT!

Ein spezielles Dankeschön für die beiden Stephs, durch deren gutes Zureden ich diese Story gepostet habe und dafür, dass sie mein neurotisches Quengeln ertragen haben :D Bitte veröffentlicht es nicht weiter ohne meine Erlaubnis. Danke  :)

Alle Kommentare (besonders die Komplimente!) sind willkommen bei glm777@aol.com

 

 

"Gefühle offenbart 1 - Gewalt" von G.L. Medeiros

 

Das Klingeln des Telefons riss Mulder aus dem Tiefschlaf. Er griff nach dem Hörer, wobei er ein Glas umstieß. Er fluchte und bekam dann endlich den Hörer zu fassen.

"Hallo", nuschelte er verschlafen. Doch als er den Ton der Stimme am anderen Ende hörte, wurde er hellwach und er setzte sich auf den Rand des Bettes.

"Agent Mulder? Skinner. Sie sollten am besten zu Agent Scullys Wohnung kommen - jetzt sofort." Mulders Herz machte einen Sprung.

"Geht es ihr gut?" fragte er und machte sich auf eine schlimme Antwort gefasst.

"Sie hatte einen... ähm... Unfall."

"GEHT ES IHR GUT!?"

Skinner seufzte tief. "Fox - sie wurde heute offenbar in ihrer Wohnung überfallen. Sie redet nicht, aber sie sieht nicht gut aus. Sie fragt nach Ihnen. Sie will nicht ins Krankenhaus und sie will auch nicht mit den anderen Agenten reden."

"Ich bin unterwegs. Sagen Sie ihr, ich bin sofort da."

In weniger als zwanzig Minuten erreichte Mulder das beeindruckende alte Backsteinhaus, das Scullys zu Hause war. Er konnte sich genau daran erinnern, wie sie zum ersten Mal ihre Wohnung gesehen hatte, mit verträumten blauen Augen und voller Aufregung. Er nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen und stieg aus dem Wagen. Zwei Polizeiwagen standen vor dem Gebäude und drei in Zivil, die Mulder augenblicklich bemerkte. Er nahm zwei Stufen auf einmal bis in den vierten Stock, wo Scully wohnte. Die Tür stand offen und er konnte jemand leise reden hören.

Er drückte die Türe auf und war erleichtert, als er Scully in dem großen Schaukelstuhl sitzen sah, den er ihr zum Einzug geschenkt hatte. Sie hatte den Kopf gesenkt und schaukelte hastig vor und zurück, ihre Beine gekreuzt und ihre Arme vor sich verschränkt.

Ein rascher Blick durch das Apartment verriet ihm, dass hier ein Kampf stattgefunden haben musste - die Möbel waren überschlagen und zerbrochenes Glas lag auf dem Boden. Skinner stand neben Scully, eine Hand an seiner Hüfte, mit der anderen massierte er sich sein Genick. Ein paar weitere Agenten standen ebenfalls im Zimmer. Einer von ihnen, Mulder kannte ihn aus der Gerichtmedizin, streckte eine Hand nach Scully aus.  Mulders Herz schmerzte, als Scully mit erhobenen Händen erschrocken von ihm zurückwich. Mulder trat zu ihr und hockte sich vor sie hin.

"Scully?" fragte er leise. Ganz langsam legte er eine Hand an ihr Kinn und hob ihren Kopf. Ihm stockte der Atem, als er die Verletzungen auf ihrem Backenknochen und die Platzwunde an ihrer Schläfe sah. Ihre Oberlippe war geschwollen und trockene Blutkrusten klebten an ihrem Haaransatz. Mulder spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, als er das Ausmaß ihrer Verletzungen sah. "Mein Gott", flüsternd er gebrochen. Sie richtete ihren tränenerfüllten Blick auf ihn. Ohne sich umzudrehen sagte er ruhig zu den anderen Agenten, "Lassen Sie mich mit ihr allein."

Die Agenten taten wie ihnen geheißen. Sie verschwanden im Flur und suchten nach Hinweisen, die ihnen verraten würden, welcher Mensch so grausam zu einer von ihnen gewesen war. Sie ließen die Tür offen stehen.

Mulder nahm Scullys Gesicht in beide Hände und sah, wie die Tränen ihre Wange herunterrollen. Er kannte Scully besser als irgendjemand anderes und er wusste, dass sie am Rand ihrer Kräfte war.

"Sag mir, wer dir das angetan hat."

"Ich kann nicht", flüsterte sie durch ihre Tränen. Sie zitterte und begann, leise zu schluchzen. Es brach Mulder das Herz. Er nahm sie in die Arme und er drückte sie fest an sich.

"Ssshhh, es ist okay... Ich bin hier... Ich bin ja hier." Er hielt sie fest und ging etwas unbeholfen mit der schaukelnden Bewegung des Stuhls mit. Draußen im Flur hatten viele der Agenten Mühe, den Kloß in ihrem Hals zu verschlucken. Alle bewunderten und mochten Agent Scully, und sie erkannten durch "Spooky" Mulders Ausdruck von Sanftmut die enge Bindung, die die beiden Partner miteinander verband - eine Bindung wie keine andere.

Vorsichtig löste Mulder seine Umarmung um nahm ihre Hand in seine. "Scully, du musst mit mir reden, und dann müssen wir dich in ein Krankenhaus bringen", sagte er. "Wer hat dir das angetan?"

Scully atmete tief durch, um sich zu sammeln und erwiderte ebenso ruhig, "Ich kann nicht, Mulder. Bitte zwing mich nicht, etwas zu sagen, das wir bereuen werden."

"Scully, du kannst nicht einfach so tun, als wäre das alles nicht passiert - dieses Tier hat dich brutal zugerichtet und dir Gott weiß was angetan und du willst es einfach vergessen?" Er versuchte, ruhig zu bleiben, doch das fiel ihm mehr als schwer. Er wollte diesen Dreckskerl umbringen... Mulder befürchtete bereits zu wissen, was der Bastard ihr noch angetan hatte. Er wollte es nicht hören - und er war sich sicher, dass Scully noch nicht so weit war, um darüber zu sprechen. Wieder hob er ihr Kinn und sah ihr tief in die Augen. Dort sah er den Grund.

"Er hat dir gedroht." Es war eine Aussage, keine Frage. "Er hat gesagt, dass wenn du es irgendjemandem erzählen würdest, würde er wiederkommen. Hab ich Recht?"

Scully schüttelte schwach den Kopf. "Mulder, bitte - ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt."

Mit einem Mal erkannt Mulder, was sie meinte. "Er hat nicht dich bedroht, stimmt's? Er will mir etwas antun, wenn du ihn verrätst, nicht wahr?" Scully begann zu weinen, doch Mulder bestand darauf. Er musste einen Namen aus ihr herausbekommen.

"Scully, du musst es mir sagen. Wie kann ich mich selber schützen, wenn ich nicht weiß, wer der Feind ist?"

Er konnte den Kampf sehen, den sie mit sich führte. Sie wollte es ihm sagen, aber sie hatte schreckliche Angst. Um ihn.

"Sag es mir."

"Harrison", flüsterte sie so leise, dass er sich näher zu ihr hin beugen musste, um es zu verstehen.

"Harrison?" Paul Harrison war für einen kurze Zeit Mulders Partner gewesen, noch bevor es die X-Akten gab. Sie waren nie Freunde gewesen. Um genau zu sein, wegen Mulders Berichten über seiner unbeständigen und gefährlichen Art während der Fälle, war Harrison in den Innendienst versetzt und jetzt kürzlich erst wieder in den Außendienst aufgenommen worden. Er hatte Mulder nie verziehen. Mulder spürte Übelkeit in seinem Magen.

"Was wollte er hier, Scully?"

"Er hat gesagt, dass er meine Hilfe bei dem Alexander-Mord bräuchte... du weißt schon, der Autopsiebericht, den ich für die Abteilung Gewaltverbrechen gemacht habe. Er behauptete, dass er einige von seinen Notizen verlegt hätte und fragte, ob er sich meine Tonbänder mit dem Bericht ausleihen könnte."

"Du hattest also keinen Grund, misstrauisch zu sein. Er hat dich nie zuvor belästigt, oder?"

"Nein“, sagte sie leise. "Ich habe nicht einmal bemerkt, dass er sich komisch benommen hat, bis es zu spät war. Bevor ich wusste, was passierte, griff er nach mir... und schlug mich..." Ihre Stimme brach und Mulder umfasste ihre Wange mit einer Hand in einer auffordernden Geste, das Eis zu brechen.

"Ich konnte nicht ein Mal meine Waffe holen."

"Er hat dich vergewaltigt?" Die Worte blieben ihm im Hals stecken, aber er wusste, dass sie reden musste - und er musste es hören.

"Ja", schluckte sie und schluchzte. Schweres, herzzerreißendes Schluchzen. Erlösendes Schluchzen, das Mulders Herz brach und ihn gleichzeitig rasend machte. Er konnte die anderen Agenten an der Tür stehen sehen, konnte sehen, wie sie alles mitbekamen und wie unangenehm es ihnen war. Er wischte sich mit der Hand über die Augen und wandte sich an AD Skinner. "Harrison", sagte er leise. Die Agenten wurden allesamt kreideweiß. Einer ihrer eigenen Leute hat das getan?

Als Mulder nickte, brüllte Skinner in sein Telefon, "Ich will Paul Harrison hier, aber plötzlich!"

Als sie das hörte, sah sie zu Tode erschrocken zu ihm auf. "Mulder, nein, er wird dich umbringen. Er hat gesagt, dass er sich an dir rächt, wenn es jemand herausfindet!"

"Mach dir um mich keine Sorgen, Scully. Ich kümmere mich um Harrison.  Aber du musst jetzt erst mal in ein Krankenhaus." Scully protestierte, doch Mulders sanftes "Scully, bitte. Ich muss wissen, dass du in Ordnung bist." ließ Scully nachgeben. "Du wirst mich nicht allein lassen?" fragte sie und bot den Anblick eines verlorenen kleinen Mädchens.

"Nein. Ich verspreche es." Mulder wusste, dass sie nicht nur nach einem Versprechen bezüglich des Krankenhausaufenthaltes fragte. Scully bat ihn darum, vorsichtig zu sein und sich von Harrison nicht überraschen zu lassen. Mulder hoffte, dass er sein Versprechen halten konnte.

Mulder stand alleine neben der Tür des Untersuchungsraumes und wartete ungeduldig. Die meisten anderen Agenten, Skinner eingeschlossen, wollten alle mit ins Krankenhaus kommen, aber Mulder hatte sie alle gebeten, Scully eine wenig Freiraum zu lassen, damit sie sich über alles klar werden konnte. Der beste Weg, ihr jetzt zu helfen ist, Harrison zu finden, hatte er ihnen gesagt. Sie war jetzt schon fast eine ganze Stunde da drin gewesen. Er war bereit gewesen, mit ihr dort rein zu gehen - schließlich hatte er ja ein Versprechen gemacht -, doch die Schwester hatte ihn hier zum Warten verdonnert. Jetzt stand er da und wurde mit jeder Minute nervöser. Er hatte immer noch vor Augen, wie schwer es ihr gefallen war, von dem Stuhl aufzustehen und sich auf die Bahre zu legen. Er hatte Harrison in dem Moment umbringen wollen. Verflucht, er wollte diesen Bastard immer noch zur Hölle schicken.

"Wenn ich innerhalb der nächsten fünf Minuten nichts von ihr gehört habe, lasse ich Regeln Regeln sein und gehe da rein", dachte er. Doch in dem Moment kam eine Schwester aus der Tür.

"Agent Mulder?"

"Ja. Wie geht es ihr?"

"Kommen Sie herein. Der Arzt wird Ihnen gleich Näheres sagen."

Mulder folgte der Schwester in einen kleinen Raum, der bis auf den laut gestellten Fernseher völlig leer war. Mulder war schockiert. Es war der Familienraum - der Raum, in den die Ärzte den Familien mitteilten, dass ihre Lieben verstorben waren. Er griff nach dem Arm der Schwester, als sie im Begriff war, den Raum wieder zu verlassen. "Geht es ihr gut?" fragte er.  Die Schwester sah die Panik in seinen Augen und dachte mit einer Spur von Sehnsucht, "es ist schön, jemanden zu haben, der sich so um einen sorgt." Sie lächelte ihn versichernd an. "Sie wird schon wieder. Sie geben ihr nur ein paar letzte Anweisungen was ihre Nähte angeht."

Mulder lächelte. "Hat sie nicht erwähnt, dass sie selbst Ärztin ist?"

"Oh - nein, hat sie nicht. Ist aber auch nebensächlich - wir müssen trotzdem noch den Papierkram erledigen", sagte sie mit einem Lächeln. In dem Moment kam der Arzt heraus.

"Agent Mulder?" Der Arzt war ein älterer Herr mit einem freundlichen Gesicht und buschigen Augenbrauen. Mulder erhob ein stilles Dankgebet, dass Scully nicht von irgendeinem jungen Grünschnabel untersucht worden ist.

"Wird sie wieder gesund?"

"Physisch wird sie es, aber es wird eine Weile dauern." Er schwieg für einen Moment. "Der Mann, und ich verwende diesen Begriff im weitesten Sinne, der ihr das angetan hat, war ein Tier. Neben Schwellungen und Blutergüssen hat sie drei gebrochene Rippen, die wahrscheinlich von Tritten stammen, und ein verstauchtes Handgelenk." Wieder hielt inne. "Agent Mulder, Sie sind sich dem vollen Ausmaß ihrer Verletzungen bewusst, richtig?"

Mulder verstand alles, was der Arzt gesagt - und nicht gesagt - hatte. Er konnte nur nicken.

"Sie wird in der nächsten Zeit große Schmerzen haben. Sie scheint sich allerdings gehörig gewehrt zu haben. Sie hatte Blut- und Hautspuren unter ihren Fingernägeln. Ich habe ihr angeboten, mit jemandem aus dem Vergewaltigung-Krisen-Center zu sprechen, aber sie hat es abgelehnt. Ich habe ihr außerdem etwas gegen eine ungewollte Schwangerschaft verabreicht."

Mulder schluckte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.

"Sie ist eine sehr mutige junge Frau und sie ist sehr stark von dem, was ich gesehen habe. Aber sie wird in den nächsten Wochen viel Hilfe und Unterstützung brauchen. Ich nehme an, dass Sie in den nächsten Tagen bei ihr bleiben werden?"

Mulder war noch gar nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken, aber er schwor, dass er Scully in der nächsten Zeit nicht aus den Augen lassen würde. Er nickte dem Arzt zu, als Scully in einem Rollstuhl von einer Schwester geschoben in den Raum kam.

"Ich kann jetzt laufen", sagte sie mit einem kleinen Lächeln. Nur Mulder konnte die Pein in ihren Augen sehen.

"Bist du sicher?" fragte er besorgt.

Sie nickte und bedankte sich höflich bei ihrem Arzt. "Vielen Dank, Doktor Corey."

"Passen Sie auf sich auf", erwiderte dieser. "Wenn Sie irgendetwas brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen." Bevor sie gingen, holte der Arzt ein Blatt Papier aus seiner Tasche und reichte es Mulder zusammen mit einigen anderen Unterlagen, die die Schwester ihm gegeben hatte. Ein rascher Blick auf den Zettel verriet ihm, dass es eine Verschreibung für ein Schlafmittel war. Mulder war sich sicher, dass Scully es auf keinen Fall nehmen würde. Sie nahm nie gerne Medizin, egal welcher Art. Er sah zu ihr hin. Sie lehnte an der Wand und sah sehr erschöpft aus, als ob sie jeden Moment umfallen würde. Mulder dachte bereits daran, die Schwester mit dem Rollstuhl zurück zu bitten, doch er wusste, dass Scully dagegen sein würde. Sie hasste es, andere ihre Schwächen sehen zu lassen. Mulder nahm an, es war, weil sie als Frau einen Beruf in einer Männerwelt ergriffen hatte. Wenn sie einmal Zeit gehabt hatte, über all das nachzudenken, würde sie die Tatsache hassen, dass die anderen Agenten sie so in ihrer Wohnung gesehen haben.

Mulder steckte die Zettel in die Tasche, ging zu Scully und nahm sie in die Arme. Er hielt sie sanft, aber bestimmt und ließ sie dann los, um einen Arm um sie zu legen. Sie legte ihren Arm um seine Hüften und ihren Kopf an seine Schulter.

"Willst du zum Wagen laufen oder soll ich ihn herum fahren?"

"Ich laufe", sagte sie ruhig. "Ich kann etwas frische Luft gebrauchen."

Langsam gingen sie aus dem Gebäude und über den Parkplatz. Als er Scully ins Auto geholfen hatte, dachte Mulder an den Bericht, den er abgeben musste und an die anderen Agenten, die auf ihn warteten. Als sie den Highway entlang fuhren, schlief Scully ein, ihr Kopf ans Fenster gelehnt und ihre Lider dunkle Schatten auf ihren Wangen. Mulder rief Skinner von seinem Handy aus an und berichtete ihm von Scullys Zustand.

"Haben sie ihn schon gefunden?" fragte er.

"Noch nicht", antwortete Skinner.

"Wenn sie ihn finden, gehört er mir." Damit legte er auf.

 

Weiter geht's in Teil 2

 

 

 

"Gefühle offenbart 2 - Entschlossenheit"

von G.L. Medeiros

 

Sie war spät dran. Es war ihr erster Tag im Büro seit jenem Abend und sie war spät dran. Fox Mulder machte sich Sorgen. Warum rief sie nicht an?

Mulder setzte sich an seinem Schreibtisch zurück. Er konnte den Abend nicht vergessen, an dem Dana Scully, seine Partnerin und mehr, von einem FBI Agenten vergewaltigt und zusammengeschlagen worden war. Er ließ die Erinnerungen über sich kommen.

 

Mulder wachte abrupt auf. Für einen Moment wusste er nicht wo er war, doch dann erinnerte er sich plötzlich wer er war und warum er hier war.  Rasch stand er auf und sah in Scullys Schlafzimmer nach. Es war leer.

"Scully?" rief er leise und ging auf das Badezimmer zu, um nachzusehen.

"Ich bin hier, Mulder", kam die leise Antwort aus der Küche. Mulder fand sie am Küchentisch. Das Licht war aus und Scully hatte ihren Kopf müde auf den Tisch gestützt. Mulder hockte sich neben sie.

"Hey", flüsterte er. "Was machst du denn hier im Dunkeln mitten in der Nacht?"

Scully hob den Kopf und lächelte ihn müde an. "Ich hatte wieder einen Alptraum und hielt es im Bett einfach nicht mehr aus. Ich fühlte mich irgendwie... ich weiß auch nicht... klaustrophobisch, glaube ich."

"Ich habe dich dieses Mal gar nicht gehört. Warum hast du mich nicht geweckt?"

"Mulder, ich habe dich heute Nacht schon drei Mal geweckt. Du brauchst deinen Schlaf. Ich komme schon klar. Ich werde einfach hier schlafen."

Mulder seufzte. Sie war schon drei Mal in dieser Nacht wach geworden, schreiend, geplagt von Alpträumen, in denen sie den Vorfall wieder durchlebte. Jedes Mal war er zu ihr gegangen und hatte sie gehalten. Er hatte sie gewiegt wie ein kleines Kind und ihr sinnlose, beruhigende Dinge zugeflüstert, um sie zu beruhigen. Als sie wieder eingeschlafen war, war Mulder wieder zurück zur Couch gegangen und hatte auf das nächste Mal gewartet.

Mulder wusste nicht, was er anders tun sollte und sagte leise, "Okay, Scully. Ich bleibe hier eine Weile bei dir sitzen, in Ordnung?"

"Mulder, ich würde jetzt gerne allein sein, okay? Bitte nimm es mir nicht übel, aber ich muss nachdenken. Ich muss wissen, dass ich mal fünf Minuten ohne Heulen, Alpträume oder irgendetwas anderes verbringen kann.  Ich muss alles, was mir passiert ist, erst einmal sinken lassen."

Mulder nickte langsam. Er dachte zwar nicht, dass ausgerechnet vier Uhr morgens die bester Zeit für so etwas war, besonders nicht, weil sie so wenig geschlafen hatte, aber er verstand ihr Bedürfnis, etwas von ihrer dringend benötigten Kontrolle wieder zu erlangen.

"Okay, aber versprich mir, dass du mich weckst, wenn du mich brauchst."

"Pfadfinder-Ehrenwort", erwiderte Scully mit einem Lächeln. Mulder lächelte zurück und nachdem er sanft ihren Kopf getätschelt hatte, ging er wieder ins Wohnzimmer zu seiner Couch. Vielleicht hätte ich sie vom Krankenhaus mit zu mir nehmen sollen, dachte er.

 

Er konnte nicht schlafen. Er hörte, wie Scully leise in der Küche rumorte. Vielleicht machte sie sich einen Tee. Er hörte das Kratzen des Stuhls auf dem Boden, als sie sich an den Tisch setzte und lauschte scheinbar Ewigkeiten der Stille, die folgte. Vielleicht war sie auf dem Tisch eingeschlafen, dachte er. Gerade als er sich entschlossen hatte, aufzustehen und nach ihr zu sehen, erschien ihre Silhouette im Türrahmen des Wohnzimmers. Mulder setzte sich auf.

"Alles in Ordnung?" fragte er. Es kam ihm vor, als seien diese drei Worte die Basis für jedes Gespräch, das sie in den letzten vierundzwanzig Stunden gehabt hatten.

Scully schüttelte den Kopf und er merkte, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen.

Wenn man wirklich an einem gebrochenen Herzen sterben kann, dachte er traurig, bin ich ein toter Mann. Er selbst war den Tränen nahe.

"Komm her", flüsterte er und streckte die Arme aus. Scully ging langsam zu ihm und setzte sich neben ihn auf die Couch.

"Ich kann nicht schlafen", schluchzte sie. "Ich komme mir vor, als würde ich nie wieder dieselbe, als ob ich nie darüber wegkomme." Sie legte ihre Wange an Mulders Brust und ihre Tränen durchnässten sein T-Shirt.

"Komm", sagte Mulder und rückte ein wenig, so dass Scully mit dem Rücken zu ihm auf der Couch lag. Dankbar legte sie sich auf das Kissen neben Mulder und rückte zu ihm. Mulder legte seinen Arm um sie und hielt sie fest an sich gepresst.

"Schlaf jetzt ein", murmelte er in ihr Haar. "Ich verspreche, ich werde es nicht zulassen, dass dir jemand weh tut." Seine Umarmung schien Scully zu beruhigen, denn er merkte, wie sie sich in seinen Armen entspannte. Bald darauf schliefen beide ein.

 

Am nächsten Morgen wurde Mulder vom lauten Klingeln an der Tür geweckt. Vorsichtig, um Scully nicht zu wecken, zog er einen Arm unter ihrem Kopf und den anderen unter ihrer Hüfte hervor. Sie hatten beide offensichtlich fest geschlafen, denn sie lagen immer noch in derselben Position, in der sie eingeschlafen waren. Mulder ging zur Tür und stöhnte, als er durch den Spion sah. Skinner. Er öffnete.

"Agent Mulder", sagte Skinner freundlich. Wenn er überrascht war, Mulder in T-Shirt und Jogginghosen in Scullys Wohnung vorzufinden als ob er gerade aus dem Bett gefallen wäre, ließ er sich nichts anmerken. "Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich sehe mal nach, ob Agent Scully etwas braucht."

Skinner sah in die Wohnung und sein Blick fiel auf Scully, die immer noch fest schlafend auf der Couch lag. Man konnte deutlich den Abdruck eines weiteren Kopfes auf dem Kissen neben ihr sehen und Scully lag genau am Rande der Couch. Es sah definitiv danach aus, als ob jemand neben ihr geschlafen hätte. Mulder fühlte sich wie ein kleines Kind, das mit der dabei ertappt worden war, wie es unerlaubt Süßigkeiten stibitzte, und fand, dass er eine Erklärung schuldig war. Er fuhr sich mit der Hand durch sein vom Schlaf wirres Haar. "Sie hatte die ganze Nacht Alpträume. Nach den ersten paar war es einfacher, sie mit mir auf die Couch zu nehmen."

Verdammt, das klang rechtfertigend, sogar in seinen Ohren. Er sah AD Skinner genau in die Augen und forderte geradezu einen Kommentar dazu heraus.

"Agent Mulder, Sie brauchen mir nichts zu erklären. Ich weiß, dass Sie und Agent Scully eine... einzigartige... Beziehung zueinander haben. Ich bin froh, dass Sie bei ihr geblieben sind."

"Haben sie ihn schon gefunden?" fragte Mulder.

"Noch nicht", antwortete Skinner. "Aber sie werden ihn finden."

Dann teilte Skinner Mulder die Bedingung einer Beurlaubung mit und ging dann ins Büro. Mulder atmete erleichtert auf und nahm eine Dusche, bevor Scully aufwachte.

 

Das Scheppern des Telefons riss Mulder aus den Gedanken. Nach dem zweiten Klingeln hob er ab. Es war Scully.

"Mulder, ich bin's." Ihre Stimme klang unsicher.

"Scully, alles in Ordnung?" <und schon wieder diese Phrase, dachte er>

"Es geht mir gut. Meine Sitzung im Krisencenter hat ein wenig länger gedauert und als ich Heim gekommen bin, klingelte das Telefon. Meine Mutter war dran, um nach mir zu sehen. Dann hat Melissa angerufen... jedenfalls wollte ich dich wissen lassen, dass ich jetzt weg bin. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst."

"Ich habe mir keine Sorgen gemacht", antwortete Mulder automatisch.

<Lügner>, schimpfte er mit sich.

"Klar, Mulder. Meine Mutter auch nicht." Er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören.

"Bis später." Sie legten auf.

Mulder musste lächeln, als er an Maggie Scully dachte. Sie hatte sich seiner angenommen und ihn behandelt als wäre er Mitglied der Familie. Er würde nie die Worte finden, die ihr sagten, wie viel ihm das bedeutete.  Wieder schwelgte Mulder in Erinnerungen.

 

Ein Tag nach dem Vorfall waren Mrs. Scully und Melissa gekommen. Sie waren im Urlaub gewesen, als Mulder Mrs. Scully angerufen hatte. Sie hatte den ganzen Tag versucht, einen Flug von ihrer Insel zurück nach Hause zu bekommen. Melissa schien überrascht zu sein, Mulder so im Wohnzimmer ihrer Schwester eingerichtet zu sehen, doch Maggie Scully war es nicht. Sie hatte mit Fox am Abend des Vorfalls gesprochen und dann noch einmal danach. Mit Dana hatte sie nur einmal kurz geredet. Die anderen Male, an denen sie angerufen hatte, hatte Dana geschlafen und sie wollte sie nicht wecken.

"Hallo, Fox." Maggie lächelte, umarmte ihn und dankte ihm im Stillen für alles, was er getan hatte.

Mulder umarmte sie ebenfalls, vielleicht etwas stärker als er sollte, doch sich auf einmal der Frau gegenüber zu sehen, die ihm mehr eine Mutter gewesen war als seine eigene je gewesen war, war fast zu viel für ihn. In den letzten Tagen hatten seine Emotionen Achterbahn gespielt. Er räusperte sich und begrüßte Melissa. "Hi Missy. Lange nicht gesehen." Melissa Scully lächelte und umarmte ihn ebenfalls. Fox Mulder in Jeans und T-Shirt zu sehen, emotional verletzlich und mit tränenfeuchten Augen ließ Melissas Herz einen Schlag aussetzen. Sie hoffte, dass ihre Schwester bald aufwachen und erkennen würde, dass Mulder der perfekte Mann für sie ist. Aber im Moment war sie froh, dass Mulder Danas bester Freund war. Melissa wusste, was sie einander bedeuteten und Dana brauchte ihn jetzt mehr denn je.

"Wo ist sie?" fragte Maggie und hängte ihre Mäntel am Hacken auf.

"Sie schläft", antwortete Mulder, nahm ihre Taschen und stellte sie im Gästezimmer ab.

"Ist es normal, dass sie so viel schläft?" fragte Melissa mit einem Stirnrunzeln.

"Laut der Beratung im Vergewaltigungscenter, ja", sagte Mulder.

"Sie ist da hin gegangen?" wollte Melissa verwundert wissen. Sie hätte nie gedacht, dass ihre ich-habe-mich-immer-unter-Kontrolle-recht-herzlichen-Dank-Schwester einer solchen Beratung zustimmen würde.

"Ähm... eigentlich... nein, ist sie nicht, aber... ähm... ich habe dort angerufen." Er grinste verlegen. "Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich wollte wissen, worauf ich achten sollte... was normal ist und was nicht.  Also habe ich angerufen." Er vermied es, ihnen in die Augen zu sehen. Die beiden Frauen sahen sich erstaunt an.

"Fox..." begann Maggie. Sie räusperte sich und schluckte ihre Tränen herunter und sagte sanft, "Sie sind der beste Freund, den ich meiner Dana je wünschen könnte. Ich hoffe, Sie wissen, dass Sie dieser Familie sehr viel bedeuten."

Zum zweiten Mal war Mulder innerhalb der letzten halben Stunde den Tränen nahe. "Wie wäre es mit einem Tee?" sagte er heiterer als er war.  "Dann können wir Dana wecken. Sie freut sich sehr darauf, Sie beide zu sehen." Sie gingen in die Küche.

Als sie den Tee getrunken und das Gebäck gegessen hatten, das Maggie mitgebracht hatte, wachte Dana auf und ging in die Küche.

Mulder sah sie zuerst. Er sah, wie sie den Anblick von ihm, ihrer Mutter und ihrer Schwester am Küchentisch in sich aufnahm. Sie lächelte.  Maggie folgte Fox' Blick und sah ihre Tochter zum ersten Mal seit dem Angriff. Mulder sah Scully an und versuchte sie zu sehen, wie ihre Mutter es tat. Die Verletzungen in ihrem Gesicht sahen bereits besser aus, doch ihre Lippe war immer noch geschwollen und kein Make-up konnte den hässlichen Bluterguss an ihrem Kinn und Wange verbergen. Sie hatte dunkle Ränder unter ihren Augen, doch das, was in Mulders Augen am meisten hervorstach, war der Blick in ihren Augen - Traurigkeit und Verletzlichkeit. Er blickte zu Melissa und wusste, dass sie es auch sah. Maggie stand auf und ging zu ihrer Tochter. Mulder konnte sehen, wie sich die Tränen in Scullys Augen formten.

"Oh, Dana!" flüsterte Maggie und ihre Stimme brach, genau wie ihr Herz. Als sie ihre jüngste Tochter in die Arme nahm, stand Melissa auf und umarmte sie beide, weinend. Mulder verschwand still und leise aus dem Zimmer und packte seine Tasche. Scully war in guten Händen. Sie musste etwas Zeit mit ihrer Familie verbringen und er musste einiges an Arbeit erledigen - Harrison war immer noch nicht gefunden worden.

 

Schon wieder wurde Mulder in seiner Arbeit unterbrochen. Dieses Mal, weil die Türe zu seinem Büro aufging. Scully steckte ihren Kopf herein und fragte trocken, "Ist es sicher hereinzukommen, Mulder? Ich meine, ich war ein paar Wochen nicht hier, um hinter die herzuräumen..." Sie lächelte.

"Lasse es drauf ankommen, Agent Scully", grinste er sie an. Es war schön, sie wieder lächeln zu sehen. Sie betrat den Raum und einen betretene Stille tat sich auf. Sie hatten jeden Tag miteinander telefoniert, aber heute war der erste Tag in über einer Woche, an dem sie sich sahen. Mulder beendete die Stille.

"Willkommen zurück, Scully. Ich habe dich vermisst."

"Danke, Mulder. Ich... ich habe dich auch vermisst." Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie schien schüchtern, geradezu verlegen. <Nie im Leben wird das hier ein Hindernis zwischen uns sein>, dachte Mulder. <Nicht nach allem, was wir zusammen durchgestanden haben.>

"Hey", sagte er leise. "Sieh mich an, Dana. Wir haben zu viel zusammen durchgestanden, um jetzt schüchtern zu sein. Ich weiß, wie sehr du es hasst, die Kontrolle über deine Gefühle zu verlieren, aber in den letzten paar Wochen hast du mich gebraucht - genau wie ich es gebraucht habe, für dich da zu sein. Du bist bis jetzt so oft für mich dagewesen, und das ist meine Chance, dir dafür zu danken. Okay?"

Scully sah in seine sanften braunen Augen. "Okay", flüsterte sie und schenkte ihm ein Lächeln. Ein breites, wunderschönes Lächeln.

Zwei Stunden später kam Scully sich vor, als sei sie nie weg gewesen, als sie sich durch die unvollständigen Berichte und anderen wichtigen Papierkram kämpfte. Sie konnte oft Mulders Blick auf sich fühlen und einige Male wurde sie nervös, als sich die schrecklichen Erinnerungen an jenen Abend in ihre Gedanken schlichen. Mit aller Macht versuchte sie, diese Ängste von sich fort zu stoßen.

"Alles in Ordnung, Scully?" fragte Mulder. Sie war stolz auf ihn - er hatte sie das seit zehn Uhr morgens nur sechs Mal gefragt - und jetzt war es halb drei.

"Es geht mir gut, Mulder", antwortete sie genau wie all die anderen Male davor auch.

"Ich möchte nur sicher gehen", grinste er sie an. Es wurde schon fast ein Joke zwischen ihnen. Scully lächelte und schüttelte den Kopf. Alles in allem verging der Tag gut für beide.

Das Telefon klingelte.

"Sir, Sie wollten mich allein sprechen?" fragte Mulder AD Skinner. Skinner hatte ihn gebeten, allein und vertraulich in sein Büro zu kommen. Das war für ihn schon schwierig genug gewesen zu managen, weil Scully ihn mit erhobenen Augenbrauen fragend angesehen hatte, als er Anstalten gemacht hatte, das Büro zu verlassen. Mulder murmelte etwas davon, er würde in die Aktenhalle gehen, um irgendwelche Informationen zu holen, auf die er wegen einem der vorherigen Fälle gewartet hatte. Scully hatte genickt und ihn gebeten, auf seinem Weg im Labor einige Ergebnisse holen, die sie brauchte.

"Agent Mulder, sie haben ihn gefunden."

Mulder fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Rippen bekommen. Er hatte diesen Moment seit dem Angriff auf Scully erwartet und gefürchtet.

"Wo?" fragte er. Er atmete tief durch und strich sich mit einer Hand durch die Haare.

"Er hat versucht, außer Landes zu kommen und er wurde am Flughafen festgenommen."

"Hat er es zugegeben?"

"Er hat zugegeben, ohne vorherige Anmeldung in Agent Scullys Wohnung gekommen zu sein, aber er behauptet, sie sei damit einverstanden gewesen."

"Quatsch! Wenn das so wäre, warum musste er sie dann halb tot schlagen? Oder vielleicht hat sie sich ja in der Hitze der Leidenschaft so verletzt!" fuhr er sarkastisch und wütend hoch.

"Fox... ich weiß das, Sie wissen das, und jeder andere Agent, der an dem Abend da gewesen war weiß, dass es kein Geschlechtsverkehr mit beiderseitigem Einverständnis gewesen war. Aber unser Job ist, das zu beweisen. Er gilt solange als unschuldig, bis wir Beweise gegen seine Behauptungen haben... oder bis er gesteht. Er ist jetzt unten im Befragungsraum. Sie können mit uns kommen, wenn Sie möchten, Agent Mulder, aber ich warne Sie: lassen Sie Ihre persönlichen Emotionen nicht den Sinn für das, was gerecht und fair ist überschatten - Harrison wird bezahlen für das, was er Agent Scully angetan hat - aber das Gericht wird über seine Strafe entscheiden, nicht Sie. Ist das klar?"

Mulder nickte langsam und folgte Skinner in den Befragungsraum. Harrison saß in dem kleinen Zimmer am Tisch. Er schwitzte stark.

Einige Agenten standen bereits ebenfalls im Raum und befragten ihn zu dem Abend in Scullys Wohnung. Als Harrison Mulder erblickte, wich alle Farbe aus seinem Gesicht und er stotterte, "Sie hat mich darum gebeten - ich - ich habe nichts getan, was sie nicht wollte. Sehen Sie, meine Frau - ich - ich wurde gerade geschieden..." Er hielt inne und nahm einen Schluck Wasser.

Mulder trat näher an den Tisch. Die anderen Agenten ließen ihn sich direkt vor Harrison hinstellen, es stand nun lediglich der Tisch zwischen ihnen.

"Warum hast du es getan, Harrison? Um dich an mir zu rächen? Um mir weh zu tun? Du warst immer ein kleiner Mann, Harrison, du hast es immer versucht, aber du bist nie wirklich an die Spitze gekommen, was, Harrison?"

Harrisons Gesicht wurde alarmierend rot. "Halt die Klappe, Mulder. Halt die Klappe!!"

"Warum? Damit du all diese Leute und vielleicht und auch dich selbst davon überzeugen kannst, dass das, was du Scully angetan hast, gerechtfertigt war?  Warum, Harrison? Hast du sie aus gebeten und sie hat dir einen Korb gegeben? Du weißt, sie würde sich nie mit jemandem wie dir einlassen, Paul - sie ist viel zu wählerisch, was die Wahl ihrer Männer angeht."

"Halt die Klappe, Mulder! Sie wollte es! Sie wusste nur nicht, wie sie sich gehen lassen sollte. Ich habe ihr nur ein wenig dabei geholfen." Er wurde von Sekunde zu Sekunde wütender.

Toll, es klappte.

"Also, du hast ihr geholfen, sich zu entspannen, was, Paul? Wie? Hat es dich erregt, sie zu schlagen? Hat dich der Anblick des ganzen Blutes steif gemacht? Was wirklich passiert ist, Paul, hat sie irgendetwas in deinem Fall bemerkt, was du übersehen hast und was dich vor allen anderen blöd ausgesehen lassen hat, Paul?"

"Halt's Maul!! Du bist nur eifersüchtig! Was, Mulder? Bist du sauer, weil du ihr nicht die Hosen ausziehen konntest wie der alte Paulie hier?"

Skinner beeilte sich, Mulder an der Schulter festzuhalten und einer der anderen Agenten hielt seine Hand zwischen ihn und Harrison, als Mulder sich über den Tisch lehnte.

"Du verdammter Schweinehund - gib's zu, Harrison. Du hast Scully geschlagen und vergewaltigt aus irgendeinem kranken Sinn für Gerechtigkeit heraus von dir - sie ist klüger als du, sie hat Beweise gefunden, die du übersehen hast, sie hat dich vor deinen Kollegen wie einen Idioten da stehen lassen und du hast gedacht, du zeigst ihr, wer der Boss ist!"

Das wars. Harrison war außer sich.

"Genau so war's, Mulder. Sie hat mich verarscht, genau wie du in all den Jahren. Als ich wegen dir aus dem Außendienst gezogen wurde, habe ich mir geschworen, dass niemand eine solche Kontrolle über mich haben würde.  Und dann kommt diese Schlampe Scully und assistiert bei einer Autopsie. Sie hat mich reingelegt und hat alle glauben lassen, ich hätte etwas vergessen.  Sie hielt sich für so schlau, diese Schlampe! Aber ich habe ihr gezeigt, wo's lang geht. Die Schlampe hat ganz schön gekämpft, aber ich war stärker, schlauer. Hach, es tat so gut, sie schreien zu hören, sie flehen zu hören!  Da war sie auf einmal nicht mehr so schlau, was, Mulder??" Harrison benahm sich jetzt wie ein vollkommen Verrückter. Der Speichel lief ihm aus dem Mund und er spuckte. Sein Gesicht war puterrot und sein Atem ging rasend.  Sein von Hass erfüllter Blick richtete sich gegen jeden Agenten im Raum.  Mulder wurde übel. Der Gedanke daran, dass dieser Mann Scully angefasst hatte...

"Harrison, wir brauchen eine Blut- und eine Gewebeprobe und eine Samenprobe." Skinners Stimme durchschnitt den Raum wie ein Schuss. Harrison sah Mulder unverwandt an. Er wusste, dass er verloren hatte und sagte hämisch, "Hey, Mulder... hast du ein Bild von Scully? Ich werde vielleicht Hilfe brauchen..."

Dieses Mal beeilte sich niemand, Mulder zurück zu halten, als er über den Tisch auf Harrison losging.

 

Über eine Stunde später kehrte Mulder in sein Büro zurück. Er war in der Cafeteria gewesen, um Eis für seine schmerzende Hand zu beschaffen.  Verdammt, dachte er, sie ist bestimmt gebrochen. Er hatte zweimal voll zuschlagen können, bevor Skinner und ein anderer Agent ihn festgehalten hatten. Harrison war wütend gewesen und hatte geschrien, widerrechtlich behandelt zu werden. Skinner hatte ihn mit einem ruhigen, "Was ist hier widerrechtlich,  Mr. Harrison? Niemand hat hier etwas Derartiges gesehen" in seine Schranken verwiesen. Er hatte die beiden anderen Agenten angesehen, die noch im Raum standen. Beide hatten den Kopf geschüttelt.  Geschlagen, war Harrison widerstandslos gegangen, um seinen Verletzungen verarzten zu lassen.

Als er sich um seine eigene Verletzung kümmerte, versuchte Mulder einen Weg zu finden, wie er Scully beibringen würde, dass Harrison verhaftet war. Er hatte nicht vor, sie herausfinden zu lassen, was Harrison während der Befragung gesagt hatte oder was sonst noch passiert war. Er musste sich irgendeine gute Erklärung für seine geschwollene Hand ausdenken. Aber sie würde die Gegenüberstellung machen müssen und Harrison als den Mann identifizieren, der sie vergewaltigt hatte. Mit einem Seufzen betrat Mulder sein Büro.

Scully saß immer noch da, wo er sie verlassen hatte und brütete über einigen Berichten, die er angefangen hatte, als sie weg gewesen war. Sie sah auf, als er sich auf den Rand ihres Schreibtisches setzte.

"Was ist los, Mulder? Bist du im Labor gewesen?"

"Nein, Scully, war ich nicht. Ähm, hör zu... sie haben ihn gefunden."

"Wen?" fragte Scully perplex. Dann fiel es ihr ein. Sie erblasste.

"Harrison?" flüsterte sie.

Mulder nickte. "Er hat gestanden, Scully - wir mussten ihn ein bisschen... äh... zwingen, könnte man so sagten, aber er gibt zu, dich geschlagen und vergewaltigt zu haben, Scully. Es wird keine Gerichtsverhandlung geben."

Scully schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an die Stuhllehne.

"Scully, du musst zu der Gegenüberstellung. Es ist nur eine Formalität, aber wir wollen nicht irgendeinen dummen Fehler übersehen und dem Kerl die Möglichkeit geben, frei zu kommen. Also musst du ihn offiziell identifizieren."

Scully atmete tief durch und stand auf. "Dann sollten wir jetzt gehen." Sie hob ihre Hand- und ihre Aktentasche auf und machte sich auf den Weg. Mulder folgte ihr. Doch sobald sie aus der Türe war, stockte sie und suchte Mulders Unterstützung. Er konnte die Angst in ihren Augen sehen, aber sie war vermischt mit etwas Neuem. Etwas, das er lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte - Entschlossenheit. Er nickt fast unmerklich und sie lächelte schwach. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest, als sie zusammen den Korridor hinunter gingen.

 

 

"Gefühle offenbart 3 - Absolution"

von G.L. Medeiros

 

Harrison,

ich dachte, dass wenn Sie verurteilt worden sind und im Gefängnis sitzen, ich etwas Ruhe finden würde, ein Gefühl der Abgeschlossenheit. Doch das habe ich nicht. Ich denke immer noch jeden Tag daran, was Sie mir angetan haben. Ich bin viel ängstlicher geworden, ich bin nicht mehr die Frau, die ich einmal war. Ich habe mit meiner Mutter darüber geredet - ist es nicht seltsam, dass egal wie alt man ist, man sich immer wieder seiner Mutter zuwendet, wenn man von etwas geplagt wird? Naja, vielleicht tun Sie das nicht. Jedenfalls hat meine Mutter einen starken Glauben und tiefes Vertrauen in Gott und Güte und Liebe. Sie sagte zu mir, "Dana, bis jetzt hast du immer so gehandelt, wie es dein Verstand dir gesagt hat - du hast in angeklagt, ihn strafrechtlich verfolgt und ihn für eine lange Zeit hinter Gitter gebracht." Mein erster Gedanke war, "Wie - wie kann ich einem Mann vergeben, der an einem Abend mein Leben zerstört hat?" Sie versuchte zu ignorieren, was ich gesagt hatte - ich versuchte, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber es reichte nicht aus. Im Laufe der folgenden Tage habe ich immer noch dasselbe empfunden. Vielleicht hatte meine Mutter ja Recht gehabt. Deswegen schreibe ich Ihnen diesen Brief. Ich versuche, Ihnen zu vergeben. Ich kann nicht versprechen, dass ich es tun werde, aber ich versuche es um meinet Willen. Ich möchte, dass Sie eines wissen: Ich tue das hier für mich, nicht für Sie.

Bevor ich vergeben kann, und hoffentlich eines Tages vergessen, muss ich wissen, warum Sie mich angegriffen haben. Nicht nur physisch, sondern auch emotional und nicht nur mich, sondern auch all die Leute, denen ich etwas bedeute. Wir alle sind betroffen. Ich frage mich, ob ich mich zu Hause je wieder sicher fühlen werde. Muss ich den Rest meines Lebens immerzu über meine Schulter blicken? Werde ich je wieder das Gute in den Menschen sehen können? Ich hätte nie gedacht, dass Sie mich verletzen werden, als ich Ihnen an dem Abend die Tür öffnete. Wir arbeiten für dieselbe Regierung, kennen dieselben Leute und führen dieselben Schlachten. Wir dienen und wir beschützen - aber Sie hatten nie vor, mich zu beschützen. Mein Vertrauen in die Arbeit, die wir tun, in die Welt, in der wir leben, ist zunichte. Wie können wir unser Versprechen halten, zu dienen und zu beschützen, wenn wir nicht einmal die beschützen können, die mit uns für das Gerechte kämpfen?

Ich mache mir auch Sorgen um die Leute, die ebenfalls von diesem Alptraum betroffen sind. Mein achtzig Jahre alter Nachbar, der meine Schreie gehört und das FBI gerufen hatte, meine Mutter und meine Schwester, die Mulder mitten in der Nacht angerufen hatte. Meine Mutter hatte einen solchen Anruf schon immer gefürchtet. Werden sie je wieder vertrauen können? Werden sie immerzu schlaflose Nächte damit verbringen, sich um mich und sich selbst zu sorgen? Immerhin, wenn es mir passieren konnte....

Aber am meisten sorge ich mich um Mulder, der mir sehr geholfen und mir Kraft gegeben hatte. Gibt er sich, wie immer, selbst die Schuld? Dafür, dass er nicht da gewesen war? Dafür, dass ich wegen ihm zu einer X-Akte geworden bin und dafür, dass er mich indirekt mit seinen eigenen Dämonen und Problemen belastet hatte? Ich weiß nicht, wie es sich auf lang Zeit für ihn auswirken wird, aber ich mache mir Sorgen. Bis jetzt hatte ich mir gewünscht zu wissen, warum Sie es getan haben - haben Sie es gemacht, um sich an Mulder zu rächen für das, was von Jahren passiert war? War es nur Ihre verquere Persönlichkeit, der Drang, einmal Machoman zu sein?  Vielleicht war es eine Herausforderung, die "Ice Queen" zu besiegen. Aber jetzt will ich es nicht mehr wissen. Es ist mir egal.

Ich weiß allerdings, dass Sie mir etwas genommen haben, dass ich nicht geben wollte. Und andererseits haben Sie mir etwas gegeben, von dem ich nicht gewusst hatte, dass ich es wollte - dass Mulder zu mehr als nur mein Partner wurde – wie viel mehr, das weiß ich noch nicht. Aber wegen Ihnen war er derjenige, der meine Hand gehalten hat, als ich durch den langen Korridor ging, um Sie zu identifizieren als den Mann, der mich vergewaltigt hat. Und er war derjenige, der meine Haare aus meinem Gesicht gehalten hatte, als ich zusammengebrochen und krank war, nachdem Sie verurteilt waren. Er ist derjenige, dem ich mich mitten in der Nach zuwenden kann, er hört meinem Weinen um drei Uhr morgens zu, wenn die Angst mich überwältigt.  Er ist ein Teil von mir geworden.

Also, vielleicht hat meine Mutter wirklich Recht gehabt. Vielleicht kann ich Ihnen, irgendwann einmal, vergeben. Ich weiß es nicht - aber ich musste Ihnen all das sagen, damit ich mein Leben weiterleben kann. Mein Leben mit Mulder, wenn er ein Teil davon sein möchte. Meine Mutter betet jeden Abend für Sie - dass Sie eines Tages das Ausmaß ihrer Tat erkennen werden und sie bereuen werden. Ich kann nicht so wohlwollend sein. Ich hoffe, dass mein Leben sich wieder einrenkt, und dass sich unsere Wege nie wieder kreuzen - in keinster Weise. Ich hoffe, dass Sie im Gefängnis bekommen werden, was Sie verdienen - was immer das auch ist.

Dana Scully

 

Dana Scully wischte sich die Tränen von ihren Wangen. Sie las den Brief noch einige Male, atmete tief durch und zerriss ihn dann in hundert kleine Stücke. Als sie sie langsam auf den Boden des Papierkorbs fallen ließ, fühlte sie bei jedem Stück, das zu Boden segelte, ihr Herz ein wenig leichter werden. Als der letzte Fetzen sich nicht mehr regte, nahm sie das Telefon und wählte.

"Hi, Mulder. Bist du beschäftigt? Nein? Hättest du etwas gegen ein wenig Gesellschaft? Wir müssen reden... Nein, es geht mir gut... wirklich, wahrhaftig gut." Sie lächelte jetzt unter ihren Tränen, das erste Mal seit einer langen Zeit.

Sie würde darüber hinwegkommen.