RICHTUNG NIRGENDWO 3 - IM BLAUEN HOTEL

(Originaltitel: At The Blue Hotel)

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

 

Datum: 14. März 1996

 

aus dem Englischen übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de >

*** überarbeitet 2017 ***

 

Wort der Autorin: Leute, versammelt Euch wieder um das Lagerfeuer, ein weiteres Kapitel der On The Road- Sage beginnt! Diese Geschichte ist eine Fortsetzung von RICHTUNG NIRGENDWO und DURCHREISE (...), die man der Verständlichkeit halber zuerst lesen sollte. Bevor wir anfangen möchte ich gerne noch einiges loswerden. Vielen tausend Dank an die wundervolle Kat für ihre unendliche Geduld und Extra-Arbeit mit meinen ständigen "Was wäre, wenn..." und "Denkst Du, dass..." Fragen. Außerdem ein Dankeschön an Sensei Survivor für die Ermunterungen und die guten Ratschläge, und an meine Brieffreundin, die mich zu diesem Teil der Story inspiriert hat. (...) Und wie immer *vielen, vielen Dank* an alle, die sich die Zeit genommen haben, mir zu schreiben—es ist einfach unbeschreiblich, Feedback zu bekommen!!  Um den Autor (mich) ruhig schlafen zu lassen oder in Rage zu bringen, können alle möglichen Kommentare an nvrgrim@aol.com  geschickt werden.  Genug gesagt...

Spoiler Warnung: Diese Geschichte hat eine eigene Richtung eingeschlagen, und zwar was-zum-Teufel-ist-mit-Scully-passiert-als-sie-drei-Monate-verschwunden-war.  Dazu beziehe ich mich auf Informationen aus der Duane Barry- Trilogie, Anasazi und den sechs weiteren Verschwörungsfolgen aus der 2. Staffel.

Zusätzlicher Kommentar: Ich glaube nicht, dass diese Geschichte eine Altersbeschränkung braucht, aber ich möchte sagen, dass sie ziemlich dunkel ist und einige gewalttätige Szenen hat. Aber eigentlich nicht viel mehr als man in jedem Kino an der Ecke finden kann...

Dementi: Wie immer Danke an Chris Carter, 1013 und Fox, die die Rollbahn für das Flugzeug meiner Kreativität gestellt haben. Ich denke, jeder von Euch kennt inzwischen Mr. Carters Gefolge—alle anderen Charaktere gehören zu mir. Ein spezielles Dankeschön an David und Gillian für ihre inspirierende Darstellungen. Und, noch ein Danke an Chris Isaak (unter anderem) für seine stimmungsvolle Musik und vor allem für den Titel...

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (1/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

 

Scully saß auf der Couch und versuchte sich zu erinnern, welche Farbe der Stoff hatte, den sie zwischen ihren Fingern hin und her drehte. Sie hörte Mulder in der Küche rumoren. Würziger Knoblauch-Duft drang aus der Küche zu ihr und sie nahm an, dass er Pasta zubereitete. Mulder hatte den Fernseher eingeschaltet, damit sie Gesellschaft hatte, während er kochte, aber sie hatte ihn leiser gestellt, weil sie ihm lieber in der Küche zuhörte, als sich irgendein Sitcom-Gequatsche anzutun.

 

"Ist es schon fertig, Mulder?" rief sie. Ihr Kopf begann zu jucken und es kam ihr vor, als ob die Farbe schon ihr Gehirn anfärbte.

"Noch ein paar Minuten", antwortete er. "Hab' noch etwas Geduld."

"Du hast gut reden", murmelte sie, aber im Grunde machte es ihr gar nichts aus.  Die Couch war zwar alt, aber bequem und außerdem war es in dem kleinen Zimmer mit dem Kamin viel wärmer als in der Küche.

Sie waren schon die dritte Nach in dem kleinen Apartment des Französischen Quartiers in New Orleans. Scully wusste, dass Mulder immer nervöser wurde, weil sie schon so lange an einem Ort waren, aber sie war darüber sogar erleichtert. Obwohl sie es vor ihm nie zugeben würde, empfand sie das ständige Unterwegssein als sehr erschöpfend. Es fiel ihr schwer, sich an jeden neuen Ort zu gewöhnen—allein schon den Weg vom Bett zum Badezimmer jeden Tag aufs Neue herausfinden zu müssen, war eine große Herausforderung.

Wenigstens hatte sie sich bereits an das kleine Apartment gewöhnt, in dem sie im Moment wohnten. Es bestand nur aus vier Zimmern: Schlafzimmer, Badezimmer, Küche und das Wohnzimmer, in dem sie sich gerade befand. Es gab nicht viele Möbel und es roch ein wenig staubig, aber Dank Mulder war es jetzt relativ sauber.

"Okay, das sollte reichen." Mulders Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie stand von der Couch auf und orientierte sich kurz, bevor sie langsam in die Küche ging.

Er kam ihr auf halbem Wege entgegen und sie ließ sich von ihm zu der Spüle führen. "Hmm, das riecht aber gut, Mulder", sagte sie. "Ich habe gar nicht gewusst, dass du so ein guter Koch bist."

"So bin ich eben", grinste er. "Ich habe immer irgendein Ass im Ärmel."

Scully stützte sich mit den Händen auf den Rand und beugte sich über die Spüle. Mulder stellte sich hinter sie und sie hörte, wie er das Wasser anließ. Ein paar Tropfen spritzten ihr ins Gesicht, als er eine Hand unter den Wasserstrahl hielt, um die Temperatur zu prüfen. Sie schien gerade richtig zu sein und er drückte ihren Kopf sanft unter den Wasserhahn.

"Auu!" rief Scully, als der Wasserstrahl sie traf und er zog sie schnell wieder zurück.

"Zu heiß?" fragte er besorgt.

"Ein wenig", sagte sie und hörte das Quietschen des Hahns, als er das kalte Wasser andrehte.

Beim zweiten Versuch fühlte Scully angenehm warmes Wasser über ihren Kopf laufen. "Besser?" fragte er und sie nickte leicht.

"Mmmm... viel besser." Er wusch die Farbe aus ihren Haaren. Seine Finger waren vorsichtig, aber zugleich fest und effizient und überraschend sanft.  Die ausgewaschene Farbe lief an ihrem Gesicht herunter und sie schloss die Augen, um nichts abzubekommen.

Scully hörte, wie Mulder irgendetwas vom Tisch nahm. Er drückte es und dann fühlte sie, wie etwas Kaltes auf ihre Haare fiel. "Conditionier", sagte er auf ihren überraschten Seitenblick hin. Er lehnte sich näher an sie heran und der Conditionier begann zu schäumen. Seine kreisenden Bewegungen wirkten unglaublich beruhigend auf sie und Scully entspannte sich unter seinen Händen.

Sie hatte sich nie für jemanden gehalten, der besonders körperlich mit Mitmenschen umging. Anders als ihre Schwester Melissa hatte sie Andere nie nahe an sich heran gelassen. Umarmungen waren sogar auch innerhalb der Familie selten. Doch jetzt hatte sich das, wie vieles andere auch, geändert. Die Dunkelheit, in der sie nun leben musste, war so überwältigend, dass Körperkontakt für sie ein Bedürfnis geworden war. Sie erkannte, wie viel Mulders Berührungen ihr bedeuteten, seine Hand in ihrer war wie ein Anker, der sie am Rande der geistigen Gesundheit vertäute.

Sie hörte, wie er leise vor sich hin summte, als er mit seiner Arbeit fortfuhr, und musste lächeln. "Ich glaube, dir gefällt das hier viel zu sehr", schimpfte sie mit ihm. "*Ich* muss das hier immerhin durchstehen, nicht du."

"Tja, *ich* wurde mit unscheinbaren braunen Haaren geboren, anstatt mit feuerroten."

"Clown-Haare." Das Wort entglitt ihr, eine schmerzvolle Erinnerung an die verletzenden Sprüche der anderen Kinder auf dem Spielplatz in ihrer Kindheit.

"Wunderschöne Haare", widersprach Mulder mit einer Stimme, die der ihres Vaters sehr nahe kam, und sie verpasste durch den Schreck fast seine nächsten sanften Worte. "Ich vermisse sie."

"Wirklich?" sie drehte ihren Kopf, als ob sie sein Gesicht sehen könnte, wenn sie schnell genug war.

"Ja", gab er zu. "Wirklich. Aber jetzt—halt still", sagte er und sie fühlte wieder das Wasser, als er sie wieder unter den Hahn drückte. "Wir haben es gleich geschafft."

Sie waren beide still, als Mulder den Wasserhahn abstellte und ihre Haaren auswrang, bevor er ihr ein Handtuch reichte. Scully rubbelte etwas ungeschickt ihre Haare trocken. Er wollte ihr helfen, doch sie entzog sich seinen Händen. "Ist schon okay", sagte sie. "Aber könntest du mir bitte eine Bürste bringen und einen Pullover?"

"Klar", erwiderte er und sie hörte seine Schritte in Richtung des Schlafzimmers. Obwohl sie wusste, dass er gleich zurückkommen würde, spürte sie eine seltsame Kälte in seiner Abwesenheit. Dummes Kind, dachte sie und schüttelte die plötzliche Angst von sich. Als Mulder mit dem Handtuch zurückkam, bahnte sie sich ihren Weg von der Küche zurück ins Wohnzimmer, das Handtuch um ihren Hals.

 

 

 

 

Mulder fand die Bürste auf dem Nachttisch neben dem Bett. Er öffnete die mittlere Schublade, in der er die wenigen Sachen gelegt hatte, die sie noch ihr Eigen nennen konnte. Er war kurz einkaufen gewesen, nachdem sie an dem Französischen Quartier angekommen waren, um ein paar Sachen zu ersetzten, die bei dem Unfall verloren gegangen waren. Er fand die beiden Pullover und rief, "Willst du den grauen oder den grünen?"

In der Sekunde, in der die Worte aus seinem Mund waren, verfluchte er sich für seine Unüberlegtheit. Doch bevor er noch irgendetwas sagen konnte, um sich zu berichtigen, antwortete sie ihm. "Den Pullover", rief sie ohne eine Spur von Bitterkeit in der Stimme. "Nicht den mit den Knöpfen."

Mulder dankte ihr im Stillen für ihre endlose Geduld, warf die graue Strickjacke zurück in die Schublade und knallte sie zu. Er brachte ihr den grünen Sweater und die Bürste ins Wohnzimmer. Unterwegs sah er kurz in der Küche nach der Soße auf dem Herd, drehte die Temperatur der Platte kleiner und rührte einmal um. In dem anderen Topf hatte das Wasser bereits zu kochen angefangen und er schüttete die Packung Nudeln rein.

Scully saß mit gekreuzten Beinen für seinen Geschmack viel zu nahe vor dem Kaminfeuer. Das Handtuch lag achtlos hingeworfen auf ihrem Schoß und ihre Haare waren immer noch nass. Er hatte sich noch nicht ganz an ihre Farbe gewöhnt.

"Hier", sagte er und reichte ihr den Pullover.

"Danke", sagte sie und schenkte der Luft über seiner linken Schulter ein warmes Lächeln. Mulder sah zu, wie sie den Pullover über ihr T-Shirt zog.  Er war viel zu groß für sie, aber er war schon eingetragen und bequem und er konnte verstehen, warum sie ihn so mochte.

"Jetzt spann mich nicht auf die Folter." Diesmal war ihr Lächeln treffender und er sah, dass die Wunde auf ihrer Wange langsam zu heilen begann. "Wie sieht es aus?"

Er griff nach ihrer Hand, froh, eine Entschuldigung dafür zu haben, als er sie von dem Feuer wegführte. "Gut, denke ich—lass mich mal sehen." Er setzte sich auf die Couch und sie rückte nah an ihn heran, so dass seine Beine rechts und links neben ihr waren. Vorsichtig begann er, sie zu kämmen. Bei seiner Berührung setzte sie sich aufrecht hin und legte ihre Ellenbogen auf seine Knie.

"Ja—ich glaube, alles ist schwarz", sagte er. "Kein rot mehr." Nach dieser Feststellung konnte Mulder eigentlich wieder aufhören, doch irgendetwas in ihm ließ nicht davon ab, weiter mit der Bürste durch ihr Haar zu streichen. Sie seufzte, was sich sehr nach einem kleinen Lachen anhörte.  "Ich weiß nicht, Mulder. Du könntest Friseur werden, wenn es sein müsste."

Er lachte und bürstete weiter, dankbar für ihre gute Laune. Sie war entspannter denn je, seit sie D.C. verlassen hatten, schien es ihm und er schwor, alles zu tun, damit sie so ruhig bleiben würde und sich sicher fühlte.

Mulder selbst war es unwohl bei dem Gedanken, dass sie in Louisiana festsaßen, und sei es nur für eine Weile. New Orleans schien laut den Einsamen Schützen ein viel besserer Ort zu sein, um sich zu verstecken, aber der schwere Unfall hatte seine Pläne durcheinander geworfen. Auf der anderen Seite jedoch, war es genau dieser Unfall, der es ihnen jetzt ermöglichte, eine Pause einzulegen, um zu sehen, ob die ’Männer Im Schatten’ von ihrem Tod überzeugt waren.

Sie hatten Glück, als eine Familie, die gerade von ihrem Ausflug gekommen war, sie mitgenommen hatte, als sie aus dem Wald heraus auf eine Straße gefunden hatten. Mulder hatte Scully auf den Rücksitz des Jeep Cherokee geholfen und sich eine Geschichte ausgedacht, um zu erklären, warum sie so zerzaust aussahen. Er musste lachen, als er sich daran erinnerte, wie die Frau darauf bestand, ihn mit dem Erste-Hilfe-Kästchen zu verarzten. Sie waren ein Risiko eingegangen, per Anhalter zu fahren, um in die nächste Stadt zu kommen. Doch dort konnte er mit einer gewissen Zuversicht, dass ihnen niemand gefolgt war, ein paar Busfahrscheine nach New Orleans besorgen.

Sie waren bei Anbruch der Dunkelheit völlig erschöpft angekommen. Bis zum Quartier hatten sie ein Taxi genommen, und Mulder hatte, ohne wählerisch zu sein, das Französische ausgesucht. Auf dem vergilbten Schild an der Tür des "L'Hotel Azur, Pensionne de Famille" war vermerkt, dass noch ein Zimmer frei war und Mulder hatte es ohne Umschweife genommen. Es war ein kleine, heruntergekommene Pension mit vier Apartments, zwei oben und zwei unten.  Mulder hatte ohne Zwischenfragen die Miete für eine Woche im Voraus gezahlt und den Schlüssel erhalten. Sie hatten eines der oberen Zimmer im hinteren Ende des Gebäudes bekommen. Es war einigermaßen ordentlich und abgegrenzt und bot Privatsphäre, was Mulder willkommen hieß.

"Mulder..." sagte Scully und riss ihn aus seinen Gedanken. Ihr Ton war ernst und er hörte auf, sie zu bürsten.

"Ja?"

"Ich habe gerade nur... an meine Mutter gedacht." Sie hielt einen Moment lang inne und legte ihre Hände flach auf seine Knie. "Glaubst du... glaubst du, dass es ihr gut geht?"

"Natürlich", antwortete er rasch. "Ich meine, sie macht sich sicher Sorgen um dich, aber..."

"Nein, das meine ich nicht", beeilte sie sich zu sagen. "Glaubst du, dass sie ihr etwas antun, um uns zu finden?"

Mulder zögerte. Er wusste nicht, was er ihr antworteten sollte. Er rutschte von der Couch herunter und saß nun genau hinter ihr. "Scully", sagte er langsam, als er sie sanft in die Arme nahm, "ich bin mir nicht sicher. Aber deine Mutter... sie ist eine starke Frau. Sie kann auf sich aufpassen, das weißt du. Und wir helfen ihr dabei, indem wir sie nicht kontaktieren und denen nicht die Möglichkeit geben, es gegen sie zu verwenden."

Sie nickte und er fühlte, wie sie sich in seinen Armen entspannte. "Ich weiß..." Sie klang traurig und er merkte, dass er schon wieder seinen kürzlich geleisteten Schwur gebrochen hatte. "Ich weiß, du hast Recht...  Aber es ist trotzdem schwer."

Ihr Statement schien keine weiteren Kommentare zu erfordern, also sagte er nichts, sondern hielt sie nur fest, bis er auf dem Herd die Soße überkochen hörte und er aufstehen musste, um das Essen fertig zu machen.

 

 

 

 

Walter Skinner schloss die Augen und massierte mit zwei Fingern seinen Nasenrücken. Er war nicht durch Zufall Stellvertretender Direktor des Federal Bureau of Investigation. Er verdankte seinen Titel seinem scharfen Intellekt und seiner exzellenten Organisationsfähigkeit; er ist für viele Jahre unermüdlichen Dienstes mit dieser oft undankbaren Position belohnt worden. Es gab Tage, an denen er dachte, die Arbeit seines Lebens zu tun, und Tage, an denen er sein Schicksal verfluchte und sich wünschte, einen anderen Beruf ergriffen zu haben.

Er öffnete wieder seine Augen und richtete sie auf die vor ihm liegenden Seiten. In dem peinlich genau geschriebenen Bericht konnte er lesen, dass die Agenten Fox Mulder und Dana Scully mit dreißigprozentiger Sicherheit in dem Autounfall von Louisiana umgekommen waren. Natürlich war Skinner sich im Klaren darüber, dass sich eine solche Statistik augenblicklich ändern konnte, je weiter die Untersuchungen fortschritten, doch die Explosion und das daraus resultierende Feuer hatten alle Beweise vernichtet und erschwerten eine weitere Analyse erheblich.

Dreißig Prozent. Skinner hoffte auf die anderen siebzig.

Das zischende Geräusch eines angehenden Streichholzes lenkte Skinners Aufmerksamkeit wieder auf den Mann vor ihm. Skinner deutete auf das "Bitte Nicht Rauchen"-Schild auf seinem Schreibtisch, aber der Mann beachtete seinen Hinweis nicht. Mit einem kaum hörbaren Seufzen fuhr Skinner fort.  "Es scheint mir noch etwas verfrüht, die Suche in diesem Fall zu beenden."

Der Mann nahm einen Zug von seiner Zigarette, bevor er antwortete. "Ich hatte angenommen", sagte er, "dass sie es vorziehen würden, ihre Leute wieder in anderen Fällen einsetzen zu können."

Skinner sah dem Mann in die Augen, sagte aber nichts.

"Die Suche nach Mulder und Scully wird fortgesetzt", endete der Mann. "Unter anderer Führung."

"Unter wessen Kommando?"

Nun sagte der Mann nichts mehr und Skinner sah, wie er frustriert die Zähne zusammenbiss. Er hatte diese Spielchen und die Halbwahrheiten endgültig satt. Er hatte es satt, lediglich ein Papiertiger in irgendeinem Büro zu sein. Und, gab er vor sich selbst zu, er konnte dieses ständige Schuldgefühl nicht ertragen.

Irgendwie gab Skinner sich selbst die Schuld an Mulders und Scullys Zwangslage. Er war sich schon lange ihrer unüblichen Methoden bewusst gewesen und er hatte sie geduldet, obwohl er in Grunde dagegen war. Mehr als einmal hatte er sie zu sich zitieren müssen und sie ermahnen müssen, sich an die Regeln zu halten. Er hatte sie oft davor warnen müssen, nicht Dingen nachzugehen, die sie nichts angingen und er hatte ihnen geraten, ihre Suche nach gewissen Wahrheiten aufzugeben. Skinner wäre in seiner Karriere nicht so weit gekommen, wenn er nicht wissen würde, wann es an der Zeit ist, einmal nicht hinzusehen, weil es Antworten gab, die er besser nicht wissen sollte.

Aber Skinner hatte auch keine Schwester, die vor seinen Augen verschwunden war und nie wieder aufgetaucht  war. Ihm waren nie völlig ohne Erklärung drei Monate seines Lebens gestohlen worden. Genau aus diesem Grund half er ihnen wo er nur konnte und er tat sein Bestes, um sie zu schützen.

Doch dieses Mal hatte er versagt. Er hatte versagt, weil er nicht die Beweise wahrhaben wollte, die sie gefunden hatten. Er hatte die Anschuldigungen, die sie gemacht hatten, nicht ernst genommen. Er konnte sich an das letzte Mal erinnern, als Scully in seinem Büro gewesen war und ihn mit einer Dringlichkeit um Hilfe in einer Sache gebeten hatte, dass es fast schon ein Flehen gewesen war. Ein Flehen, das er nicht hören wollte und abgewiesen hatte.

Skinner merkte, dass er keine Antwort auf seine Frage erhalten würde und versuchte es noch einmal. "Ich möchte immer noch kontinuierlich über den Status der Suche informiert werden."

"Aber natürlich", erwiderte der Mann und ließ die Asche seiner Zigarette auf den Teppich fallen. "Ich habe es nicht anders angeordnet."

Mit diesen Worten drehte der Mann sich um und verließ das Büro. Skinner spürte einen Hauch der Erleichterung, als er aus der Türe war. Die Gegenwart dieses Mannes war immer beklemmend, und das nicht nur durch die Tatsache, dass Skinner im Grunde nicht genau wusste, welche Interessen er eigentlich verfolgte. Es hatte etwas an sich, das jedem seiner Worte und jeder Handlung einen bösartigen Beigeschmack verlieh.

Skinner schloss den Bericht und fragte sich, was passieren würde, wenn Mulder und Scully noch lebten. Was würde mit ihnen passieren, wenn sie gefunden würden? Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vielleicht wäre es mit solch vernichtenden Beweisen besser für sie gewesen, wenn sie in dem Unfall umgekommen wären. Mit einem Kopfschütteln verbannte er diesen Gedanken und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

 

 

X-1 X-1

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (2/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Charlie warf einen Blick auf seine Armbanduhr, als er sein Fahrrad von dem Ständer losmachte. Er brauchte immer einen Moment, um die Position der Zeiger auf dem Ziffernblatt richtig zu deuten. Obwohl die Uhr große Zahlen hatte, kam er immer noch durcheinander. Nach kurzem Überlegen stellte er fest, dass er noch etwa eine Stunde hatte, bevor sein Vater nach Hause kam. Es war genug Zeit, um nachzusehen, ob der Engel heute wieder da war.

Charlie überprüfte noch einmal seinen Rucksack, um sicherzugehen, dass sei Notizbuch sicher zwischen seinen Schulbüchern verstaut war. Es war da, ein wenig zerfetzt und mitgenommen, doch es standen alle seine Notizen und Listen darin. Erleichtert begann er in Richtung seines Zuhauses in die Pedale zu treten.

Er hatte die Angewohnheit, alles Wichtige aufzuschreiben, das er nicht vergessen durfte. Seine Großmutter hatte ihn immer wieder an die Wichtigkeit von Aufzeichnungen erinnert, als er noch kleiner war. Listen seiner Lieblingsstraßen in New Orleans, Öffnungszeiten seiner liebsten Geschäfte, und Ereignisse, die er als wichtig erachtete, (zum Beispiel, als er das allererste Mal ganz alleine einen Fisch gefangen hatte)  waren alle sorgfältig in dem kleinen Büchlein notiert. Es war noch eine ziemlich kurze Liste, fiel ihm auf, als er in die Pedale trat. Seine Großmutter hatte ihm immer Geschichten von Engeln erzählt, die in menschlicher Gestalt auf die Erde gekommen waren, und über die Leute wachten. Sie waren kleine Wunder Gottes, so hatte sie sie genannt, und Charlie hatte nach ihrem Tod geschworen, sie zu finden und ihre Gegenwart festzuhalten.

Er fuhr wie immer vorsichtig um die Ecke, stets auf Gegenverkehr achtend und trat fester in die Pedale, um schneller zu Hause zu sein.

Charlie hatte vom ersten Moment an, in dem er sie gesehen hatte, gewusst, dass sie ein Engel war. Er achtete immer auf Dinge, die sich in seiner Nachbarschaft ereigneten und er hatte vor allen anderen gewusst, dass das leere Apartment in der Pension endlich vermietet war. Es hatte fast einen ganzen Monat leer gestanden und schon allein deswegen wusste Charlie, dass etwas Wichtiges im Gange war, als sich endlich Mieter eingefunden hatten.  Das Apartment war so wichtig, weil es die Nummer drei hatte. Drei war Charlies Glückszahl. Er tat fast alles dreimal. Er putzte sich dreimal am Tag die Zähne, trank seine Milch nach dem Essen in drei langen Zügen und faltete seine Bettlaken dreimal, in der Hoffnung, böse Monster davon abzuhalten, aus dem Schrank zu kommen, wenn das Licht ausging.

Er wusste, dass etwas Wichtiges passieren würde. Immerhin war es jetzt fast drei Jahre her, seit seine Großmutter gestorben war. Und bis jetzt war es ohnehin schon ein magisches Jahr für Charlie gewesen. Er war jetzt neun, und er wusste, dass Neun praktisch drei Dreien zusammen waren. Er freute sich gar nicht so richtig auf seinen zehnten Geburtstag, denn zehn konnte man immerhin nicht durch drei teilen.

Zu Hause angekommen stellte Charlie sein Rad in die Garage und ging ins Haus, nachdem er sich die Schuhe an der Matte draußen abgeputzt hatte. Auf dem Tisch lag ein Zettel von seiner Mutter, dass er nicht vergessen solle, den Müll herauszubringen und die Blätter im Vorgarten zusammenzuhaken. Charlie ließ den Zettel links liegen, denn wenn er sich beeilte, schaffte er die Arbeit dennoch, bevor sie zurückkam.

Er nahm seinen Notizblock aus der Schultasche und lief die Treppe zu dem alten Zimmer seiner Großmutter. Charlie wusste, dass er nicht in dieses Zimmer durfte, aber wenn niemand daheim war, konnte er es wagen. Man konnte immer noch das Veilchenparfüm riechen, das sie immer getragen hatte. Seit ihrem Tod hatte sich nicht viel in dem Zimmer verändert. Seine Mutter kam nur ab und zu hier herein, um Staub zu wischen.

Charlie machte das Fenster auf und kletterte auf den Balkon, indem er sich an einem Ast eines Baumes festhielt, der ziemlich nahe an das Haus herangewachsen war. Er schätzte die Entfernung ab und griff nach einem weiteren Ast, an dem er sich höher an dem Baum heraufzog. Er erreichte das Dach des Hauses und schluckte, als er sah, dass sie wirklich da war.

Er nahm sein Notizbuch unter seinem Hemd hervor, zog einen Stift aus der Tasche und fing an, seine Aufzeichnungen durchzugehen, ein Ellenbogen auf den Ast gestützt.

Sie war ein Engel, weil sie so ruhig war, als ob sie Gott selbst zuhören würde. Es war heute schon der zweite Tag, an dem er sie auf dem Dach gesehen hatte. Sie saß friedlich auf der geteerten Oberfläche der Mauer.  Vor vier Tagen war sie am späten Abend mit einem großen, bärtigen Mann gekommen, aber wenn sie hier heraus kam, war sie immer allein. Sie sah genauso aus wie der Engel auf dem Fensterbild in der Kirche, die Charlie gewissenhaft jeden Sonntag besuchte. Dunkles Haar, blasse Haut und blaue Augen, die Charlie von seiner Position aus deutlich sehen konnte.

Er saß ruhig da und bewunderte ihre stille Schönheit.

Die Zeit verging und Charlie fiel ein, dass er seine Arbeit tun musste. Doch er wollte noch nicht gehen. Er sah, wie sie aufstand und langsam zurück zu der Tür zum Treppenhaus ging. Ihre Bewegungen waren vorsichtig und sie hielt bim Gehen stets die Hände vor sich. Charlie wusste, er hatte es schon vom ersten Augenblick an gewusst, dass sie blind war, genauso wie der alte Mr. Coleman, der so oft auf der Bank vor seiner Schule saß. Er wusste nicht, warum Gott einen blinden Engel auf die Erde schicken würde, aber er hatte es sich aufgeschrieben und nahm an, dass der Grund dafür ihr Zuhören war.

Auf einmal stolperte sie und fiel zu Boden, und Charlie hörte ein lautes Klimpern. Er erstarrte vor Angst, dass sie sich verletzt haben könnte und war erleichtert, als er sah, dass sie wieder aufstand. Ein ängstlicher Ausdruck stand nun in ihren Augen und sie suchte auf Knien hastig nach etwas auf dem Boden. Nach einer oder zwei Minuten bekam sie Panik und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Charlie sah auf die Uhr. Es war schon spät und er wusste, dass er mit seiner Arbeit anfangen musste. Aber er konnte ihre wachsende Angst nicht ignorieren. Er kletterte wieder zurück in das Zimmer seiner Großmutter und rannte dann ins Treppenhaus.

 

 

 

 

Scully tastete, sie fühlte die ganze Oberfläche ab. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die bereits in ihr aufstiegen. Er muss hier sein, dachte sie und suchte weiter nach dem glatten Metallschlüssel.

Sie war zum zweiten Mal auf dem Dach der alten Pension. Den ersten Tag hatten sie zusammen verbracht, hatten ausgeschlafen, sich von dem Unfall erholt und überlegt, was sie als nächstes machen würden. Am zweiten Tag hatte Mulder Nachforschungen angestellt und in dem Versuch, das Puzzle zusammenzusetzen, das sie so verzweifelt lösen wollten. Es war ihr bald langweilig geworden, das Apartment zu erkunden und so hatte sie den Schlüssel genommen, den er auf dem Tisch liegen gelassen hatte, und das Haus erkundet. Sie wollte sich nicht mit den Grenzen abfinden, die die Blindheit ihr bot. Sie hielt es für wichtig, den Weg zu dem Apartment ihres Vermieters zu kennen und den  Weg zum Ausgang. Vorsichtig war sie Schritt für Schritt ihren Weg gegangen und hatte letztendlich die Tür gefunden, die zu den versteckten Treppen auf das Dach führten.

Auf dem Dach war es wunderschön für Scully. Die Luft war erfüllt von vielerlei wundervollen Gerüchen, wohlriechende Aromen von dem Restaurant unten auf der Straße, und der Duft von frischem Kaffee gemischt mit dem von frischem Brot. Sie konnte den Verkehr der Straße hören und einige Unterhaltungen von Fußgängern, die über die Straße gingen, genau wie das entfernte Hupen der Schiffe, die den Fluss auf- und abwärts fuhren. Von Zeit zu Zeit hörte sie die Glocke der St. Louis Kirche, die alle Viertelstunde ertönte und ihr half, die Zeit wahrzunehmen. Der Wind blies kühl und frisch, und sie saß zufrieden da und stellte sich das aufgeregte Treiben der Innenstadt von New Orleans vor. Sie hatte sich, abgesehen von kurzen Durchfahrten bei Routinefällen, die Stadt nie richtig angesehen und hatte nie die Zeit gefunden, eine der Stadtrundfahrten mitzumachen, die jährlich tausende von Touristen anzogen. Jetzt konnte sie es sich fast bildlich vorstellen, wie die Stadt aussah, basierend auf einem inneren Bild gemalt durch verschiedene Empfindungen und Eindrücke, die sie von sich hatte. Es war ein Zeitvertreib, bis Mulder zurückkehrte.

Heute war sie noch einmal aufs Dach gekommen und es hatte ihr wieder gefallen - bis jetzt. Sie hatte das Gleichgewicht verloren und war gestürzt, wobei sie den Schlüssel zu ihrem Apartment fallengelassen hatte. Jetzt konnte sie ihr kleines Geheimnis nicht mehr für sich behalten und Mulder würde aus lauter Angst um sie wütend sein.

Scully suchte verzweifelt nach dem Schlüssel, denn sie wusste, dass er bald zurückkommen würde. Ein lauter Knall ließ sie vor Schreck innehalten. Eine Reihe von Klettergeräuschen waren zu hören, dann leichte Schritte auf dem Dach.

"Lady?" fragte eine sehr leise, fast flüsternde Stimme. "Haben Sie sich verletzt?"

Scully zögerte unsicher, doch spürte dann keine Gefahr. "Nein", antwortete sie langsam. "Ich kann nur meinen Schlüssel nicht finden."

Die Schritte kamen näher und sie verspannte sich. Dann hörte sie ein Kratzten auf dem Teerbelag des Daches. "Hier ist er", sagte die Stimme und sie fühlte, wie ihr der Schlüssel in die Hand gedrückt wurde.

"Danke", sagte sie und versuchte, sich ein Bild von ihrem Helfer zu machen.

"Wohnst du hier?"

"Nee", kam die Antwort. "Ich wohne nebenan in einem Reihenhaus."

Es war eine Kinderstimme mit südlichem Akzent, erkannte sie, als sich ihre anfängliche Panik gelegt hatte. Scully lächelte und fragte, "Wie heißt du?"

"Charles", sagte der Junge. "Aber alle nennen mich Charlie."

"Aha", erwiderte sie und stand auf. "Ich bin froh, dass du heute in der Nähe warst, Charlie." In diesem Moment fiel ihr eine Frage ein. "Wie bist du eigentlich hier hoch gekommen?"

"Über die Feuerleiter, Ma'am", antwortete er. "Es ist sehr einfach. Ich war schon oft hier oben."

Scully streckte eine Hand aus und nach einem Moment fasste der Junge sie und sie schüttelte seine kleine Hand. "Danke noch mal, Charlie", sagte sie.  "Ich muss jetzt gehen."

"Kommen Sie zurecht?" Sie nickte auf seine zögernde Frage hin, aber bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, hörte sie ein strenges Rufen von der Straße unten.

"Charles!" rief ein Mann laut und ärgerlich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als der Laut an ihre Ohren drang. "Junge, wo bist du?"

"Okay, Ma'am, ich muss wohl gehen." Scully hörte ein Zittern in seiner Stimme und ein Stottern, das eine Sekunde zuvor noch nicht dagewesen war.  Der Junge sagte nichts weiter, aber sie hörte ihn über das Dach laufen und kurz darauf wieder den metallischen Klang der Feuerleiter, als er hastig herunter kletterte.

Scully horchte und hörte wieder die Stimme des Jungen, diesmal gedämmt durch die Entfernung.

"Entschuldige, Papa. Ich habe nicht auf die Uhr geguckt."

Der stechende Klang einer Ohrfeige war laut genug, um bis zu ihr auf das Dach zu gelangen. "Du Idiot", hörte sie den Mann schelten. "Wozu habe ich dir denn die Uhr gegeben?"

"Weiß nicht, Papa. Tut mir leid." Das war das letzte, was Scully hören konnte, obwohl sie noch einen Moment abwartete. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Dann fasste sie sich und ging langsam zurück zu der Tür, die zur Treppe und zu ihrem Apartment führte.

 

 

 

 

Mulder steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnete die Tür. Es war schon spät und es war ausgenommen von dem Mondlicht, das durch das Fenster einfiel, völlig dunkel. Er tastete nach dem Lichtschalter und knipste das Licht im Wohnzimmer an. Es war leer und völlig still.

Er schloss die Tür hinter sich und rief leise nach ihr. "Scully?" Er erhielt keine Antwort und sein Herz begann, schneller zu schlagen. Er knipste auch das Licht in der Küche an und sah nach, bevor er im Schlafzimmer suchte.

Die Lampe an der Zimmerdecke brauchte eine Sekunde, bis sie anging. Sie lag zusammengerollt auf dem Bett, das Kissen fest an ihr Gesicht gepresst. Sie war völlig angezogen in Jeans und Tennisschuhen und dem großen grünen Pullover. Ganz so, als ob sie ungewollt eingedöst sei. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig mit jedem Atemzug. Er trat neben sie ans Bett, doch zögerte, sie zu wecken. Er wusste, wie sehr sie den Schlaf brauchte. Nach einem Moment setzte er sich neben sie und das Gewicht seines Körpers reichte aus, um sie zu wecken."

Scully regte sich und schlug die Augen auf. Für eine Sekunde war ihr Gesicht angsterfüllt, doch dann atmete sie tief durch und lächelte.  "Mulder", sagte sie verschlafen. "Du kommst spät."

"Ich weiß", gab er zu und strich ihr übers Haar. "Ich habe die Zeit vergessen." Er beugte sich näher zu ihr und sie legte ihre Hand auf seinen Schenkel. "Hast du Hunger?"

"Ein wenig", sagte sie mit einem Gähnen. "Hattest Du Glück?"

Mulder seufzte. "Nicht viel. Ich muss eine Menge Informationen durchgehen."

Er hatte wieder fast den ganzen Tag in der Bibliothek der Tulane University verbracht und war jedes Medizin-Magazin und jedes Fachbuch durchgegangen, in der Hoffnung, einen Bestandteil der Substanz zu finden, die Scully in dem Labor gesehen hatte. Den Namen dieser Substanz hatten sie den Einsamen Schützen gegeben, die diese Information durch jedes Computersuchprogramm gejagt, das sie zu Verfügung hatten, nur um mit leeren Händen enden zu müssen. Nichtsdestotrotz hatte Scully den Namen, den sie auf den Fläschchen gesehen hatte, mit allen möglichen Verbindungen und in allen Varianten mit Hilfe von ihren Erfahrungen aus ihrem Medizinstudium aufgeschrieben. Mit dieser Liste bewaffnet war er in die Bücherei gegangen, um danach zu suchen.

Scully wurde wach durch seine Worte und sie setzte sich mit einem weiteren Gähnen auf. "Hast du irgendwelche Ansätze mitgebracht?"

"Ein paar. Wir können beim Abendessen darüber reden."

 

 

 

 

Scully merkte, wie Mulder vom Bett aufstand und nach einem Moment folgte sie ihm. Sie nutzte den Klang seiner Schritte als Richtungsweiser und hielt an, wenn er anhielt. Sie streckte die Hand aus und fühlte den Türrahmen zum Badezimmer vor ihr.

Sie hörte, wie die Tür des Medizinschränkchens mit einem leisen Knirschen aufging. "Mulder..." begann sie, doch sie kannte bereits die Antwort bevor sie überhaupt gefragt hatte. "Es ist noch hier."

"Ich weiß", sagte sie. "Ich möchte nur sichergehen."

Scully hörte den Klang von Metall gegen Glas. "Und?" fragte sie. Er antwortete ihr nicht und sie trat weiter ins Badezimmer, bis sie mit dem Rücken an den Rand des Waschbeckens lehnte. "Und?" wiederholte sie neben ihm.

"Es ist noch hier."

"Gib es mir für eine Sekunde." Scully streckte beide Hände mit den Handflächen nach oben aus und fühlte einen Moment später das kühle, raue Metall. Sie strich mit den Fingerspitzen um das Objekt herum, vorsichtig, um die fragilen Rinnen nicht zu beschädigen.

Obwohl sie es nicht mehr sehen konnte, konnte sie sich deutlich daran erinnern. Es war eine runde Platte, eine flache Scheibe, etwas halb so groß wie eine Kompakt-Diskette. Sie wusste, dass die Rillen auf der Oberfläche verschiedene Farben hatten, aber sie konnte sich nicht mehr an das Design erinnern. Die höherstehenden Furchen hatten ebenfalls eine besondere Bedeutung, aber für Scully waren die Rillen von größerer Bedeutung. Sie waren klein und gleichmäßig über der Diskette verteilt und jede war an einem Ende eingekerbt, als ob es die Halterung für ein noch kleineres Objekt ist.

Ein Objekt von der Größe des Chips, der in ihrem Nacken implantiert gewesen war.

Vage, halb vergessene Worte schwirrten durch ihr Gedächtnis. Ein Mikroprozessor... mit extremer Komplexität und weitreichender Mikrolithographie als Basis von Computerprogrammen, weil er auf menschliche Gehirnwellen durch direkte elektro-chemische Kopplungen zurückgreifen konnte...

Irgendwie war Scully sich sicher, dass dieses Objekt der Schlüssel war. Der Schlüssel für eine Art von neutralem Netzwerk, das nicht nur Informationen sammeln konnte, sondern auch künstlich Gedanken produzieren konnte...

Es schien schon so lange her, dass sie im FBI-Labor den kleinen Chip untersucht hatte, den sie aus ihrem Nacken hatte entfernen lassen. Ein Chip, der so zerbrechlich war, dass er während der Untersuchung zerstört worden war. Aber vielleicht war dieser Verlust das ja auch wert. Es hatte sie immerhin bis hierhin gebracht, dachte sie bei sich.

Scully hielt es noch einen Moment fest, bevor sie es Mulder wortlos zurückgab. Es fühlte sich gar nicht wie der Lebensinhalt oder der Talisman an, zu dem es ohne Zweifel geworden war. Sie hörte, wie er es wieder zurück in das vorübergehende Versteck legte. Normalerweise trug Mulder es immer in seiner Tasche und genau wegen dieser Vorsichtsmaßnahme hatte die wertvolle Diskette den Autounfall überstanden. Aber der Metalldetektor der Bibliothek hielt ihn davon ab, weder die Diskette noch seine Waffe mitzunehmen. So musste er sie in dem Apartment lassen. Scully trat einen Schritt zurück und streifte mit ihrem Arm gegen etwas, das scheppernd zu Boden fiel.

"Oh!" sagte sie und verfluchte ihre Tollpatschigkeit.

"Scully?" Für einen Moment hörte er sich besorgt an, doch dann sagte er beruhigend, "Nichts passiert. Das ist bloß mein Rasierzeug."

Sie hörte, wie er die Sachen von Boden aufhob und sie zurück in das Regal räumte. "Rasierzeug? Nicht, dass du das in letzter Zeit gebraucht hättest..."

Sie hörte ein Lächeln in seiner Stimme, als er antwortete. "Ich muss diesen Bart immerhin in Form halten oder?"

"Wie auch immer..." grinste sie. "Lass uns essen, Mulder."

 

 

X-2 X-2

 

 

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (3/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Der Lärm in dem Restaurant war gedämmt durch die Entfernung und die schwere Holztür zwischen den Räumen bot einigermaßen Ruhe. Der Mann holte seine Morleys aus der Innentasche seines Mantels hervor, schüttelte eine heraus und griff nach seiner Streichholzschachtel. Er war im Begriff, das Streichholz anzuzünden, als eine kühle Stimme ihn unterbrach.

"Bitte."

Das eine Wort reichte aus, um ihn seine Zigarette und die Streichhölzer weglegen zu lassen. Er nickte und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Misstrauisch betrachtete er den Mann, der ihm gegenüber in dem ledernen Armsessel saß.

Er war ziemlich groß und gut gebaut. Sein Haar war dunkel und seine Haut hatte einen olivfarbenen Ton. Seine Augen waren schwarz und mandelförmig, fast asiatisch. Er hatte einen schwarzen Anzug über einem schwarzen Hemd an und überraschend schlanke Hände. Er hatte eine gewisse Ruhe, die geradezu angsteinflößend war, eine Ruhe in seinen Bewegungen, die deutlich und bedacht war.

Er war lediglich unter dem Namen Christophe bekannt, und als er den Mann so anstarrte, wünschte er sich, die Zigarette doch angezündet zu haben.

"Alles ist in bester Ordnung", sagte Christophe in demselben kühlen Ton. "Ich werde sicher bald eine Antwort für Sie haben."

Der Mann nickte abermals, erfreut über die guten Nachrichten in dieser Angelegenheit. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, sich an Christophe zu wenden, aber er respektierte seine Befehle und er wusste, dass Christophe ohnehin die beste Partie war. Und, was noch wichtiger war, Christophe und seine Männer konnten, anders als das FBI, kontrolliert werden - zwar nicht durch ihn selbst, aber immerhin.

"Gut", sagte er. "Sie werden zufrieden sein. Die Zeit wird knapp, und wir können es uns nicht leisten, Spielchen zu spielen."

"Ich verstehe", erwiderte Christophe und fixierte den Mann vor sich.

"Richten Sie ihnen aus, dass sie bald haben werden, was sie suchen."

Der Mann war im Begriff aufzustehen, als er von einer Frage Christophes aufgehalten wurde. "Wie lauten die Befehle, sobald das Objekt sichergestellt wurde?"

"Beseitigen Sie sie." Der Mann hielt inne, eine Hand an der Tür des kleinen dunklen Zimmers. "Finden Sie heraus, ob die Information an Dritte weitergegeben worden ist und beenden Sie es dann. Sprechen Sie sich ab, es ist uns egal. Machen Sie jedenfalls ihren Job."

"So gut wie erledigt."

Mit dieser Bestätigung verließ der Mann das Treffen und griff wieder nach der Packung Zigaretten, als die Tür hinter ihm in die Angel fiel.

 

 

 

 

Mulder seufzte und massierte mit müden Fingern seine Schläfen. Die Wörter schwirrten vor seinen Augen, eine endlose Reihenfolge von Ausdrücken, von denen er nicht das Bedürfnis hatte, sie näher zu verstehen. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, dass Scully bei ihm wäre. Es verbrachte heute den dritten Tag in der Bücherei, er blätterte Seiten um Seiten durch und machte sich Notizen. Es war unglaublich zeitaufwendig, aber sie hielten es beide für zu gefährlich, wenn sie ihn begleiten würde. Allein war er unauffälliger. Zusammen würden sie Aufsehen erregen.

Er zwang sich dazu, sich auf die Seiten zu konzentrieren und weiter Listen der Substanzen zu schreiben. Dilocaine, Dilomine, Dilosyn, las er murmelnd vor sich hin. Dobutamine, Dolocene, Dolophine... Die Worte vermischten sich in einem einzigen Klumpen. Er verlor rasch den Überblick, den er unbedingt behalten musste. Scully war sich sicher, dass der Name auf den sorgfältig beschrifteten Flaschen mit "D" begann, aber Mulder war sich da nicht mehr so sicher. Seine vorherigen Ergebnisse waren auch nicht besonders aufschlussreich gewesen, aber da hatte er noch nicht nach so vielen Kriterien gesucht. Dieses Mal hatte Scully vorgeschlagen, er solle einfach eine Liste aller Medikamente schreiben, die mit "D" begannen, die er finden konnte, um so unter bestimmten Gesichtspunkten zu suchen. Grimmig biss er die Zähne zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. Aber es half nichts.

Er schob das Buch zur Seite und griff nach einem weiteren, kleineren Buch, als er sich umsah. Er schlug die Seite auf, die er markiert hatte und las weiter.

"Korneale Lichtundurchlässigkeit weist auf den Grad der Vernarbung des Augengewebes hin. Es gibt viele Faktoren, die diesen Zustand bewirken können, insbesondere wenn das Gewebe verbrannt wurde oder einer starken Lichtquelle oder Hitze ausgesetzt worden ist. In seltenen Fällen, in denen das Ausmaß der Verletzungen nicht sehr groß ist, ist es bereits vorgekommen, dass sich das Gewebe regeneriert hat. In den meisten Fällen jedoch bleibt das Gewebe lichtundurchlässig und die Augenmuskeln beginnen schnell, sich zurückzubilden."

Mulder fuhr mit dem Finger über die Zeilen und speicherte sie in seinem Gedächtnis. Fast am Ende des Absatzes fand er etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte, und er schrieb die Textstelle in seinen Notizblock.

"In einigen Fällen konnten Erfolge verzeichnet werden, indem man die Zurückbildung der Augenmuskeln verhinderte. Bei Hornhauttransplantationen wird die Hornhaut durch Spendergewebe ersetzt. Obwohl dieses Vorgehen relativ neu ist, sind in vielen Fällen bereits erstaunliche Resultate erzielt worden, unter anderem von Herrn Dr. Robert Bard, einem Pionier in Laserchirurgie."

Mulder sah von dem Text auf und blickte auf die Uhr. Er musste bald gehen und er wollte die letzten Minuten nutzten, um die Liste der Medikamente durchzugehen, auf die der Text verwies. Er zögerte und stand dann mit seinem Schreibblatt in der Hand auf.

 

 

 

 

Auf einmal schien die Arbeit doch noch interessant zu werden. Karen legte das rosafarbene Lesezeichen auf die Seite ihres Psychologiebuches und sah zu, wie er näher kam. Sie nahm ihre metalleingefasste Brille ab, legte sie hinter sich sie auf den Tisch und fuhr sich mit einer Hand durch ihr kastanienbraunes Haar in der Hoffnung, dass ihr Verhalten nicht so offensichtlich war, wie sie dachte.

Er war der interessanteste Mann, dem Karen in den sieben Monaten, in denen sie hier arbeitete, begegnet war. Sie hatte den Job in der Bibliothek mit der Aussicht angenommen, dass ihr ein gut bezahltes Nichtstun nicht nur die Möglichkeit geben würde zu lernen, sondern auch intelligente Männer aus Gelehrtenkreisen zu treffen.

Getroffen hatte sie sie, Dutzende sogar. Bücherwürmer mit Hornbrillen, die ihren Büchereiausweis voller Stolz wie ein Abzeichen mit sich herumtrugen.  Sie wünschte sich, sie würde Englisch studieren oder Jura oder vielleicht etwas in romantischer Richtung, wie Philosophie oder Altphilologie. Zwar hatte sie bei abendlichen Einladungen zum Kaffee nie nein gesagt, aber keiner von den Männern hatte sie wirklich je interessiert. Bis jetzt.

Er hatte etwas an sich, das über sein Oxford-Hemd-und-Jeans-Bekleidung hinausging. Sein Bart war etwas dunkler als seine braunen Haare und ihr war aufgefallen, dass er von Zeit zu Zeit blinzelte, während er las. Sie fand es lustig, dass er zu eitel war, um sich die Brille anzuziehen, die er offensichtlich brauchte. Andererseits, dachte sie, kann er sich bei dem Gehalt eines Studenten vielleicht gar keine leisten.

Er kam mit festen Schritten auf sie zu. "Hallo", sagte er mit einem höflichen Lächeln. "Wären Sie vielleicht so freundlich, mir einen Artikel zu bringen?"

"Sicher", antwortete sie und strich sich eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. Sie merkte, dass er sie dabei beobachtete wurde rot. "Haben Sie die Referenznummer?"

Er antwortete zuerst nicht, sondern sah sie nur an, doch dann fasste er sich. "Ja, hier", sagte er und reichte ihr einen Zettel.

Karen war noch nie so froh gewesen, im hinteren Teil des Raumes verschwinden zu müssen wie jetzt. Der Typ gefiel ihr wirklich sehr. Es war lächerlich—sie hatte sich in einen Kerl verguckt, den sie bloß dreimal in der Bibliothek gesehen hatte. Sie wusste nicht einmal, wie er hieß. Sie schüttelte den Kopf und tippte die Nummer des Artikels, den er haben wollte, in den Computer. Einige Minuten später kehrte sie mit den ausgedruckten Seiten in der Hand zurück. Er stand an der Theke und wartete auf sie.

"Studieren Sie Psychologie?" fragte er, als sie wiederkam und deutete auf das aufgeschlagene Buch hinter der Theke.

"Ja", antwortete sie. "Sechstes Semester."

"Sieht nach einem guten Kurs aus", sagte er und sie nickte.

Karen wollte ihr kurzes Gespräch noch nicht beenden und warf einen Blick auf die Blätter, die sie in der Hand hielt. "'Fortschritte in der Hornhauttransplantation'", las sie. "Basiert auf Untersuchungen von Dr. Robert Bard am Jules Stein Institut für Augenkunde, UCLA."

Er wirkte ein wenig nervös, sagte aber nichts, sondern streckte nur seine Hand nach den Blättern aus.

"Das verstehe ich nicht", sagte sie lebhaft. "Wie lautet Ihre These?"

"Wie bitte?" Verwirrung stand in seinen braunen Augen.

"Ihre These", wiederholte sie und bereute ihre Frage augenblicklich, weil es verriet, dass sie ihn die ganze Zeit genau beobachtet hatte. "Ich meine... Sie haben die ganze Zeit diese Listen von Medikamenten gelesen...  und jetzt das hier. Ich sehe da keine Verbindung."

Er starrte sie an und Karen sah etwas Dunkles und Trauriges in seinen Augen, von dem sie nicht wusste, was es war. Er blinzelte und das Dunkel verschwand. Anstelle dessen trat etwas, das eher nach ruhiger Entgegennahme aussah.

"Zwei unterschiedliche Projekte", sagte er und entzog ihr die Unterlagen. "Danke für Ihre Hilfe."

"Kein Problem", erwiderte sie und sah ihm nach, als er wieder seinen Platz an dem Tisch einnahm.

Karen nahm wieder ihr Psychologiebuch zur Hand und gab vor, den Stoff für die morgige Prüfung zu wiederholen anstatt ihn zu beobachten, tief in dem Artikel versunken, den er von ihr bekommen hatte.

Kurze Zeit später verließ er die Bücherei, ganze drei Stunden vor Ende ihrer Schicht. Sie seufzte, als seine schlanke Gestalt aus der Tür verschwand. Sie wünschte, sie könnte ihm folgen, und sie hoffte, dass er bald wiederkommen würde.

 

 

 

 

Das ältere Ehepaar aus der Wohnung gegenüber kam ihm gerade entgegen, als Mulder zurückkam. Er vermied Augenkontakt und nickte ihnen im Vorbeigehen kurz zu. Als er die Tür öffnete, war er überrascht, als ihm der Geruch von Essen in die Nase stieg.

Er schloss die Tür und machte das Licht an. "Scully?"

"Hier!" kam die Antwort und er ging in die Küche. Obwohl das Licht aus war, wurde die Küche noch durch die untergehende Sonne erhellt und er erstarrte bei dem, was er sah.

Scully stand neben dem kleinen Tisch mit einem Glas in jeder Hand, die sie offensichtlich zu den beiden Tellern stellen wollte, die auf dem Tisch waren. Sie lächelte in seine Richtung, aber er nahm es kaum wahr, denn seine Augen klebten an dem Herd hinter ihr. Die Gasflammen unter dem Kochtopf waren alarmierend hoch und sie erreichten schon fast das Geschirrtuch, das daneben hing.

Mulder war in einer Sekunde neben dem Herd. Er riss das Tuch vom Haken und stellte den Brenner mit einer hastigen Bewegung niedriger. "Scully—" sagte er scharf, als er herumfuhr und sie ansah. "Was machst du denn da?"

"Abendessen", antwortete sie und stellte vorsichtig die Gläser ab. "Was ist denn los?"

"Du hast fast das ganze Haus in Brand gesetzt!" Er nahm einen tiefen Atemzug, um sich wieder zu fassen. "Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?"

Sie antwortete nicht sofort, und als sie es tat, war ihre Stimme wie zugeschnürt. "Ich habe gedacht, dass ich dazu in der Lage bin, eine Suppe aufzuwärmen und ein paar Sandwiches zu machen."

Mulder blickte sich in der Küche um. Auf dem Tisch verstreut standen einige Dosen und andere Behälter, und er sah die Sandwiches, die etwas schief auf einem Tablett neben der Spüle standen. Aber seine Aufmerksamkeit galt anderen Dingen.

Der Dosenöffner, mit dem sie die Suppe geöffnet hatte. Das Messer, mit dem sie das Brot geschnitten hatte. Die Flammen, die immer noch niedrig auf dem Herd brannten. Er malte sich alle möglichen Katastrophen aus, aber trotzdem versuchte er, seine Stimme ruhig zu halten. "Natürlich bist du das, Scully, aber—"

 

Sie schnitt ihm abrupt das Wort ab. "Hör auf, mich zu bemuttern, Mulder. Ich bin kein kleines Kind."

Ihm blieb das Wort im Halse stecken und sah sie zum ersten Mal wirklich an. Sie trug ein langes geblümtes Kleid und eines seiner Hemden, die viel zu weiten Ärmel hochgekrempelt. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und er konnte deutlich ihre Wut hinter ihren zusammengebissenen Zähnen sehen.

Er versuchte es noch einmal, viel vorsichtiger diese Mal. "Ich weiß..."

"Nein, weißt du nicht." Ihre Worte waren kalt, sie schienen den ganzen Raum einfrieren zu wollen. "Du weißt *überhaupt* nichts!"

"Scully, bitte." Er trat einen Schritt auf sie zu, in der Hoffnung, sie zu beruhigen. "Hör mir zu, bitte, ich..."

"Hör auf—hör auf damit—halt die Klappe!" Scully wehrte ihn mit wild umher schlagenden Armen ab. "Ich kann es nicht mehr hören, Mulder! Du hast *keine* Ahnung, wie das ist. Du hast *keine* Ahnung, was ich durchmache!"

Mulder stand völlig still, erstarrt durch ihre Worte.

"Weißt du, wie das ist, Mulder, wenn man auf der Straße nichts sehen kann? Hast du eine Ahnung, wie das ist, wenn man völlig hilflos ist und von anderen abhängig, die dir bei allem helfen müssen?" Sie wich von ihm zurück und stieß dabei gegen den Tisch, worauf eines der Gläser klirrend zu Boden fiel.

Der Lärm erschreckte sie und er sah, dass sie die Ursache des Lärms suchte.  Sie schrie vor Qual und Schmerz und Mulder wusste, dass sie sich am Rande der Hysterie befand. "Ich hasse es, Mulder. Hörst du? Ich *hasse* es!"

Er ging auf sie zu und versuchte, ihren Arm zu fassen, aber sie wich fort und schrie. "Ich hasse diese Dunkelheit, ich hasse sie!" Sie erreichte die Theke und fuhr mit wild suchenden Fingern über die Oberfläche, bis sie das Tablett mit den Sandwiches fand. Sie riss es vom Tisch und knallte es auf den Boden. "Ich *hasse* es, so schwach zu sein!" Sie fuhr weiter über die Theke und schmiss alles auf den Boden, das ihr in die Finger kam. "Ich *hasse* es, so verletzlich zu sein! Ich *hasse* es, die ganze Zeit so eine Angst zu haben!"

Scully erreichte das Ende der Theke und bevor Mulder sie stoppen konnte, riss sie in einem Schwung den Suppentopf vom Herd. Ihre Hand klatschte gegen das heiße Metall und sie schrie vor Schmerz als siedend heiße Flüssigkeit sich auf dem Boden um sie ausbreitete.

"Scully!"

Er schrie sie an, er versuchte, sie vor ihrer Panik zu beruhigen. Er griff nach ihr, aber er hielt sie nur für einen Moment fest, bevor sie sich aus seinem Griff herauswand und ins Wohnzimmer stolperte.

 

 

 

 

Irgendwie schaffte sie es, aus der Küche zu kommen, bevor ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie sank zu Boden und schlang die Arme um ihre Knie. Ihr Schluchzen hallte unerträglich laut in ihren Ohren, als sie ihr Gesicht in ihren Knien vergrub. Ihre rechte Hand tat weh, aber es half ihr, ihre Selbstbeherrschung wiederzufinden.

Sie hörte, wie er das Wohnzimmer betrat, aber sie bewegte sich nicht. Seine Schritte kamen näher, bis er genau neben ihr stand. Dann fühlte sie, wie er ihr die Hand auf die Schulter legte.

"Scully, bitte", begann er, doch die Sorge in seiner Stimme weckte wieder ihre Wut und sie schüttelte ihn ab.

"Geh bloß weg von mir!"

Er sagte nichts, und sie hoffte, dass der schrille Ton geholfen hatte. Sie merkte, wie er sich neben sie auf den Boden setzte, aber er versuchte nicht wieder sie anzufassen.

"Scully... ich glaube, du hast dir die Hand verbrannt", sagte er sanft. "Lass mich mal sehen... bitte."

Seine Worte waren weich und es lag etwas darin, das sie fast dazu brachte, zu tun wofür er sie bat, aber ihre Wut war noch nicht ganz gewichen.  "Nein", keifte sie zwischen ihrem Schluchzen. "Ich will nicht, dass du überhaupt noch irgendwas tust."

"Scully..."

"Ich meine es ernst, Mulder." Sie setzte sich aufrechter hin und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. "Ich will nicht, dass du mir Essen machst... oder meine Klamotten aussuchst... oder irgendwas. Ich will es nicht... Ich will es nicht... Ich will es nicht!"

Trotz ihrer Versuche konnte Scully nicht aufhören zu weinen, und ihre Wut wandelte sich schnell in Verlegenheit. Sie fühlte seine Hand auf ihrem Handgelenk und dieses Mal ließ sie ihn gewähren. Er strich über ihre Handfläche und sie zuckte. Dann fühlte sie etwas Kaltes und Nasses an ihrer Hand und sie erkannte an dem Stoff, dass es das Geschirrtuch aus der Küche war.

"Ich glaube, es ist nicht so schlimm", hörte sie ihn sagen als er provisorisch ihre Hand verband. "Aber das wird den Schmerz etwas lindern."

Sie nickte und zog ihre Hand wieder auf ihren Schoß. "Danke." Und nach einem Moment fügte sie leise hinzu, "Es tut mir leid."

Sie hörte ihn seufzen und er war so nahe, dass sie es fast spüren konnte.

"Nein, Scully", sagte er. "Mir sollte es leid tun."

"Warum?"

"Wegen allem", antwortete er und der Kummer in seiner Stimme berührte sie zutiefst. "Ich habe dich im Stich gelassen, und ich habe versucht, es wieder gut zu machen. Ich... ich glaube, dass ich aus lauter Angst, dich wieder im Stich zu lassen, dich so—kontrolliere. Ich will nicht, dass dir noch irgendetwas passiert."

Sie hörte nur einen einzigen Ausdruck von dem, was er sagte. Einen Ausdruck, der in ihrem Hirn widerhall und der endlich ihre Tränen trocknete. Sie drehte sich zu ihm. "Was meinst du damit—du hast mich im Stich gelassen?"

Er schwieg, und sie fand seine Hand mit ihrer unverletzten und drückte sie.

"Mulder? Sag es mir."

"Das Labor", sagte er leise. "Ich wusste, es war eine Falle. Du hättest nie reingehen dürfen. Ich hatte versprochen, dich zu beschützen und ich—ich habe versagt."

"Oh, Mulder." Sie zögerte und suchte nach Worten, um auszudrücken, was sie sagen wollte. "Du warst nie dafür verantwortlich, mich zu beschützen. Außerdem hast du es versucht. Du hast mich gewarnt, du bist mir sogar da hinein gefolgt. Ich habe bloß..." sie verstummte und hob reuevoll die Schultern. "Ich war wie besessen, Mulder. Ich war mir so sicher, dass ich recht hatte. Ich war nicht mehr in der Lage, auf irgendjemanden zu hören.  Es gab nichts, das du hättest tun können."

"Aber wenn ich nur bei dir gewesen wäre, hätte ich..."

"Hättest du *was*, Mulder?" fragte sie, aber als er nicht antwortete, fuhr sie fort. "Es gibt nichts, das du hättest tun können. Ich habe mir das selbst eingebrockt." Scully schwieg wieder aus Angst das zu sagen, was sie so lange für sich behalten hatte. Aber es war, als ob der Wall zwischen ihnen gebrochen war, und sie wollte ihm alles sagen.

"Mulder", begann sie, "in dieser Explosion sind Menschen umgekommen.  Unschuldige Menschen—und ich—es war meine Schuld. Vielleicht...  vielleicht verdiene ich es ja."

"Nein!" explodierte er. "Du hast nichts getan, um so etwas zu *verdienen*, Scully! Denk sowas nicht!" Seine Worte waren fest, aber sie konnte das Zittern darunter hören. "Niemand verdient so etwas, Scully.... am wenigsten du."

"Oh, Mulder." Sie hob ihre Hand an sein Gesicht und fühlte, dass seine Wange feucht war. Sie erkannte mit Schrecken, dass er weinte.

"Weißt du denn nicht..." sagte er in heiserem, gebrochenen Flüstern. "Wenn ich... ich würde *alles* tun... ich würde *alles * dafür geben... wenn...  wenn es dir dein Augenlicht zurückgeben würde... wenn es dich wieder ganz machen würde."

Überwältigt durch den Schmerz und die Trauer in seinem leisen Geständnis, legte sie ihre Arme um ihn und zog ihn ganz nah an sich heran. Sie fühlte, wie er auch seine Arme um sie legte und wie er durch die Macht der Tränen, die ihn schüttelten, zitterte. Wieder fing sie an zu weinen. Sie presste ihre Stirn an seine, seine Haut warm und weich an ihrer. Das plötzliche Verlangen, ganz nah bei ihm zu sein und ihn zu trösten, überkam sie, und sie strich sanft mit ihren Lippen gegen seine.

 

 

 

 

 

Stop!! Haltet den Bus an!!! Da sind sicher ein paar grummelige NorRoMos im hinteren Teil, die aussteigen wollen... Sorry, Leute—Ich weiß, ich hätte am Anfang von diesem Teil eine Warnung schreiben müssen, aber ich konnte meine Drama-Hand einfach nicht dazu bewegen. ;-) Außerdem denke ich, dass ich die Szene auch für die größten Carter-Anhänger früh genug geschnitten habe, oder? Jedenfalls möchte ich mich entschuldigen, wenn sich jemand ärgern sollte— die Story ist eine Geschichte für sich! Wenn Ihr trotzdem noch weiterlesen möchtet, die Teile 4-12 werden gleichzeitig gepostet.

Ich möchte mich bei der Gelegenheit bei Brian bedanken, der mir seine Medizin-Bücher ausgeliehen hat und sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zu beantworten. Du bist der Beste! :-)  Und jetzt, rein in die Höhle des Löwen...

 

 

X-3 X-3

 

 

Dies hier ist der vierte Teil eines Zwölfteilers. Wort der Autorin, Spoiler Warnung und Dementi können am Anfang von Teil 1 gefunden werden. Und wenn wir schon einmal dabei sind, möchte ich eine Relationship-Warnung vorausschicken... ;-)

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (4/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Scully wich erschrocken zurück, als ihr bewusst wurde, was sie tat. Mulder blickte sie mit tränenfeuchten Augen an und wie aus dem Nichts fiel ihm plötzlich wieder die Porzellanpuppe ein, die er Samantha zum siebten Geburtstag geschenkt hatte. Dunkles, seidiges Haar. Glatte, zarte Haut. Klare, blaue Augen, die sein Bild widerspiegelten, ohne zu zeigen, was in ihnen lag.

Scully wurde rot und ihm wurde mit einem Schlag klar, dass es nicht so sehr mit ihrer unglaublichen Schönheit zu tun hatte, dass er sich so zu ihr hingezogen fühlte, sondern vielmehr mit dem, was in ihr steckte. Ihre Lebhaftigkeit, ihr Mut, ihre Stärke. Diese Eigenschaften machten sie menschlich, wirklich und lebendig.

Sie legte ihre Hand auf seine Brust und schüttelte den Kopf. "Mulder, ich... ich..."

Mulder wollte nicht, dass sie abstritt, was sie eben getan hatte. Er lehnte sich zu ihr und presste seine Lippen gegen ihre... und ertrank in ihrer Wärme und Geschmeidigkeit. Ohne Nachzudenken zog er sie an sich heran und nahm sie in seine Arme.

 

 

 

 

Scully fühlte seine Lippen auf ihren und erzitterte, als das Gefühl ihren Körper durchschoss. Ihr erster Gedanke war, von ihm weg zu kommen. Ihr Verstand sagte ihr, dass es falsch war, dass es gegen jede ethische Regel des FBI war. Aber sie war nicht länger dieselbe Frau, die einst diese Regeln gelernt hatte. Diese Frau, Special Agent Dana Scully, hatte sie vor sechs Wochen in Washington DC hinter sich gelassen. Nun war sie sich nicht mehr so sicher, wer sie war, aber der Teil von ihr, der zu Lisa Wilder geworden war, empfand es als einen schützenden Unterstand vor dem Schrecken der letzten zweiundvierzig Tage. Es war dieser Teil von ihr, der seinen Kuss erwiderte, ihre Finger durch die kurzen Haare an seinem Nacken streichen ließ und sich völlig seiner sanften Berührung hingab.

Mulders Kuss war lang und tief und zärtlich. Er strich beruhigend über ihren Hals, ihre Schultern, ihren Rücken. Sein Bart kitzelte leicht auf ihrer Haut, als sich seine Lippen auf ihren bewegten. Ihre Unsicherheit, ihre Furcht und alle ihre Ängste waren auf einmal wie weggeflogen durch seine Nähe. Sie gab sich völlig seinen Liebkosungen hin und stöhnte sanft, als er seinen Körper näher an sie heran drückte.

Sie fühlte seine Finger auf ihrem Schlüsselbein, seine elektrisierenden Hände entfachten tief in ihrem Inneren ein Feuer. Sein zärtliches Streicheln sank tiefer, zu ihrem Ausschnitt, und seine Finger spielten mit den Knöpfen ihres Hemds. Es kam ihr vor, als würde sie nur durch seine Kraft aufrecht erhalten, nur durch seine Arme gestützt, die sie an seinen Körper hielten.

Er begann, den obersten Knopf aufzumachen und plötzlich verspannte sie sich. Sie hatte Angst, vor dem was passieren würde, wenn sie ihn gewähren ließ. Sie nahm ihre Hände von seinem Hals und legte sie auf seine, in der Hoffnung, dass er ihr stilles Zeichen verstand.

Er schien zu verstehen und beugte sich zurück und sie ließ ihren Kopf auf seine Schulter fallen. Sie fühlte seinen kurzen, flachen Atem neben ihrem Ohr, das ihr von Kopf bis Fuß einhüllte. Sie kuschelte sich näher an ihn und war sich augenblicklich ihrer roten Wangen bewusst. In diesem Moment war sie dankbar, dass sie seine Augen nicht sehen konnte und nicht wusste, was er dachte.

 

 

 

 

Mulder hielt sie fest umschlungen, bis sie einschlief. Er strich über ihr Haar und küsste sie sanft auf die Wange, aber sie regte sich nicht. Als ihm selbst die Augen begannen zuzufallen, stand er auf. Er nahm sie in die Arme und trug sie ins Schlafzimmer. Sanft legte er sie auf das Bett und zog ihr die Schuhe aus, bevor er sie zudeckte.

Er zögerte einen Moment und blickte auf ihr friedliches Gesicht. Er dachte an die Unordnung in der Küche, doch zuckte dann mit den Schultern. Das kann bis morgen warten, dachte er bei sich, zog seine Schuhe aus und legte sich neben sie. Sogar im Schlaf zog es sie zu ihm, denn sie rollte sich in seine Arme. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter und atmete ruhig und gleichmäßig. Nach nicht langer Zeit wurde auch er von traumlosem Schlaf übermannt.

 

 

 

 

Scully wachte mit dem Gedanken auf, dass sie allein im Bett lag. Sie tastete suchend nach ihm über die Laken, doch als er nicht aufzufinden war, bekam sie Angst. Dann ertönte Lärm aus einem anderen Zimmer und die anfängliche Furcht wich von ihr. Sie hörte noch einen Moment zu, bevor sie ihn rief.

"Mulder?"

Sie hörte, wie er näherkam und dann das Quietschen der Tür, als er sie aufstieß. "Scully? Alles in Ordnung?"

"Ja", antwortete sie, erleichtert, seine Stimme zu hören. "Was machst du?"

"Ich räume die Küche auf", antwortete er und sie wurde rot, als sie sich an den vorherigen Abend erinnerte.

"Oh.. Wie spät ist es?"

"Kurz nach acht."

"Morgens?" fragte sie überrascht.

"Ja", sagte er. "Du hast die ganze Nacht durchgeschlafen."

Sie erwiderte nichts, sondern nickte nur. Sie wusste, dass er hinsah.

"Möchtest du Kaffee?" Sie nickte abermals und hörte, wie er sich in die Küche entfernte. Sie blieb auf dem Bett liegen mit tausend wirren Gedanken im Kopf. Sie fühlte sich gut, zum ersten Mal seit Wochen richtig ausgeruht, aber dieses Gefühl wurde von einer seltsamen Unruhe gehemmt, von der sie nicht wusste, woher sie kam.

 

 

 

 

Als er zurückkam, saß sie aufrecht an das Kopfende des Bettes gelehnt und ihre Haare fielen wirr auf ihre Schultern. Mit der Kaffeetasse in der Hand trat er näher und setzte sich neben sie. Vorsichtig gab er ihr die Tasse in ihre ausgestreckten Hände und sah zu, wie sie daran nippte.

"Okay?" fragte er und war erleichtert, sie lächeln zu sehen.

"Perfekt", sagte sie. "Genau das habe ich gerade gebraucht."

"Gut." Ihm fielen keine weiteren Worte ein, also blieb er sitzen und sah ihr zu.

Sie waren beide still, als sie noch einige vorsichtigen Schlucke nahm und dann nach dem Nachttisch tastete, um die Tasse abzustellen. Sie stellte sie ziemlich nahe an den Rand und er schob sie etwas mehr in die Mitte. Sie runzelte die Stirn. "Mulder", begann sie und zögerte einen Moment, bevor sie weiter sprach. "Wegen gestern Abend..."

"Du musst mir überhaupt nichts erklären", unterbrach er sie, aber sie schüttelte den Kopf und er ließ sie sprechen.

"Ich möchte es aber." Sie fummelte an dem Bettlaken. "Es tut mir leid...  was passiert ist. Wegen dem Chaos in der Küche... und..."

"Mir nicht." Mulder war selbst überrascht über seinen energischen Ton.

"Mir aber." Ein Anflug von Röte huschte über ihr Gesicht und sie drehte sich weg. "Das... das hätte nicht passieren dürfen. Und... ich möchte mich entschuldigen."

"Scully..." Er legte seine Hand auf ihre, um ihre nervösen Finger zu stillen. "Ich wollte es... ich wollte dich küssen."

Sie seufzte und Mulder sah eine eigenartige Melancholie auf ihrem Gesicht, die er vorher noch nie gesehen hatte. "Mulder... ich möchte nicht... ich möchte nicht, dass ich dir leid tue. Dass du... dass du Mitleid mit mir hast... das könnte ich nicht ertragen."

"Oh, Scully... nein." Der Schmerz in ihrer Stimme brach ihm das Herz und er strich ihr über die Wange. Sie zuckte bei seiner Berührung, aber er schaffte es, sich ihr Gesicht zuzudrehen. "Weißt du denn nicht... das hat überhaupt nichts damit zu tun." Sie antwortete nicht und er nahm ihr Schweigen als einen Anlass, weiter zu sprechen. "Ich fühle mich schon seit sehr langer Zeit zu dir hingezogen, lange bevor wir DC verlassen haben. In so vielen Hinsichten... mehr, als ich je erkannt habe. Bis—bis jetzt."

 

 

 

 

Scully verhielt sich absolut still. Sie fühlte die Wärme seiner Hand auf ihrer Haut. Seine Worte waren ruhig und beschwichtigend, doch trotzdem konnten sie die hohle Leere in ihr nicht füllen.

Er wartete auf eine Antwort, aber sie sagte immer noch nichts. Dann hörte sie, wie er tief durchatmete und seine Hand von ihrem Gesicht nahm, um mit beiden Händen ihre zu umschließen. "Scully... du musst mir glauben. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Einmal musste ich es. Und ich könnte nie... ich würde das nicht noch einmal überleben."

Auf einmal öffnete sich ein Bild vor ihrem inneren Auge, ein Bild von ihm damals. Wie er ausgesehen hatte, als er in der blauen Windjacke etwas verlegen neben ihr am Krankenhausbett gestanden hatte. Seine Hände hatten nervös mit dem Goldkettchen gespielt, an dem ihr Kreuz hing und in seinen Augen stand eine Mischung aus Leid und Erleichterung.

"Scully", sagte er kaum lauter als ein Flüstern. "Ich bin hier bei dir, weil ich es so gewollt habe."

Scully spürte einen Kloß in ihrem Hals und sie bekam feuchte Augen.

"Mulder..."

"Bitte... Dana", flehte er und der Klang ihres Vornamens klang süß in ihren Ohren. "Lass mich. Bei dir sein."

Er umarmte sie und die Spannung wich von ihr. Sie war das Gefühl seiner Arme um sie nun gewohnt, aber doch war es irgendwie anders und neu. Er vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter und sie fühlte, wie er sie sanft auf den Hals küsste und wie ein warmer Schauer ihren ganzen Körper durchfuhr.

 

 

 

 

Sie sagte nichts, und er genoss das Gefühl ihrer Arme um sich. Er drehte ein wenig ihren Kopf und ihr Haar strich leicht an seiner Wange. Er beugte sich näher und küsste sie sanft auf die Lippen. Zärtlich ließ er seine Zunge über ihre Lippen gleiten und sie erwiderte seine Liebkosungen. Rasch vertiefte sich der Kuss zu einer leidenschaftlichen Erkundung.

Nach einigen langen Momenten erlöste er sie. Seine Hände waren immer noch in ihrem Haar und auf ihrem Gesicht, das nur einige Zentimeter von seinem entfernt war. Er blickte sie voller Sehnsucht an, doch ihr Blick blieb leer und dumpf. Er küsste leicht ihre Stirn und war froh, ein kleines Lächeln auf ihren Lippen zu sehen.

Sie rückte ein wenig von ihm weg und tätschelte den leeren Platz neben sich. Er verstand, rückte näher und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie legte ihren Kopf an seinen Hals zwischen seiner Schulter und seinem Kinn und sie saßen still da und genossen die neue Nähe, die zwischen ihnen entstanden war.

Ein Grummeln aus Scullys Magengegend unterbrach die friedliche Stille. Sie kicherte verlegen und löste sich von ihm.

"Mulder", sagte sie, "ich glaube, es ist Zeit fürs Frühstück."

"Gute Idee", stimmte er zu. Er stand auf und nahm sie bei der Hand, als er sie vom Bett in die Küche führte.

 

 

 

 

Der Mann stand in dem dunklen Zimmer. Seine Augen waren auf den flimmernden Fernseher vor ihm gerichtet, doch er nahm ihn kaum war. Er dachte nach, unter anderem über die Zeit, die für seinen Geschmack viel zu schnell verstrich.

Er warf einen weiteren Blick auf die Uhr, als er sich eine Zigarette anzündete. Er genoss das Gefühl des Nikotins, das seine Lungen füllte. Langsam begann er, an dem Lauf der Dinge, die passierten, zu zweifeln, aber er hatte keine Möglichkeit, irgendetwas daran zu ändern. Er hasste es zugeben zu müssen, aber er hatte die Situation überhaupt nicht unter Kontrolle und das machte ihn mehr als wütend. Er war ein Mann, der so eine Ohnmacht zutiefst verabscheute.

Das Scheppern des Telefons war eine willkommene Unterbrechung seiner düsteren Gedanken.

"Ja?" Seine Stimme war scharf und brüsk. Die Stimme am anderen Ende war unverwechselbar. Christophe. "Ich möchte Sie nur wissen lassen, dass wir unserem Ziel sehr nahe sind."

"Wie nahe?" fragte der Mann und nahm einen langen Zug an seiner Zigarette. "Ich habe mir sagen lassen, dass unsere Zielobjekte gesichtet worden sind. Es wird nicht mehr lange dauern."

"Gut." Der Mann war mit dem bisher Erreichten zutiefst zufrieden. "Lassen Sie es mich wissen, wenn es erledigt ist."

"Selbstverständlich." Eine Sekunde später war die Leitung tot.

Der Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blies kleine Kreise in die Luft. Er war erleichtert zu hören, dass Fortschritte gemacht worden sind, aber ein Teil von ihm fluchte noch immer darüber, dass er nicht bei dem großen Finale dabei sein konnte, an das er in den letzten Wochen immerzu gedacht hatte. Aber er war schlau genug, sich in diesem Punkt nicht einzumischen.

Er drückte die Zigarette in dem überfüllten Aschenbecher neben ihm aus, schaltete auf einen anderen Kanal um und gab sich wieder seinen düsteren Gedanken hin.

 

 

 

 

 

Scully hörte Schritte auf dem Metall der Feuerleiter krachen und musste lächeln, als sie den Menschen erkannte, zu dem sie gehörten. Trotz des Lärms auf der Straße konnte sie hören, wie der Junge sich ihr näherte.

"Hallo", sagte sie und lächelte in seine Richtung.

"Hallo, Ma'am", antwortete er höflich. "Wissen Sie noch, wer ich bin?"

Sie nickte. "Charlie", sagte sie. "Von nebenan."

"Genau", antwortete er und sie hörte den glücklichen Unterton in seiner Stimme. "Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nicht im Geringsten."

Er setzte sich neben sie, und sie konnte hören, wie er sich auf der geteerten Oberfläche zurechtsetzte. Für eine Weile sagte er nichts und sie vernahm nur das Geräusch seiner leicht keuchenden Atemzüge.

Nach einiger Zeit versuchte er, ein Gespräch anzufangen. "Kennen Sie sich mit Brüchen aus?"

"Ein wenig", sagte sie und versuchte sich ein Grinsen zu verkneifen.

"Ich hasse Brüche", sagte der Junge. "Ich habe es lieber, wenn die Ergebnisse glatt rauskommen."

"Ich auch", sagte sie und sie schwiegen wieder.

 

 

 

 

Charlie betrachtete sie näher. Sie sieht heute irgendwie anders aus, dachte er bei sich. Irgendetwas bewirkte, dass sie viel ruhiger und glücklicher schien, sie strahlte geradezu. Er verfluchte die Tatsache, dass er einen Tag mit seinen Beobachtungen versäumt hatte. Seine Mutter hatte ihn zum Zahnarzt geschleppt trotz seiner Proteste, er hätte Wichtigeres zu tun. Und jetzt kam es ihm vor, als ob er etwas sehr Wichtiges verpasst hätte, etwas, das er hätte aufschreiben müssen.

Er hatte den ganzen Morgen damit verbracht, den Mut aufzubringen, sie etwas zu fragen. Aber jetzt, wo er die Gelegenheit dazu hatte, war er sich nicht mehr so sicher, ob er ihr diese Frage stellen sollte. Er beschloss, zunächst etwas Einfaches zu fragen. "Wie ist Ihr Name?"

Sie zögerte für einen Moment, bevor sie antwortete. "Lisa", sagte sie.

"Lisa", wiederholte er. Es war ein schöner Name für einen Engel, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, ihn jemals in der Bibel gelesen zu haben.  Es gab mal ein Mädchen in seiner Klasse namens Lisa, aber Charlie wusste, dass sie kein Engel war. Nicht im Mindesten. Diese Lisa hier war etwas Besonderes.

"Das ist ein schöner Name."

"Danke", sie lächelte und Charlie wurde wieder zuversichtlich.

"Lisa", fragte er, "Sie kommen nicht aus der Gegend hier, oder?"

Sie zog scharf die Luft ein und er konnte sehen, wie eine Sorgenfalte über ihr Gesicht huschte. "Nein", gab sie zur Antwort. "Ich... bin nur auf der Durchreise."

Charlie war erleichtert. Immerhin hatte er recht gehabt. "Das ist gut." Er sah auf die Uhr und stand auf. Sein Vater könnte jede Minute nach Hause kommen. "Ich muss gehen", sagte er. Dann, "Ich bin froh... Ich bin froh, dass Sie hier auf der Durchreise sind."

Er nahm ihre Hand und sie drückte sie. "Bye, Charlie", sagte sie.

"Bye", echote er und lief wieder zu der Feuerleiter am anderen Ende des Daches. Als er die Treppen herunter stieg, blieb sein Blick an ihr hängen.  Er wünschte sich, bleiben zu können, aber er konnte das Risiko nicht eingehen.

 

 

 

 

Scully saß auf der Couch und hörte die Nachrichten im Fernsehen, als sie den Schlüssel im Schlüsselloch hörte. Sie horchte, als die Tür aufschwang und erkannte seine Schritte, als er den Raum betrat. Es kam ihr vor, als hätte sie tagelang auf seine Rückkehr von der Bücherei gewartet, obwohl es in Wirklichkeit nur ein paar Stunden gewesen waren. "Hey", rief sie zur Begrüßung. Sie konnte es kaum erwarten, seine Stimme zu hören.

"Selber hey", antwortete er. Sie hörte, wie er die Türe zuschlug und nahm augenblicklich eine starken, süßlichen Duft wahr. Sie horchte, wie er sich näherte und hörte ein ungewohntes Rascheln, das die Geräusche seiner Bewegungen begleitete.

"Mulder?" Sie war neugierig. "Was ist das für ein Geruch?"

Sie spürte, wie er sich neben sie setzte. Der Duft war nun ganz nah und er überkam ihre Sinne in einer Welle von Lieblichkeit. Er griff nach ihren Händen, und sie hörte es wieder rascheln, als er ihr etwas in die Hände drückte. Papier, glatt und kühl an ihrer Haut, das um lange, dünne Stängel gewickelt war. Noch ein Atemzug und sie erkannte, dass sie einen Strauß der wohlriechendsten Blumen in den Händen hielt, der ihr je untergekommen war.

"Mulder!" Sie wiederholte seinen Namen dieses Mal mit einem Lächeln, aber ihre Frage stand noch deutlich in ihrer Stimme.

"Es sind Gardenien", antwortete er leise. "Ich wollte dir eigentlich Rosen kaufen, aber diese hier... sie riechen viel schöner."

Ein stechender Schmerz füllte ihr Herz, der nicht durch diese Geste entstand, sondern von seinen rührenden Worten, die seine Umsichtigkeit und Rücksicht viel besser zum Ausdruck brachten, als die Blumen selbst.

 

 

 

 

 

Mulder saß neben ihr und versank in dem Anblick, wie sie ihr Gesicht in dem Strauß Blumen vergrub und wie ihr Haar wie ein dunkler Vorhang über die weißen Blütenblätter fiel. Er freute sich, sie glücklich zu sehen und er verdrängte die Bedenken, die er hatte, als er den Blumenladen betreten hatte. Seine alberne Idee hatte sie glücklich gemacht.

Nach einem Moment hob sie den Kopf und fragte, "Bringt Rick Lisa immer Blumen mit, wenn er nach Hause kommt?"

Er verstand, was sie meinte. "Ja, wenn Lisa es gern hat."

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, das in seiner Schüchternheit verführerisch war. "Lisa", antwortete sie, "hat Rick gern. Sehr gern."

Ihre Worte hallten in ihm wider und er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen. Den Blumen, die er zerdrückte, als er sie in die Arme nahm, schenkte er keine weitere Beachtung. Sie erwiderte seinen Kuss und erfüllte ihn mit einer stillen Zufriedenheit, die ihn die langen und langweiligen Stunden vergessen ließen, die er in der Bibliothek verbracht hatte.  Stunden, in denen sie nicht bei ihm gewesen war.

"Lass uns Essen gehen", sagte er, als er sich löste, um zu Atem zu kommen.

"Ernsthaft?" fragte sie.

Er strich mit seiner Hand über ihr Gesicht, über ihre Schulter und über ihren Arm, bevor er ihre Hand nahm. "Es ist schon spät und es sind viele Leute auf den Straßen. Es ist kein großes Risiko."

"Okay", antwortete sie mit einem Lächeln, das er nicht widerstehen konnte zu küssen.

 

 

 

 

 

X-4 X-4

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (5/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Lucy bahnte sich vorsichtig ihren Weg durch den Menschenpulk an die Bar und verfluchte im Stillen den zweiten Drink, den sie sich im Napoleon-Haus während einer angeblichen "Party" genehmigt hatte. Für Lucy war es wieder einmal der Anfang einer langen Nacht, die nicht sonderlich anders sein würde, als alle anderen, an die sie sich in der letzten Zeit erinnern konnte.

"Hey, da drüben!" grüßte sie Tommy, der wie immer in der Bar hinter der Theke stand.

"Hi, Süße!" säuselte er und schenkte ihr sein typisches Macho-Grinsen mit strahlend weißen Zähnen in einem braungebrannten Gesicht. "Das Übliche?"

"Was denn sonst?" gab sie zur Antwort und zog sich den Barhocker hoch, um den Margarita entgegenzunehmen. Einen Moment später erschien Tommy auch schon wieder mit dem Kunstwerk in der Hand. Sie nahm einen langen Schluck und seufzte vor Zufriedenheit. Sie wusste, dass sie zu viel und zu oft trank, aber es war eine Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen. Eine Möglichkeit, die Schuldgefühle zu ignorieren, die sie in den letzten Tagen fühlte. Lucy hatte sich in den Monaten, seit sie von Los Angeles zurückgekehrt war, in ihrer immer größer werdenden Verzweiflung ihren Süchten hingegeben. Sie war Autorin von Beruf und hatte zwei Romane und ein Buch mit Kurzgeschichten herausgebracht. Aber in letzter Zeit hatten sich ihre guten Ideen rar gemacht und ein Autor ohne eine Geschichte war wertlos, hatte sie sich von ihrem Manager sagen lassen, als er ihren Vertrag gekündigt hatte.

Lucy nahm einen weiteren Schluck und blickte sich in dem Restaurant um. Es war schon spät und das Mr. B's war gut besucht: Touristen und ein paar Anwohner, die immer wieder wegen der besten Novelle Cuisine herkamen, das New Orleans zu bieten hatte. Eine Vielzahl verschiedener Menschen umringte sie. Sie betrachtete jeden einzelnen genau, machte sich ein Bild von ihm und setzte sie alle ihrer strengen Musterung aus.

Sie bemerkte das Pärchen in der Ecke, weil es ihr irgendwie besonders erschien. Sie strahlten etwas aus, das sie in den letzten Wochen in menschlicher Gesellschaft noch nicht gesehen hatte. Es war, als ob sie völlig allein wären, obwohl der Raum angefüllt war mit hunderten von Menschen. Der Mann hatte seinen Arm um die Schultern der Frau gelegt und hielt sie nahe bei sich. Etwas an seiner Umarmung ließ in Lucy wieder Gefühle aufkommen, von denen sie gedacht hatte, dass sie sie längst vergessen hätte. Der Mann sagte etwas zu der Frau, worauf sie lachte und näher an ihn heran rückte. Es schien, als ob es zwischen ihnen eine tiefe Verbindung gab, eine Verbindung, die Lucys Neugier weckte.

Tommys warnenden Blick ignorierend, bestellte sich Lucy noch einen Drink, nachdem sie ihr Glas leer vor sich vorfand. Sie hatte nur Augen für das Pärchen, das an dem kleinen Tisch im hinteren Ende des Raumes völlig ineinander vertieft war.

"Hast du etwa noch nie frisch Verheiratete in den Flitterwochen hier gesehen?" spottete Tommy, als er ihr das Glas reichte. "Was ist an denen so besonders?"

"Gar nichts", lächelte Lucy. "Ich beobachte nur. Du weißt, wie das ist."

"Ja, das weiß ich in der Tat", grinste Tommy sie an.

Lucy antwortete nicht, als der Mann aufstand und die Hand der Frau drückte.  Sie beobachtete, als er sich seinen Weg zu den Toiletten im hinteren Ende des Restaurants bahnte. Er verschwand aus ihrem Blickfeld und ihre Augen fielen wieder auf die Frau, die nun allein an dem Tisch saß. Erst jetzt bemerkte Lucy, was das zärtliche Beisammensein der Beiden verdeckt hatte: die Frau war blind, ihre Augen leer und ausdruckslos. Sie blieb geduldig sitzen und wartete auf die Rückkehr ihres Gefährten. Das ist nicht ein gewöhnliches Pärchen in den Flitterwochen, dachte Lucy, und sie fühlte plötzlich den altbekannten Eifer, der sie erfasste, wenn sich eine neue Idee in ihrem Kopf formte.

"Hey, Tommy", rief sie, "gib mir noch ein paar von denen, ja?"

"Püppchen", kam die Antwort, "glaubst du nicht, dass du dich ein wenig bremsen solltest?"

"Laber nicht‘", nörgelte sie. "Ich stelle hier gerade ein kleines Geschenk zusammen."

Tommy sagte nichts weiter und einen Moment später tauchten zwei volle Gläser vor ihr auf. Sie ließ ihren eigenen halbvollen Drink stehen und ging mit den zwei Gläsern zu dem Tisch, an dem die Frau saß.

 

 

 

 

 

Scully wartete auf Mulder und versuchte, den Lärm um sie herum zu deuten.  Wie Mulder vorausgesagt hatte, war das Restaurant voller Leute, die ihren Feierabend genießen wollten. Die laute Musik, eine Mischung zwischen Blues und Jazz, kam von einer Live-Band, die nicht weit von ihrem Platz stehen musste. Der Duft von gebratenem Fisch und wohlriechendem Kaffee stieg ihr in die Nase. Der Raum wirkte fast erdrückend in seiner Lebhaftigkeit und Intensität, aber Scully konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so glücklich gewesen war. Es war schöner, als sie erwartet hatte, raus aus ihrem Apartment und inmitten von Leben zu sein, anstatt es allein oben auf dem Dach zu erleben.

Sie hörte unbekannte Schritte näherkommen und wurde unsicher. Einen Moment später verriet eine Stimme den Besucher.

"Margaritas", sagte die Stimme, in einem süßen und femininen südlichen Akzent. "Die Spezialität des Hauses."

Scully hielt für eine Sekunde inne. "Wir haben nichts bestellt", sagte sie und senkte ihren Kopf, um nicht auf ihre Blindheit aufmerksam zu machen.

"Betrachten Sie es als ein Geschenk", kam die Antwort, und Scully hörte das Klicken, als die Gläser auf ihren Tisch gestellt wurden. Sie roch das reiche Aroma von Tequilla und Salz und war plötzlich versucht, das Angebot anzunehmen. "Ein wenig südstaatliche Gastfreundschaft."

"Danke sehr", sagte sie und tastete vorsichtig nach einem Glas. Sie fand eines, nahm es fest in die Hand und versuchte, nichts zu verschütten, als sie es zu ihrem Mund führte. Sie nahm einen kleinen Schluck und bemerkte, dass ihre Gönnerin auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen hatte. Der Margarita war stark und kühl und wohltuend, als er ihr den Hals herunterrann, und sie nahm noch einen Schluck, bevor sie das Glas wieder abstellte.

"Gut, was?" Scully meinte, ein Grinsen in der Stimme zu hören und schenkte ihrer unbekannten Gefährtin ein Lächeln.

"Ja, sehr gut", stimmte sie zu. "Arbeiten Sie hier?"

"Nee, obwohl Tommy es gerne so hätte."

"Tommy?" fragte Scully sichtlich durcheinander.

"Der Barkeeper. Ein guter alter Junge. Er bringt mich zum Lachen von Zeit zu Zeit."

Scully nickte. Ihr war plötzlich bewusst, dass eine Unterhaltung mit Fremden nicht unbedingt ein weiser Schachzug ist. Aber doch lag etwas in dieser vollen, beständigen Stimme dieser Frau, das ihr sagte, dass es ungefährlich war.

"Wenn Sie nicht hier arbeiten", fuhr sie fort, "warum bringen Sie mir dann die Getränke?"

"Ehrlich gesagt", hörte sie die Frau sagen, "aus Neugier. Ich konnte einfach nicht anders. Ich liebe es, Leute kennenzulernen—einige nennen mich vorwitzig. Ich bevorzuge eher den Ausdruck auf natürliche Weise wissbegierig. Das klingt doch gleich viel besser, oder?"

Scully musste lachen. Die Frau war ein wenig seltsam, aber es war schwer, ihrem Charme zu widerstehen. "Ja, viel besser", stimmte sie zu.

In dem Moment unterbrach eine Stimme von anderen Ende des Raumes ihre Unterhaltung. "Lucy? Belästigst du wieder meine Gäste?"

Scully hatte keine Gelegenheit zu widersprechen, als Lucy rief: "Locker bleiben, Tommy-Boy. Es macht dieser Lady hier überhaupt nichts aus. Hab ich recht, Schätzchen?"

Eine Welle von Erleichterung überfiel Scully, als ob die Anwesenheit der Frau durch die Kenntnisnahme des Barkeepers genehmigt würde. "Nein, es macht mir nichts aus", bekräftigte sie. "Und danke für die Drinks."

"Ist doch Ehrensache", kam Tommys Antwort. "Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie noch einen möchten."

Scully fühlte sich jetzt viel lockerer und nippte abermals an ihrem Glas.  Sie hörte, wie die Frau ihr gegenüber kicherte. "Ja ja, der gute alte Tommy. Den schickt der liebe Gott. Er mischt die besten Drinks." Nach einem Augenblick fragte sie. "Sie kommen nicht aus dieser Gegend, oder?"

"Nein", antwortete Scully. "Wir besuchen hier nur jemanden."

"Hmmm..." machte die Frau. "Das ist eine schöne Gegend hier. Flitterwochen?"

Scully fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und senkte den Kopf, um ihre plötzlicher Verlegenheit zu verbergen. "Wie man's nimmt."

 

 

 

 

 

Mulder näherte sich mit wachsender Besorgnis, als er sah, dass Scully nicht mehr alleine dort saß, wie er sie zuvor verlassen hatte. Eine Frau in einem dunklen Sweatshirt, langem schwarzen Kleid und etlichen Anhängern an einer langen silbernen Kette saß ihr gegenüber. Die Frau starrte Scully mit einer Intensität an, dass Mulders Unbehagen zunehmend vergrößerte, als er die letzten paar Schritte zu ihr ging.

"Lisa?" fragte er, als er neben ihr Platz nahm. "Alles in Ordnung?"

Sie nickte und nahm noch einen Schluck von ihrem Drink. "Ja", antwortete sie und legte versichernd eine Hand auf sein Knie. "Kostenloser Margarita", grinste sie und reichte ihm das Glas. "Schmeckt gut. Probier mal."

Die Frau ihnen gegenüber sah zu, wie er das Glas wieder zurück auf den Tisch stellte. "Für mich nicht", sagte er.

"Nicht?" Die Frau sah überrascht aus. "Dann ist wohl mehr für mich übrig."

Sie griff nach dem anderen Glas und nahm zufrieden einen kräftigen Schluck.

"Und Sie sind?" Mulder versuchte, seine Gereiztheit aus seiner Stimme herauszuhalten.

"Lucy Anne", stellte sich die Frau vor, warf ihre langen dunklen Haare über ihre Schulter und streckte ihm ihre dünne Hand entgegen. "Lucy für gute Freunde und neue Bekanntschaften."

Mulder nahm die angebotene Hand und schüttelte sie, wobei er Scully aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie schien völlig ruhig, zu seiner großen Freude sogar erleichtert. "Rick", stellte er sich vor.

"Schön Sie kennenzulernen, Rick." Die Frau lächelte ihn an und Mulder musste zugeben, dass ihr Lächeln etwas Anziehendes hatte. Sie hatte etwas Warmes und Freundliches und Ehrliches an sich, das seine strikten Vorbehalte zu durchbrechen schien. "Ich habe mich gerade mit Ihrer Frau hier unterhalten."

Mulder warf wieder einen Blick zu Scully und bemerkte, wie sie rot wurde. Unter dem Tisch nahm er ihre Hand und drückte sie leicht, aber er sagte nichts.

"Sind Sie schon lange verheiratet?"

"Nein", antwortete Mulder, weil die Frau wohl eine Antwort erwartete. "Noch nicht sehr lange."

"Hab' ich mir gedacht", sagte die Frau und musterte ihn mit einem wissenden Blick, als ob sie ahnte, dass er log.

Scully unterbrach die betretene Stille, die daraufhin folgte. "Lucy? Essen Sie öfters hier?"

"Ich würde sagen, zu oft für meinen Geschmack", stöhnte Lucy. "Aber irgendwann wird das Kochen langweilig. Ich empfehle den Fisch, der ist hier ziemlich gut."

Scully lächelte ein wenig und nickte in Lucys Richtung, und Mulder merkte, dass sie die Gesellschaft genoss. Er nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich um ihretwillen zu entspannen.

Als Lucy Scully die Speisekarte vorlas, nahm Mulder die Gelegenheit dazu wahr, sie sich genauer anzuschauen. Sie war eine zierliche Frau, nicht viel größer als Scully, soweit er das beurteilen konnte. Sie hatte dunkles Haar, das locker auf ihre Schultern fiel und blassblaue Augen, die vor Energie und Intelligenz funkelten. In ihrem Gesicht waren leichte Falten, was ihr Alter auf etwa vierzig schätzen ließ, aber sie benahm sich fast wie eine Zwanzigjährige. Sie hatte eine gewisses Feingefühl und Sanftheit an sich, wenn sie mit Scully redete, das Mulder trotz der ungeschickten Umstände ihres Treffens sympathisch war.

"Bitte entschuldigen Sie meine Neugierde", sagte Lucy und riss ihn aus seinen Gedanken. "Ich bin Autorin und wie ich vorhin schon zu Lisa sagte, von Natur aus neugierig. Man trifft hier nicht viele wie Sie."

"Viele wie uns?" Scully fasste seine Frage in Worte.

"Ja", sagte Lucy mit forschendem Unterton. "Sie sind irgendwie anders." Mulder rutschte unbehaglich auf seinem Platz und sie beeilte sich fortzufahren. "Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag anders."

Scully lachte abermals und wieder war Mulder davon beeindruckt, wie glücklich sie schien. "Gut", sagte sie. "Hatten Sie schon Abendessen, Lucy?"

"Jetzt, wo Sie es erwähnen, nein, hatte ich nicht", antwortete Lucy. "Es sei denn, Sie betrachten Margaritas als Abendessen."

Mulder ging auf Scullys Hinweis ein, obwohl er nicht genau wusste warum.  "Möchten Sie mit uns essen?" fragte er und hoffte, dass die Frau ablehnen würde.

"Ich würde mich sehr freuen", sagte sie und er fand sich mit ihrer Gesellschaft ab.

 

 

 

 

Das Essen war gut, aber das war es eigentlich immer. Deswegen ging Lucy sooft es ging ins Mr. B's. Hier fand sie immer einen guten Anfang für die langen Nächte mit Margaritas, die stets folgten. Das Pärchen ihr gegenüber hatte sein Essen mit Heißhunger genossen, so dass sie selbst an frühere Zeiten erinnert wurde, in denen ihr Leben noch aus Eindrücken, Sehnsüchten und Verlangen bestand, anstatt aus Bedürfnissen, Verantwortungen und Schulden.

Die beiden Menschen vor ihr weckten Leidenschaften in ihr, von denen sie gedacht hatte, sie nie mehr zu empfinden. Der Mann ging so zärtlich mit der Frau um, er war so umsichtig mit ihrer Blindheit. Lucy war darauf bedacht, nichts darüber zu sagen, denn es schien ihr angebracht, dieses Thema nicht anzusprechen, obwohl es schwer war, die Tatsache einfach zu ignorieren. Die Frau hatte unglaublich schöne blaue Augen, und es war fast beängstigend, kein Leben darin zu sehen.

Der Kellner brachte Kaffee und Lucy nahm einen langen Schluck. Sie sah es schon kommen, dass sie trotz des Koffeins noch etliche Drinks haben würde, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Aber für einen Moment genoss sie den vollen Geschmack des Kaffees. Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche und griff nach den Streichhölzern auf dem Tisch.

"Stört es Sie, wenn ich rauche?" fragte sie, als sie das Streichholz anzündete. Sie schüttelten gleichzeitig ihre Köpfe, und sie musste lächeln.  Manchmal war ihre Synchronie fast komödiant. Trotz ihrer Versuche hatte sie während des Essens nicht allzu viel aus den beiden herausbekommen. Um ehrlich zu sein, war sie es gewesen, die die ganze Zeit erzählt hatte, inspiriert durch den Alkohol und ihrem angeborenem Redefluss. Sie waren beide recht ausweichend gewesen und hatten die meisten ihrer Fragen mit Gegenfragen beantwortet. Es wird Zeit, dachte sie, als sie einen langen Zug an ihrer Zigarette nahm, dass wir Nägel mit Köpfen machen.

"Sie sind wohl gerade auf einer langen Reise, oder?" fing sie das Gespräch an.

"Woher diese Annahme?" fragte Scully.

"Oh, ich kenne sowas", antwortete Lucy. "Sie stecken so voller Energie. Man muss so etwas nur spüren können. Im Grunde bin ich recht geübt, was Weissagung und Prophezeiung angehen."

"Prophezeiung?" fragte der Mann mit einem skeptischen Ausdruck. Lucy fühlte die Herausforderung und griff in die Tasche an ihrer Seite. "Tarot", sagte sie geheimnisvoll und holte den abgegriffenen Stapel Karten hervor.  "Möchten Sie eine Lesung?"

"Nein, danke", entgegnete der Mann, als die Frau anfing zu kichern.

"Warum denn nicht... Rick?" fragte sie, das Lächeln auf ihrem Gesicht. "Hat dir die Begegnung mit Mr. Bruckman den Rest gegeben?"

Der Mann antwortete nicht, sondern nahm nur einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Als die Frau keine Antwort von ihm hörte, sprach sie weiter.

"Lucy", sagte sie. "Ich hätte gerne eine Lesung. Ich glaube, das kann ganz lustig werden."

Lucy lächelte die Frau an, obwohl sie wusste, dass sie es nicht sehen konnte.  "Worauf Sie sich verlassen können, Schätzchen", sagte sie und begann, die Karten zu mischen. Dann nahm sie die Karten und legte sie in die Hände der Frau. "Halten Sie sie für eine Minute, um ihre Essenz aufzunehmen." Scully nickte und mischte sie ebenfalls.

 

 

 

 

Mulder trank seinen Kaffee, als er beobachtete, wie geschickt Scully die Karten mischte, ohne sie sehen zu können. Übung, nahm er an und dachte an die langen Flüge und Überwachungen, die offensichtlich ihre Spuren hinterlassen haben.

Nach einigen Minuten stoppte Lucy Scullys Hände mit einem sanften Druck an ihren Handgelenken. "Das wird reichen", sagte sie und nahm die Karten wieder an sich. Sie drückte ihre Zigarette aus, mischte die Karten noch einmal durch und teilte den Stapel in zwei Hälften, bevor sie sie wieder in Scullys Reichweite legte.

"Jetzt", erklärte Lucy, als sie die Karten mit dem Bild nach unten in einer Reihe auf den Tisch legte, "suchen Sie sich zehn dieser Karten aus. Tippen Sie einfach die an, die Sie möchten."

Scully nickte und fuhr mit den Händen langsam über die Karten. Von Zeit zu Zeit berührte sie einige davon. Sie biss sich konzentriert auf die Unterlippe und Mulders Mund verzog sich zu einem Lächeln, weil sie es so ernst nahm. Lucy war ebenso konzentriert und plötzlich fühlte sich Mulder an Scullys Schwester Melissa erinnert. Sie hatte an Tarot und Astrologie geglaubt und an all das andere Harmonie-Zeug, das Mulder für kompletten Unsinn hielt. Ihm war auf einmal klar, warum Scully diese Lesung haben wollte.

Als Scully sich zehn Karten ausgesucht hatte, hob Lucy sie auf und legte sie beiseite, bevor sie den Rest wieder zusammenlegte.

"Da Sie mich nichts Bestimmtes gefragt haben, werde ich die Methode des Keltischen Kreuzes anwenden. Ich werde Ihnen eine allgemeine Lesung von Ihrer Zukunft geben."

Sobald die Karten zu Lucys Zufriedenheit arrangiert waren, begann Lucy, sie zu studieren. Um ihren Gedanken auf die Sprünge zu helfen, zündete sie sich eine weitere Zigarette an.

"Was macht sie gerade?" flüsterte Scully ungeduldig Mulder zu.

"Sie liest die Karten", antwortete Mulder ihr und bewunderte die handgemalten Zeichnungen auf den Karten.

"Shhh..." warnte Lucy und warf Mulder einen strengen Blick zu, bevor sie sich wieder den Karten zuwandte. "Ich brauche eine Minute."

Die Minute ging vorbei, genau wie noch einige weitere, bevor Lucy sprach.

"Wir haben hier ein paar sehr interessante Dinge."

"Gute oder schlechte Dinge?" fragte Scully und beugte sich vor, um ihre Antwort besser zu verstehen. "Sagen Sie es mir. Wann haben Sie Geburtstag?" fragte Lucy.

Scully zögerte für eine Sekunde. "Dreiundzwanzigster Februar."

"Ja, das ergibt einen Sinn." Lucy tippte auf die Karten. "Das hier sind Sie... Die Königin der Kelche. Eine mysteriöse Frau, die dazu neigt, viele ihrer Gedanken und Gefühle zu verbergen." Sie hob eine Augenbraue und blickte zu Mulder. "Stimmt das?"

"Definitiv", sagte er und Scully boxte ihm in den Arm.

"Gar nicht wahr", stritt sie mit einem Grinsen ab. "Lesen Sie weiter, Lucy."

"Das ist aber nicht alles, was wir von Ihnen wissen. Diese Karte hier, der Streitwagen, das ist die Stellung der Persönlichkeit. Sie sagt mir, dass Sie einen starken Sinn für Ziele haben... Sie wissen, was Sie wollen und wie Sie es erreichen. Sie haben die Geschicklichkeit, den Mut, die Entschlossenheit und den Willen, die Hindernisse auf Ihrem Weg zu überwinden."

Nichts wahrer als das, dachte Mulder, legte einen Arm um Scully und küsste sie auf die Stirn, als sie näher an ihn heranrückte.

Lucy berührte die nächsten beiden Karten. "Die Kehrseite des Königs der Kelche steht für die Hindernisse und die nächste Karte, die Kehrseite des Hierophanten repräsentiert die Einflüsse in der Vergangenheit. Und beide zusammen... hm, der König steht für einen Mann, vielleicht ein Geschäftspartner, dem man nicht trauen sollte. Jemand, der seine Privilegien und seine Intelligenz zu seinem eigenen skrupellosen Vorteil missbraucht." Sie schüttelte den Kopf. "Sie müssen sich vor ihm in acht nehmen. Konventionelle Mittel werden Ihnen auch nicht helfen, mit dieser Situation fertig zu werden."

Mulder blickte zu Scully. Sie nickte und legte ihre Stirn in Falten, als sie Lucy aufmerksam zuhörte.

"Jetzt... der Zauberstab..." Lucy blickte zu Scully und Mulder und sah einen Funken von Verständnis in ihren Augen. "Dinge, die schon eine Weile her sind. Sie haben viel durchstehen müssen, um an diesen Punkt zu gelangen. Viele Probleme, viele Hindernisse und sehr große Gefahren. Und Sie werden all Ihren Mut brauchen, um weiterzumachen. Sie befinden sich momentan in einer sicheren Lage, aber Sie sollten sich vor weiteren Gefahren in acht nehmen. Seien Sie wachsam, und lernen Sie aus Ihren Fehlern."

 

 

 

 

Auf einmal war sich Scully gar nicht mehr so sicher, dass sie die Lesung weiter hören wollte. Obwohl sie Tarot nicht sonderlich viel Glauben schenkte, waren Lucys Aussagen geradezu unheimlich in ihrer Präzision. Vor allem, weil sie und Mulder während des Essens so wenig über sich verraten haben, oder nicht erwähnt haben, was sie nach New Orleans geführt hatte.  Scully wollte schnell zum Ende kommen und fragte: "Wie viele Karten sind noch übrig?"

"Fünf", sagte Lucy in einem nicht mehr ganz so dunklen Ton. "Diese beiden jetzt... die sind besser."

Mulder sprach als nächstes. "Der Ritter der Schwerter, Zwei der Kelche", las er. "Was bedeuten sie?"

Scully hörte, wie Lucy kicherte. "Witzig, dass Sie das fragen", sagte sie langsam. "Der Ritter ist ein Mann in Lisas Leben... das könnten Sie sein, aber die Stellung der Karte weist auf zukünftige Ereignisse hin, also ist es nicht sicher. Jemand, der intelligent ist, mutig und fähig, der Probleme schnell und effektiv löst. Jemand, der ihr enger Verbündeter sein wird auf der langen Strecke, die vor Ihnen liegt."

"Ich glaube nicht, dass du das bist, Rick", neckte Scully. Sie war froh, dass die dunkle Stimmung vorbei war. "Das klingt überhaupt nicht nach dir."

Sie hörte ihn lachen, als Lucy fortfuhr. "Auch egal", sagte sie. "Diese hier steht ohne Zweifel für Sie beide. Zwei Kelche stehen für eine enge und helfende Partnerschaft, eine Beziehung von zwei Gleichgestellten, die auf Vertrauen und gegenseitigen Verlass aufgebaut ist."

Scully lächelte und fand Mulders Hand unter dem Tisch. Sie nahm sie in ihre und genoss die Wärme seiner Berührung.

"Die letzten drei", kündigte Lucy an, und ihre Stimme wurde wieder dunkler. "Die Kehrseite der zehn Schwerter, in einer zukünftigen Stellung. Das heißt, dass eine schlimme Situation sich noch weiter verschlechtern kann.  Der Krisenpunkt wurde noch nicht erreicht, also müssen Sie auf weitere Schwierigkeiten gefasst sein."

"Was für Schwierigkeiten?" fragte Scully und fühlte einen Wall von Aufregung.

"Das verraten mir die Karten nicht. Es ist leider nur eine allgemeine Lesung." Scully hörte, wie Lucy eine Karte über die Tischoberfläche auf sie zuschob. "Aber diese Karte—Gerechtigkeit. In freiem Raum steht sie für Ihre Hoffnungen und Ängste. Das wollen Sie erreichen, oder?"

Nach einem Moment nickte Scully, aber sagte nichts weiter.

"Sie versuchen, etwas Falsches wieder zu berichtigen. Keine leichte Aufgabe." Scully meinte, einen Hauch von Bewunderung in Lucys Stimme zu hören, als sie fortfuhr. "Es scheint aber, dass Sie ihr Ziel erreichen werden. Die letzte Karte, die sechs Schwerter. Es heißt, dass sie der Gefahr entkommen. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen und nicht alle Ihre Probleme werden auf einmal gelöst, aber die Möglichkeit besteht für bessere Umstände und letztendlich Erfolg."

Es folgte eine lange Stille, die Lucy nach einiger Zeit brach. "Haben Sie irgendwelche Fragen?"

"Nein", sagte Scully langsam. "Ich glaube nicht."

Sie hörte, wie Lucy die Karten wieder in einen Stapel zusammenlegte.  "Vergessen Sie nur nicht", riet sie, "die Auslegung kann Ihnen nur allgemeine Hinweise geben. Den Rest müssen Sie selber interpretieren."

Nach einem Moment hörte Scully das Kratzen des Stuhls auf dem Holzboden, als Lucy aufstand. "Gehen Sie jetzt nach Hause. Es ist spät und ich habe Sie lange genug aufgehalten."

"Wir brauchen noch die Rechnung", sagte Mulder mit einem Gähnen.

"Vergessen Sie die", widersprach Lucy. "Südstaatliche Gastfreundlichkeit, wissen Sie noch?" Sie lachte. "Außerdem bin ich hier Stammkundin, die schon einiges angeschrieben hat."

"Lucy—" begann Scully ihren Einwurf, aber Lucy unterbrach sie durch einen festen Griff an ihrem Handgelenk.

"Ich bestehe darauf", sagte sie mit fester Stimme, die keine Widerrede duldete. "Gehen Sie jetzt, und passen Sie auf sich auf." Scully fühlte einen kurzen warmen Kuss auf ihrer Wange. Dann war Lucy verschwunden.

 

 

 

 

X-5 X-5

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (6/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Scully war während der ganzen Zeit, seit sie das Restaurant verlassen hatten, ungewöhnlich still gewesen und hatte auf seine Fragen nur mit einem Nicken oder mit einsilbigen Worten geantwortet. Mulder respektierte ihre Verschlossenheit, denn er wusste, dass sie über die Lucys Tarot-Lesung nachdachte. Sie dachte darüber nach, was sie hinter sich hatten und was ihnen noch bevor stand. Er saß in dem Taxi ruhig neben ihr, hielt ihre Hand und beobachtete, wie die Straßen an ihnen vorbei sausten.

Sie waren schon die halbe Strecke gefahren, als Scully sprach. "Rick... wir haben noch nie darüber gesprochen, was du heute in der Bibliothek gefunden hast."

"Ach, im Grunde gar nichts", erwiderte er. "Immer wieder derselbe alte Kram. Wir können morgen darüber reden."

Sie zuckte die Schultern und legte ihren Kopf an seine Schulter. "Nichts, worüber man jetzt sprechen könnte?"

Ihre Worte waren ruhig und bedacht, aber er spürte eine Ungeduld darin, einen Versuch, von diesem Thema abzulenken." Er verstand ihre stille Forderung, holte sein Notizbuch aus der Tasche hervor und begann zu blättern. Flüsternd, um nicht den Fahrer mithören zu lassen, las er ihr die Liste vor, die er neu erstellt hatte.

Scully hörte ihm zu, wie er einen Namen nach dem anderen las. "Doraphen, Doxidan, Doxycycline, Doxylin." Sie schüttelte nach jedem den Kopf, denn weder die Namen noch die jeweiligen Abkürzungen erinnerten an das Mittel im Labor.

"Bist du sicher, dass du das jetzt durchgehen möchtest?" fragte er sorgenvoll. Er konnte ihr ansehen, wie müde sie war.

"Was du heute kannst besorgen...." Also fuhr er fort.

"D-penamin, Dramocan, Dronabinol, Droperidol, Droxomin, D-thyroxamin,..."

"Warte mal", unterbrach sie leise. "Noch mal zurück. Was waren die letzten paar?"

Er wiederholte die Namen, etwas langsamer diesmal. "Dronabinol, Droperidol,..."

"Droperidol", echote sie. "Droperidol... was ist die Abkürzung?"

Mulder runzelte die Stirn und sah nach. "Hier steht keine", sagte er. "Ich habe nur den Typ des Opiums aufgeschrieben."

Scully nickte gedankenverloren. Als sie wieder sprach, waren ihre Worte bedacht. "Die Abkürzung *könnte* doch DPD sein, oder?"

"Ist es das, woran du dich erinnerst?" Er konnte die Aufregung kaum aus seiner Stimme verbergen.

"Ich bin mir nicht ganz sicher..." sie beendete den Satz nicht. "Aber...  morgen solltest du dem weiter nachgehen."

Er nickte und antwortete, "Auf jeden Fall."

Sie saßen schweigend nebeneinander, als das Taxi sich seinen Weg durch die vollen Straßen bahnte. Bald erreichten sie die Pension. Mulder half Scully aus dem Wagen und bezahlte die Fahrt. Er führte sie durch die Türe und die Treppen hoch, die zu ihrer Wohnung führten. Scully hielt die ganze Zeit an seinem Arm fest, als sie durch den Korridor gingen, nur als Mulder die Tür zu ihrem Apartment öffnete, löste sie ihren Griff ein wenig.

Sobald die Tür offen war, ging Scully voran. Jetzt, da sie sich wieder in den gewohnten Zimmern befand, war sie sich viel sicherer. Doch bereits auf der Türschwelle hielt sie inne und rümpfte die Nase, als sie einen tiefen Atemzug nahm.

"Mulder", fragte sie, "was ist das für ein Geruch?"

Er zog die Tür hinter sich zu und schnupperte ebenfalls. Alles, was er riechen konnte, war der volle Duft der Gardenien, die er zuvor in eine Vase auf den Küchentisch gestellt hatte. "Die Blumen", sagte er. "Weißt du nicht mehr?"

Scully schüttelte den Kopf, als sie weiter den Raum betrat. "Nein... nicht das. Es riecht irgendwie... würzig. Wie... wie irgendein billiges Aftershave."

Sie machte ein todernstes Gesicht, und sie schien sich absolut sicher zu sein. Er roch noch einmal. Immer noch nahm er nur den Geruch der Blumen wahr. "Ich rieche nichts, Scully", sagte er.

Er hatte Durst und ging in die Küche, als sie ins Wohnzimmer ging. Auf einmal ertönte ein lautes Krachen und er hörte Scully leise fluchen. Wie der Blitz war er im Wohnzimmer und sah sie neben dem Kaffeetischchen knien.  Er lief zu ihr und hockte sich neben sie. "Scully! Alles in Ordnung?" sprudelte er hervor.

"Ja, alles klar", antwortete sie und ließ sich von Mulder aufhelfen. Ihre nächsten Worte waren nicht lauter als ein Flüstern. "Mulder... der Tisch stand noch nicht hier, als wir gegangen sind. Jemand ist hier drin gewesen." Etwas in ihrer Stimme ließ ihn glauben, was sie behauptete, obwohl er nicht fand, dass das Zimmer auf irgendeine Weise anders war als zuvor. "Warte hier", flüsterte Mulder und nahm seine Waffe aus dem Holster an seiner Hüfte. Sie nickte und er stand auf. Vorsichtig inspizierte er das Apartment. Er sah in allen Zimmern nach, sogar im Wandschrank und hinter jeder Türe. Er bemerkte nichts, das ihm anders oder ungewöhnlich erschien.  Nichts, das auf die Anwesenheit eines Eindringlings weisen würde.

Er ging wieder zu Scully, die immer noch auf dem Boden neben der Couch saß und legte seinen Arm um ihre Schultern. "Es ist niemand hier", sagte er versichernd. "Ich habe überall nachgesehen."

Scully zögerte. "Hast du sie?"

Mulders Hand fuhr automatisch in seine Hemdtasche, trotzdem er schon alleine durch das Gewicht der kleinen Diskette wusste, dass sie da war. "Ja", sagte er. "Ich hatte sie die ganze Zeit bei mir."

"Gut", seufzte sie und entspannte sich. "Aber es *war* jemand hier." Sie ließ sich nicht beirren. "Ich weiß es."

Das beunruhigte Mulder. In den letzten drei Jahren hatte er niemand anderem außer ihr vertraut. Und wenn sie behauptete, dass jemand in dem Zimmer gewesen war, glaubte er ihr. "Wir checken gleich morgen früh aus", war alles, was er sagte.

 

 

 

 

Scully lag im Bett, als Mulder die Dusche abstellte. Gleich darauf hörte sie, wie er aus dem Badezimmer kam und die Tür hinter sich zuknallte. Seine Schritte führten ins Schlafzimmer und sie hörte, wie er in der Schublade nach einem geeigneten Schlafanzug suchte. Sie hatte immer noch Herzklopfen wegen ihrem Verdacht, dass sich jemand bei ihnen eingeschlichen hatte. Es hatte sie mehr aus der Ruhe gebracht, als sie zugeben wollte. Und doch wollte ein Teil von ihr sich dieser Furcht nicht unterwerfen, jetzt, wo sie so nahe dran waren, zumindest einen Teil der Antwort zu bekommen auf die Frage, die sie quälte.

"Mulder", begann sie. "Vielleicht sollten wir morgen früh doch noch nicht fahren."

Er wartete eine Sekunde ab, bevor er antwortete. "Scully... wenn jemand hier drin gewesen ist, wie du behauptest, sollten wir nicht länger hierbleiben als nötig."

"Aber du hast nichts bemerkt, als du nachgesehen hast", widersprach sie.

"Und hast du nicht immer gesagt, dass es besser ist, bei Nacht zu fahren?"

Sie hörte, wie die Schublade zuknallte. "Ja. Dann sind nicht so viele Leute draußen und die Chance, erkannt zu werden, ist geringer."

"Also sollten wir doch besser warten." Scully wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht aus. "Du könntest morgen wieder in die Bibliothek gehen und nach Informationen über Droperidol suchen. Und vielleicht noch wegen den anderen Mitteln nachgucken. Und dann können wir morgen Abend fahren."

Es war so still, dass sie ihn atmen hören konnte. Er dachte nach. "Ich weiß nicht, ob es das Risiko wert ist."

"Mulder, hör zu", argumentierte sie. "*Wenn* jemand hier gewesen ist, hat er bestimmt schon alles durchsucht und nichts gefunden. Er kommt bestimmt nicht mehr zurück."

Sie hörte, wie er näher ans Bett trat und eine plötzliche Aufregung überkam sie, die nichts mit einem möglichen Eindringling zu tun hatte. Durch seine Nähe begann ihr Herz wieder wie wild zu schlagen, so dass sie kaum seine Antwort wahrnahm. "Lass uns darüber schlafen", sagte er. "Morgen sehen wir weiter."

Scully schwieg und nickte. Innerlich ärgerte sie sich über ihre alberne Nervosität. Es war ja nicht so, dass er in den letzten Wochen nicht jede Nacht neben ihr im Bett verbracht hatte. Aber heute war etwas anders. Etwas, das sie innerlich vollkommen aufwühlte.

Sie hörte das Klicken des Schalters, als er das Licht löschte und fühlte dann, wie er die Decke hochhob, um neben sie zu schlüpfen. Er blieb jedoch am äußersten Rande des Bettes. Scully lag still, atemlos, und versuchte, sich zu entspannen. Aber sie konnte es nicht.

Nach einem Moment fühlte sie, wie er näher rückte. Sie hörte ein leises Rascheln, als er seien Arm unter ihr Kopfkissen schob und merkte, wie Panik und Aufregung zugleich in ihr aufstiegen.

"Ist das... okay?" fragte er und ein Zittern in seiner Simmer verriet, dass er genauso nervös war wie sie.

"Ja", sagte sie mit einem leisen Lachen.

"Was ist denn so lustig?" fragte er und rückte unmerklich noch näher.

"Gar nichts", erwiderte sie und fühlte seine Wärme. "Es ist nur...  ungewohnt, das ist alles."

Er seufzte und legte seinen Arm um ihre Schulter. Sanft zog er sie näher an sich heran und ihre Wange strich gegen sein T-Shirt. "Man muss sich erst daran gewöhnen... oder?"

Sie antwortete nicht, sondern atmete tief durch und genoss es, wie sein Geruch sie erfüllte. Leise fügte er hinzu: "Das ist in Ordnung. Wir haben eine Menge Zeit."

Der Ton seiner Stimme verriet bereits seine Absicht, noch bevor sie seine Finger an ihrem Kinn spürte und er ihren Kopf anhob. Sie fühlte, wie sich seine Lippen über ihren schlossen und erzitterte. Sie merkte, dass ein Teil von ihr bereits den ganzen Abend auf seine Berührung gewartet hatte, und sie erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich. Sie schmeckte seine Zunge, als er ihren Mund erkundete und sog vollends das Versprechen in sich auf, das sein Kuss trug—

< alleswirdgutichbinhierbeidirandeinerseiteegalwaspassiert >

ein Versprechen, auf das sie mit einem leisen Stöhnen antwortete und sich näher an ihn schmiegte.

 

Viel zu früh hörte er auf und strich sanft über ihre Stirn, als er sie in seine Arme schloss. "Gute Nacht, Dana", murmelte er, seine Worte ein flüsterndes Kitzeln in ihrem Ohr.

"Gute Nacht", sagte sie. Sie presste ihre Wange an seine Brust und ließ sich von dem rhythmischen Schlagen seines Herzens in den Schlaf lullen.

 

 

 

 

 

Mulder betrat die Bibliothek und stieg die Treppen von dem kleinen Foyer zu der Lobby des Gebäudes hoch. Nachdem er den Metalldetektor passiert hatte, bahnte er sich einen Weg durch die Gruppe Menschen, die wartend an der Ausleihtheke standen, zu der Reihe der Räume, in denen die Bücher standen, die er brauchte. Mit jedem Schritt fragte er sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.

Während des Frühstücks hatten sie alle Möglichkeiten noch einmal durchgesprochen. Er hatte ein paar Rühreier und eine Kanne Kaffee gemacht, die sie unter sich aufgeteilt hatten, als sie darüber redeten. Die Nacht war ohne Zwischenfälle vergangen, was Scullys Behauptung, es sei alles in Ordnung, bekräftigte. Scully war sich nicht mehr so sicher, was ihre Ahnung am Abend zuvor betraf und sie meinte nun selbst, sich geirrt zu haben. Er empfand es nicht so nach dem Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen, als sie am Tag zuvor die Wohnung betreten hatten. Aber auf der anderen Seite hatte er keinerlei Anzeichen eines Eindringlings ausmachen können, nichts, was in irgendeiner Weise verdächtig schien. Die Schlösser an Türen und Fenstern waren in optimaler Verfassung und wiesen keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf.

Und irgendwann, zwischen der zweiten und dritten Tasse Kaffee, hatte er nachgegeben und ihrem Vorschlag zugestimmt, erst am Abend zu fahren. Sie hatten den Vormittag damit verbracht, ihre wenigen Sachen zu packen und in dem Straßenatlas, den er kürzlich erst gekauft hatte, nach einem geeigneten Ort und Weg zu suchen.

"Sollten wir uns einen anderen Wagen zulegen?" fragte sie und setzte sich aufs Bett, als er damit beschäftigt war, ein paar Hemden zu falten.

"Nein", gab er zur Antwort. "Dafür haben wir keine Zeit. Außerdem haben wir im Moment nicht das Geld dafür. Die Einsamen Schützen würden zu lange brauchen, um uns etwas zuzuschleusen."

Sie hatte nur genickt und war in Gedanken versunken. Nach einer Weile musste sie die Frage stellen, die sie schon seit einiger Zeit beschäftigte, doch sie konnte nur schwer die passenden Worte dafür finden. "Mulder... woher nehmen sie das Geld? Unsere Konten sind doch stillgelegt. Ist es...  gestohlen?"

Er wollte es ihr eigentlich nicht sagen und ihrer Frage wie sooft ausweichen, aber sie hatte auf eine Antwort bestanden, also hatte er mit einem Seufzen nachgegeben.

"Als... mein Vater gestorben ist... hat er mir eine gewisse Geldmenge hinterlassen. Ich habe es auf einem Nummernkonto unter anderem Namen." Er hatte gezögert, bevor er weitere Worte fand. "Ich habe es gespart... für Samantha. Byres... kennt den Zugang."

Mit diesen wenigen Sätzen hatte er sein Geheimnis preisgegeben. Aus irgendeinem Grund wollte er es ihr nicht sagen, aber jetzt wusste sie Bescheid.

Sie hatte nicht geantwortet und war dann aufgestanden und im Nebenzimmer verschwunden. Für eine Sekunde wollte er ihr nachgehen, aber etwas hielt ihn zurück und so fuhr er fort, ihre Sachen zusammenzulegen.

Als alles im Schlafzimmer fertig gepackt war, wollte er schon ins Badezimmer, um dort die Sachen einzusammeln, doch ein Blick auf die Uhr stoppte ihn. Stattdessen ging er ins Wohnzimmer, wo er sie auf der Couch sitzen sah, die Beine ausgestreckt auf dem Tisch vor ihr.

"Ich sollte mich langsam auf den Weg machen", hatte er gesagt, worauf sie nickte. "Es wird nicht länger als zwei Stunden dauern, denke ich. Wenn ich wiederkomme, packe ich noch den Rest zusammen, und wir verschwinden von hier."

"Okay", hatte sie geantwortet. "Ich warte dann hier."

Er hatte sie schnell in die Arme genommen, um sie ein wenig aufzumuntern, aber ohne Erfolg. "Sei vorsichtig", hatte sie gesagt, und er strich ihr mit der Hand durch das Haar.

"Das werde ich", hatte er ihr versichert und ging. Kurz bevor er die Türe hinter sich geschlossen hatte, hatte er leise ihre Stimme gehört.

"Danke, Mulder."

Er hatte beim besten Willen nicht gewusst, was er ihr antworten sollte, also hatte er sich für etwas Einfaches, wenn auch Unangebrachtes entschieden.

"Keine Ursache."

In diesen Gedanken verloren lief Mulder glatt an den Regalen vorbei, in denen die Bücher standen, die er brauchte, also musste er den Weg noch einmal zurückgehen. Er durchsuchte etliche Regale und wurde schließlich fündig. Er zog das Buch aus dem Regal und verzog das Gesicht, als er merkte, wie dick und schwer es war. Mit seinem Fund unter dem Arm ging er zu der Tischgruppe am anderen Ende des Raumes. Er fand einen leeren Tisch und als er den Stuhl zurückschob, um sich hinzusetzen, bemerkte er die rothaarige Bibliothekarin, die wieder an der Ausgabetheke am Eingang saß.  Als sie ihn freundlich anlächelte nickte er ihr kurz zu.

 

 

 

 

 

Scully saß mit gekreuzten Beinen auf dem Dach und ließ den Wind durch ihr Haar wehen. Sie war müde. Nicht gerade schwach, aber doch irgendwie erschöpft. Wie ein Stück elastisches Band, das man weiter auseinandergezogen hatte, als es eigentlich aushielt. Sie atmete lang und tief durch und versuchte, wieder Klarheit in ihre wirren Gedanken zu bringen.

Ein Teil von ihr wünschte sich sehnlichst, eine Möglichkeit zu finden, diesen Wahnsinn zu beenden. Sich zu stellen und einen Weg zu finden, die Verbrechen, für die sie beschuldigt wurde, zu erklären und nichtig zu machen. Um Mulder von dem zu befreien, von dem sie fürchtete, dass es seine ewige Verpflichtung für ihn werden würde. Doch ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass es ihr ohne handfeste Beweise nie gelingen würde, ihren Namen reinzuwaschen und alle Beteiligten ihre missliche Lage vergessen zu lassen. Ohne Beweise gab es keine Gerechtigkeit. Sie würde keine Möglichkeit haben, dem engen Netz derer zu entfliehen, von denen sie nicht einmal die Namen kannte. Und tief in ihrem Innern wusste sie, dass selbst wenn sie letztendlich die Wahrheit finden würde, die sie suchte, es vielleicht nicht genug sein würde. Sie war immerhin schon einmal sehr nahe dran gewesen, aber nicht nahe genug, um andere davon zu überzeugen.

Scullys Gedanken wanderten zurück zu Mulder. Er war ihr Freud, ihr Partner, ihr engster Verbündeter. Und jetzt vielleicht noch etwas mehr. Sie war sich schon lange der engen und vertrauensvollen Verbindung bewusst, die sie zwischen sich aufgebaut hatten. Eine Verbindung, von der sie sich einmal nicht hatte vorstellen können, dass es sie geben könnte. Während der letzten drei Jahre hatte sie sich auf seinen Instinkt und seine Klugheit verlassen, auf seine Führung und auf seine Ratschläge, als sie versuchten, das Unmögliche zu erreichen auf einem Weg zu einem unbekannten Ziel. Sie vertraute ihm bedingungslos auf einer Ebene, die nicht mehr mit Worten auszudrücken war.

Aber nun war alles anders. Ihr beider Leben hatte sich verändert, es würde vielleicht nie mehr wieder dasselbe sein. Ihr Leben hatte sich durch sie verändert, durch das, was sie getan und gesagt hatte. Es gab keinen Weg mehr, etwas daran zu ändern. Und keine Möglichkeit wieder das gut zu machen, wovon sie meinte, dass sie es ihm schuldig war.

Für ein paar Sekunden hörte sie laute Musik, als ein Auto unten auf der Straße vorbeifuhr, und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Das Lied kam ihr bekannt vor, und ihr Gesicht erhellte sich für einen Augenblick, als sie daran dachte, wann sie es zum letzten Mal gehört hatte. Es erinnerte sie an zu Hause und sie verspürte einen plötzlichen, dumpfen Schmerz, als sie sich zurück versetzt fühlte in das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte.

Von diesem Leben war ihr nichts mehr geblieben. Nichts und niemand außer Mulder. Der einzige Mensch, der diese Fremde verstand, die sie empfand, weil er ihre Einsamkeit mit ihr teilte. Der Schmerz wich langsam von ihr, als sie an ihn dachte, an die Stärke und den Mut, den er ihr jedes Mal verlieh, wenn er ihre Hand nahm. Sie beneidete seine Ausdauer und sein Durchhaltevermögen und verfluchte ihre Hilflosigkeit und diese neue Unsicherheit, die sie zutiefst verachtete. So sehr wie sie ihn brauchte, so sehr wie sie bei ihm sein wollte, so sehr hatte sie auch Angst. Angst, dass wenn sie bei ihm blieb, er langsam aber sicher seine letzte Kraft verbrauchen würde. Angst, dass sie ihm nichts für seine Hingabe geben könnte.

Die Stimme des Jungen schreckte Scully auf. "Lisa? Sind Sie da oben?"

"Ja", rief sie zurück, froh über die Unterbrechung. Sie hörte das Scheppern seiner Schritte auf der Feuerleiter und dann das leisere Geräusch seiner Schritte, als er über das Dach näher kam.

"Hallo", grüßte er. "Ich habe heute einen neuen Korb für mein Fahrrad bekommen."

"Wirklich?" Scully lächelte in seine Richtung. "Wie groß ist er?"

Der Junge ließ sich neben sie fallen und seufzte. "Es geht einiges rein. In dem Laden war ein noch größerer, aber er hat zwanzig Dollar gekostet, und ich hatte nur vierzehn."

"Größer ist nicht unbedingt besser", sagte Scully langsam.

Sie hörte, wie er grinste, als er antwortet. "Finde ich auch."

Sie unterhielten sich für eine Weile über einige Sachen und fielen dann in angenehmes Schweigen, das sie letztendlich mit einer Frage unterbrach.  "Charlie, weißt du, wie spät es ist?"

"Klar", sagte er und sie hörte das Rascheln seiner Jacke, als er den Ärmel hochschob. "Ähhmm... es ist fast vier." Er seufzte abermals, diesmal reuevoll. "Ich glaube, ich sollte langsam gehen. Ich muss noch die Hausarbeit erledigen."

"Also dann", sagte sie und hörte, wie er aufstand.

"Wir sehen uns morgen", sagte er, doch Scully schüttelte den Kopf.

"Nein", sagte sie. "Ich werde morgen nicht hier sein."

Der Junge schwieg für einen Moment und seine Enttäuschung war fast offenkundig. "Hmm", sagte er schließlich. "Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie irgendwann gehen müssen."

"Auf Wiedersehen, Charlie", sagte Scully und streckte ihre Hand aus. Er nahm sie und schüttelte sie leicht. Dann beugte er sich herunter und überraschte sie, indem er seine Arme um ihren Hals legte und sie mit seinem festen Kindergriff umarmte. Sie roch den schwachen Duft von Erdnussbutter und lächelte. Seine Umarmung war auf ihre Weise zärtlich und sie umarmte ihn ebenfalls.

Dann löste er sich von ihr und sagte leise. "Ich bin froh, dass ich Sie getroffen habe, Lisa."

"Ich bin auch froh, dass ich dich getroffen habe", antwortete sie und lauschte seien leiser werdenden Schritten.

 

 

X-6 X-6

 

 

 

 

Auf geht's in die zweite Halbzeit! Danke an alle, die es bis jetzt mit mir ertragen haben... :)  Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein großer Fan von Filmen bin, und zwei meiner Lieblingsschauspielerinnen sind Les Dames Hepburn—Kate und Audrey. Ich habe Kate noch keine Geschichte gewidmet geschrieben, aber das hier ist meine zweite Hommage an Audrey. Zwar sind die Worte und die Handlungen ihn dieser Geschichte =ganz und gar= meine Kreation, aber ich muss Frederick Knott für das Drehbuch und Terence Young für die Direktion des Films danken, der mich hierzu inspiriert hat. Doch das größte Dankeschön geht an Audrey selbst, die einzig und alleinige "World Champion Blind Lady"... :)

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (7/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Mulder blätterte die Seite in der Zeitschrift um und überflog rasch die Wörter vor seinen Augen. Er hatte seine Nachforschung damit begonnen, unter dem Stichwort Droperidol nachzuschlagen, dem Mittel, das Scullys Interesse am Abend zuvor geweckt hatte. Aber er hatte nichts darüber hinaus gefunden, was er bereits schon wusste. Es war ein nicht allzu seltenes Beruhigungsmittel. Er hatte weiter unter anderen Namen auf seiner relativ kurzen Liste nachgeschlagen, und hatte wieder feststellen müssen, dass nichts, was er las, sonderlich relevant war.

Er hatte ein weiteres Buch aus dem Regal geholt, ein dickeres und detaillierteres, und hatte von vorne angefangen. In diesem Buch hatte er den Verweis auf diese Zeitschrift gefunden, in der der Artikel stand, den er nun gierig verschlang.

"Das Opiat Droperidol ist dem Morphin ähnlich, aber es hat eine weitaus stärkere Wirkung. Während des Vietnamkrieges wurde es dazu verwendet, Gefangene ruhig zu halten, und wahrscheinlich auch während der Nazi-Experimente im zweiten Weltkrieg." Mulder übersprang einige Absätze, bevor er eine weitere Notiz auf seinen Block kritzelte.

"Bei Verabreichung einer gewissen Menge fällt der Körper in ein komatöses Stadium, das ohne Probleme durch nachträgliche Injektionen aufrecht erhalten werden kann. Anders als andere Beruhigungsmittel, die in kleinen Dosen verabreicht werden, ist Droperidol fast überhaupt nicht im Blut nachzuweisen, wenn nicht spezielle Tests durchgeführt werden. Der Körper kann auf unbestimmte Zeit in diesem Zustand gehalten werden, wenn er an lebenserhaltenden Systeme angeschlossen ist. Die Gefahr hierbei liegt in der genauen Dosierung, die stark genug ist, um das komatöse Stadium aufrechtzuerhalten, aber nicht stark genug, um zu töten."

Mulder ließ den Stift auf den Tisch fallen, unachtsam dessen, dass er auf den Boden rollte. Übelkeit überkam ihn und er hielt sich den Bauch. Ihn überkam die schockierende Gewissheit, dass diese Droge ein Bestandteil des Mittels war, das Scully in dem Labor gesehen hatte.

Ein Teil des Mittels, das sie ihr gegeben haben, als sie sie entführt hatten.

Ein Teil des Mittels, das sie fast in den Tod getrieben hatte.

Das Mittel, das sie ihr nicht mehr gegeben haben, als sie sie in der Intensivstation des George Washington Krankenhauses gebracht hatten, nachdem die Tests, oder was immer es auch war, beendet waren.

Wut begann in ihm aufzusteigen und er erneuerte seinen Schwur, die Wahrheit zu finden, herauszufinden, wer für all das verantwortlich war, so dass sie bezahlen mussten.

Mulder fuhr mit dem Finger die Spalten herunter bis zu der Liste der Verweise am Ende des Artikels. Er hob den Stift wieder auf und schrieb alle auf. Dann stand er auf und lief zu der Bibliothekarin an der Ausgabetheke.

"Ich brauche sofort Kopien von diesen Artikeln", verlangte er und verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. Die rothaarige Frau schien ein wenig erschrocken und er verbesserte seinen Tonfall. "Es ist wichtig...  bitte."

"Kein Problem", antwortete sie und nahm seinen Notizzettel entgegen. "Ich bin gleich zurück."

Mulder nickte und sie verschwand im Hinterzimmer. Er stützte seine Ellbogen auf die Theke und vergrub sein Gesicht in seinen Händen, als er versuchte, die Energie seiner Wut in etwas Produktives umzulenken. Er wollte sie nicht seine Selbstkontrolle zerstören lassen.

Als die Frau mit einem Stapel Blätter zurückkam, hatte er sich wieder gefasst und dankte ihr mit einem kleinen Lächeln.

 

 

 

 

Scully zog die Tür des Treppenhauses hinter sich zu und überzeugte sich von dem klickenden Einrasten, dass sie auch wirklich geschlossen war, bevor sie vorsichtig wieder zurück in den Korridor ging. Ihre Finger strichen an der Wand entlang, um die Wohnungstüren zählen zu können. An der zweiten machte sie halt und kramte in der Hosentasche nach dem Schlüssel.  Sie zog ihn heraus und musste ein wenig herumprobieren, bis sie das Schlüsselloch fand. Ihre empfindlicher gewordenen Ohren achteten auf das Geräusch des Riegels, als er sich zurückschob. Mit einem erleichterten Seufzen öffnete sie die Tür. Wieder zu Hause, in einem Stück!

Als sie in das Apartment trat, tastete Scully nach der Tür, die sie hinter sich zudrückte. Sie war nur zwei Schritte gegangen, als sie es roch.

Diesen würzige Geruch, den sie auch am Abend zuvor gerochen hatte.

Ein Geruch, der sie an ein billiges Rasierwasser erinnerte.

Scully war zu Tode erschrocken. Sie fühlte, wie ihr Herz plötzlich anfing, mit rasender Geschwindigkeit zu hämmern. Sie zitterte.

Jemand war wieder in ihrer Wohnung gewesen.

Jemand, der immer noch hier sein könnte.

So leise wie möglich trat Scully zurück und tastete nach dem Türgriff. Nach einigen Versuchen fand sie ihn mit zitternden Händen. Sie öffnete die Tür und trat zurück in den Korridor. Dann schloss sie sie wieder, blieb stehen und versuchte, ihre Nerven soweit zu beruhigen, um nachzudenken.

Vier Uhr. Charlie hatte gesagt, dass es fast vier Uhr sei. Mulder war kurz nach drei gegangen. Das heißt, er würde noch mindestens eine Stunde weg sein. Sie wollte auf keinen Fall wieder in die Wohnung gehen, aus Angst, dass wer immer auch diesen Hauch von Cologne hinterlassen hatte, immer noch da sein könnte.

Scully versuchte, die Welle von Panik, die sie zu übermannen drohte, zu unterdrücken und ging zu dem nächsten Apartment auf der Etage. Sie klopfte einige Male, lautes, energisches Hämmern, das Antwort erwartete. Aber sie erhielt keine Antwort. Langsam ging sie wieder den Gang hinunter und stieg die Treppen herunter. Unten klopfte sie an die beiden Apartments, doch wieder blieb alles still. Niemand antwortete auf ihr drängendes Hämmern.  Soweit sie wusste, war nichts als Stille hinter allen Türen.

Telefon!, schoss es ihr durch den Kopf. Finde ein Telefon und ruf ihn an, rufe nach Hilfe. Sie verfluchte die Tatsache, dass es in ihrer Wohnung kein Telefon gab. Sie wollten das Risiko des Papierkrams nicht eingehen, der bei der Installation eines solchen unvermeidlich war. Scully ging zur Vordertür des Hauses, die auf die Straße führte und hielt an, als sie das Glas der Türe glatt und kühl an ihren Händen spürte. Sie drückte sie auf, doch zögerte. Im ersten Moment war sie wie überfallen von dem Lärm auf der Straße. Es schien ihr, als ob die Straße nur so von Leuten in lebhafte Gespräche versunken wimmelte und sie konnte nicht weit von ihr den Verkehr hören.

Scully debattierte einen langen quälenden Moment darüber, geradewegs in die Menschenmenge zu gehen und versuchen, ein Telefon zu finden. Aber die Geräusche um sie herum machten sie fast taub, und ohne Mulder an ihrer Seite, waren sie geradezu angsteinflößend. Was, wenn der Mann mit dem Cologne jetzt draußen steht und auf sie wartet? Was, wenn er nicht allein war, wenn er in der großen anonymen Masse noch Komplizen hatte?

Plötzliche Furcht überkam sie und sie schlug die Glastür vor sich zu. Sie lehnte sich gegen die Wand und versuchte ihren Atmen wieder zu beruhigen.

Denk nach, verdammt, denk nach, schrie die Stimme in ihrem Kopf. Einen Moment später fiel ihr etwas ein, und mit plötzlicher Klarheit, ging sie wieder zurück die Treppen hinauf, vorsichtig auf jeden ihrer Schritte achtend, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren

 

 

 

 

 

Charlie fuhr mit der Harke durch das Laub und amüsierte sich über das Muster, das er damit geschaffen hatte. Er wusste, dass er trödelte, aber er genoss die beruhigenden, langen Züge, mit denen er die Blätter durchkämmte, obwohl sie ihn eigentlich nur aufhielten. Die Blätter raschelten unter dem Druck des Gerätes, und er beschloss, später aufzuschreiben, dass der Herbst definitiv seine Lieblingsjahreszeit war.

Nachdem er einen zufriedenstellenden Blätterberg an einem Ende zusammengehakt hatte, begab sich Charlie zu dem anderen Ende und arbeitete sich langsam quer über den Hof. Er war schon halbfertig mit der zweiten Seite, als er hörte, wie jemand ihn von dem Dach des Nachbarhauses rief.

"Charlie! Charlie, bist du da unten?"

"Ja, hier!" rief er ein wenig überrascht zurück. Sie hatte ihr noch nie gerufen. Vielleicht musste sie ja gar nicht fort, fiel es ihm ein und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

"Kannst du hier heraufkommen?" Es lag etwas Drängendes in ihrer Stimme, das eine schnelle Antwort verlangte.

"Klar", rief Charlie zurück, ließ die Harke fallen und lief zu dem Zaun. Er kletterte mit Hilfe der Vorsprünge in dem Holz hinauf und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Mit dem Hebel an der Wand zog er die Feuerleiter herunter und schwang sich auf die erste Sprosse. Schnell kletterte er nach oben.

Sie wartete auf dem Dach auf ihn mit einem Gesichtsausdruck, der überhaupt nicht der ruhigen Gelassenheit entsprach, die er immer mit ihr assoziierte.  "Charlie... ich brauche deine Hilfe."

"Sicher", sagte er und fühlte sich geschmeichelt. "Haben Sie wieder ihren Schlüssel verloren?"

"Nein." Sie schüttelte energisch den Kopf. "Erinnerst du dich an den Mann, mit dem ich hierhergekommen bin?"

Er nickte und merkte dann, dass sie seine Antwort gar nicht sehen konnte.

"Ja, der Mann mit dem Bart."

"Ja", sagte sie. "Du musst ihn finden. Du musst ihn herbringen."

Charlie dachte eine Sekunde lang nach. "Ja, okay. Wo ist er?"

Sie nahm einen tiefen Atemzug und ihre nächsten Worte waren leiser. "In der Bibliothek... die Bibliothek der Tulane Universität." Sie legte die Stirn in Falten und sah besorgt aus. "Weiß du, wo das ist?"

"Natürlich", sagte Charlie stolz. "Ich war schon ein paar Mal auf dem Campus."

"Gut." Sie nickte und er war froh über ihre Erleichterung. "Wie weit ist es?"

Charlie überlegte. "Ähhmm... mit der Straßenbahn etwa eine halbe Stunde. Aber mit dem Fahrrad schaffe ich es vielleicht in einer Viertelstunde."

Die Frau nickte abermals und kniete sich neben ihn. Sie tastete nach seinen Schultern und hielt ihn fest. "Es ist *sehr* wichtig für mich, verstehst du?"

Ihr leerer Blick, der auf einen Punkt irgendwo über seiner Schulter gerichtet war, brachte Charlie ein wenig durcheinander, aber er zwang sich zur Konzentration. "Ja", war alles, was er sagte.

"Sein Name ist Rick. Rick Wilder. Du musst ihn finden und du musst ihn hierher schicken. Schnell."

Charlie zögerte. Er wollte ihr helfen, aber er musste an seinen Vater denken. Niemand konnte seinen Vater dazu bringen, etwas zu tun, mit dem er nicht einverstanden war. "Was ist, wenn er nicht mitkommen will?" Er hielt inne. "Ich meine, er kennt mich nicht einmal. Was ist, wenn es mir nicht glaubt, dass es wichtig ist?"

"Es wird es dir glauben..." sagte sie und er konnte ihr ansehen, dass sie auch darüber nachdachte. Dann griff sie unter ihr Hemd und holte ein kleines goldenes Kreuz an einer Kette hervor. Sie tastete nach dem Verschluss und öffnete ihn. Sie fand Charlies Hand und gab ihm die Kette.  "Gib ihm das, und er wird wissen, dass du die Wahrheit sagst."

"Okay." Mit einem Male fühlte sich Charlie sehr wichtig. Er hatte noch nie so empfunden. Er nahm die Kette und steckte sie vorsichtig in seine Hosentasche. "Ich schaffe es schon, das verspreche ich."

"Gut", sagte sie. "Ich verlasse mich auf dich." Geschwind umarmte sie ihn, worauf er vor Freude rot anlief. Sie brauchte ihn, sie hatte ihn ausgewählt, und er würde sie nicht im Stich lassen.

"Ich bin bald zurück", sagte er und rannte zu der Feuerleiter. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, und als er unten angekommen war, machte er sich nicht die Mühe, die Leiter wieder hochzustecken. Er lief in die Garage, zog sein Fahrrad heraus und bewunderte seinen neuen Korb, als er aufsprang und sich auf den Weg zur Universität machte.

 

 

 

 

 

Karen blätterte die Seite in ihrem Buch um und seufzte. Das Kapitel über kognitive Dissonanz hatte so interessant begonnen, als sie es vor einer Stunde anfing zu lesen. Doch jetzt war es todlangweilig. Sie blickte wieder auf die Uhr. Es war nicht einmal viertel nach vier. Noch fast drei Stunden bis zum Ende ihrer Schicht, bis sie hier raus konnte und sich endlich das Bier gönnen konnte, auf das sie sich schon seit dem Mittag freute.

Sie seufzte abermals und zwang ihre Augen dazu, sich wieder dem Text zuzuwenden. Aber einen Moment später wanderten sie wieder zu dem Mann an dem Tisch in der hinteren Ecke. Sie hatte sich gefreut, dass er heute wieder gekommen war und hoffte sogar, dass sie ihn überreden könnte, mit ihr zusammen das Bier trinken zu gehen. Aber er war viel zu unfreundlich zu ihr gewesen, als er an den Empfang gekommen war, so dass sie sich nicht getraut hatte, mit ihm zu flirten. Was auch immer er gerade las, er war so im Banne davon, dass sie ihn die ganze Zeit offen anstarren konnte, ohne fürchten zu müssen, dass er es bemerkte.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus den Gedanken und sie hob vor lauter Schrecken erst nach dem zweiten Klingeln ab. "Bibliothek", meldete sich Karen. Es war ein kurzer Anruf, der lediglich eine kurze Antwort ihrerseits erwartete, doch er brachte Karen erheblich aus der Fassung. Sie notierte die Nachricht wie ihr geheißen und legte verärgert den Hörer wieder auf die Gabel.

Ich hätte es wissen müssen, dachte Karen, als sie um die Theke ging und auf den Mann zu, der alle möglichen Artikel vor sich auf dem Tisch herumliegen hatte. Wieder ein Beispiel des Maxims, das sie inzwischen als Tatsache akzeptiert hatte: alle interessanten Männer waren entweder verheiratet oder schwul.

"Entschuldigung." In Achtung der Bibliotheksregeln und um ihn nicht aus seiner Konzentration zu reißen, sprach sie leise. "Sind Sie Rick Wilder?"

Der Mann sah auf und sie konnte sehen, dass sich seine Augen mit plötzlicher Unruhe füllten. Sie bereute sofort ihre seltsame Eifersucht, die sie zuvor überkommen hatte. Er zögerte einen Moment und antwortete dann. "Ja...  warum?"

"Ich habe eine Nachricht für Sie", teilte sie ihm mit und sah auf den Zettel in ihrer Hand. "Der Vermieter ihres Hauses... ein Mr. Fontaine? ...  hat gerade angerufen. Er sagte, dass es einen Unfall gegeben hat. Ihre Frau wurde in ein Krankenhaus eingeliefert."

Der Mann sprang auf und riss dabei den Stuhl um. "In welches Krankenhaus? Wo?" rief er laut und seine Stimme veranlasste einige der Studenten dazu, verärgert aufzuschauen. Der Ausdruck in seinen Augen erschreckte Karen. Er war dunkel und angsterfüllt, doch Karen nahm darunter noch ein erschreckendes Maß an Schuldgefühlen wahr.

"Das Baptist Krankenhaus", beeilte sie sich auf sein Drängen hin zu antworten. Er griff nach ihrem Arm und hielt ihn fest. "St. John's", brachte sie hervor.

"Wo ist das? Wie weit?"

Karen bemühte sich nachzudenken und konsultierte ihren inneren Stadtplan.

"Am Fluss", antwortete sie. "Mit dem Taxi vielleicht zehn Minuten."

Der Mann nickte, griff nach seinem Notizblock und steckte ihn in die Hosentasche. Das Durcheinander der Blätter, die er mit umgerissen hatte, zu seinen Füßen beachtete er gar nicht. "Was ist passiert? Hat er was gesagt?"

"Nein", antwortete sie und wünschte sich plötzlich ihm mehr sagen zu können. "Er hat nur gesagt, dass sie in die Notaufnahme gebracht worden ist."

"Danke", sagte er, das Wort nicht mehr als ein Ausatmen, als er an ihr vorbei auf die Tür zu rannte und dabei einen Studenten umriss, dessen Bücher auf den Boden fielen. Doch der Mann hielt nicht an und war einen Moment später verschwunden.

 

 

X-7 X-7

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (8/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Scully legte beide Hände an die Wand zu ihrer Rechten und ging langsam die Treppen vom Dach herunter. Irgendwie kam sie sich lächerlich vor, einem kleinen Jungen so eine Aufgabe zuzutrauen, aber er schien klug zu sein und ihr Instinkt ließ sie ihm vertrauen. Außerdem, dachte sie, hatte sie im Moment niemand anders, dem sie vertrauen könnte. Für einen Moment dachte sie daran, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie ihn nicht einfach gebeten hätte, die Polizei zu rufen. Aber sie hatte Angst, erkannt zu werden und fürchtete die schrecklichen Konsequenzen, die es mit sich bringen würde.

Sie kam wieder in den Hausflur und zögerte unsicher. Wenn der Junge Recht gehabt hatte, würde Mulder nicht vor einer halben Stunde zurückkommen.  Scully fühlte sich unwohl in diesem Korridor, aber sie war sich nicht sicher, ob sie es riskieren konnte, wieder zurück in das Apartment zu gehen. Wie eine Ente auf dem Präsentierteller, dachte sie und eine Welle von Furcht überkam sie.

Geh wieder zurück in die Wohnung, sagte sie zu sich, geh zurück und hole die Pistole. Letztendlich entschied sie sich dafür. Sie wusste, wo Mulder sie gelassen hatte - auf dem Küchentisch - und obwohl sie wahrscheinlich nicht den Mut haben würde zu schießen, könnte sie es wenigstens als eine Bedrohung benutzen. Sie atmete tief durch und ging weiter den Gang entlang, bis sie ihre Wohnungstüre fand.

Scully wiederholte die lästige Prozedur, den Schlüssel ins Loch zu stecken und betrat das Apartment so leise wie möglich. Der Geruch war noch da, vermischt mit dem Duft der Blumen, und sie schauderte. Sie blieb stehen und lauschte. Lauschte auf irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche, auf das Atmen eines Eindringlings. Einige Momente vergingen und sie hörte immer noch nichts.

Das Apartment war völlig ruhig.

Vorsichtig ging sie durch das Wohnzimmer in die Küche und tastete auf dem Tisch nach der Waffe. Sie fühlte die Stelle, an der Mulder gewöhnlich die Waffe ließ, doch sie war nicht da. Scully suchte weiter, fühlte jedes Objekt, das sie erreichte, erfolglos. Ein grausamer Gedanke kam ihr und ihr wurde ganz kalt vor Angst.

Jemand ist hier gewesen und hat die Waffe genommen.

Jemand, der noch in der Wohnung sein könnte.

Scully versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen und lauschte wieder.

Die Wohnung war völlig still.

Hat Mulder die Waffe bereits mit eingepackt oder sie mitgenommen? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf und sie versuchte sich an ihre letzte Unterhaltung zu erinnern. Vielleicht hat Mulder sie nach dem Vorfall ja mitgenommen. Sie hatte ihm gesagt, er solle vorsichtig sein; vielleicht hatte er endlich einmal auf sie gehört und sie irgendwo versteckt, bevor er durch den Detektor der Bibliothek gegangen ist.

Scully beschloss, wieder zurück nach unten zu gehen und im Hausflur hinter der Glastür zu warten. Wenn sie von vielen Leuten draußen gesehen werden könnte, würde ihr das einen gewissen Schutz gewähren. Es war unwahrscheinlich, dass sie jemand angreifen würde, wenn es so viele Zeugen gab. Dann fiel ihr ihre eigene Waffe ein. Sie hatte aufgehört, sie zu tragen, aber Mulder hatte sie trotzdem als Sicherheit behalten. Sie war sich absolut sicher, dass er sie am Morgen unter ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte. Sie war im Schlafzimmer, immer noch geladen und leicht zu finden.

Mit einem Hauch von Erleichterung ging sie so schnell sie es wagte ins Schlafzimmer und fand den Rucksack, den er auf dem Bett hinterlassen hatte.  Scully machte den Reißverschluss auf und verzog bei dem überraschend lauten Geräusch das Gesicht. Sie wühlte durch die Kleider, die Mulder so sorgfältig zusammengelegt hatte und fand die Pistole wie erwartet fast ganz oben in der Tasche. Sie nahm sie und fühlte sich durch das gewohnte Gewicht in ihrer Hand nun etwas sicherer. Mit der Waffe in der Hand ging sie wieder zurück ins Wohnzimmer.

Sie war schon halb durch die Tür, als ihr etwas anderes einfiel. Sie öffnete den Magazinverschluss und ließ das Magazin in ihre Hand gleiten. Sie musste mit Schrecken feststellen, dass es leer war.

"Suchst du das hier?"

Die Stimme hallte durch die Dunkelheit und versetzte Scully einen Schlag in die Brust. Es folgte ein Geräusch, als ob jemand eine Handvoll Murmeln prasselnd zu Boden fallen ließ.

"Silvertrip Hollow Zehn-Millimeter-Patronen. Genau, verlässlich und kontrollierbar, wirkungsvoller und mit besserer Mannstopp-Wirkung als die Standard-Neun-Millimeter. Gute Wahl."

Scully blieb wo sie war. Sie war gelähmt vor Schreck. Die Stimme war leise und bedrohlich, die Stimme eines Mannes, und der unterschwellige Ton darin hatte sogar noch einen schlimmeren Effekt.

"Ich nehme an, dass dein Partner dieselbe Waffe hat", fuhr die Stimme fort.  "Aber natürlich hat er nicht so viel geladen, wie hier." Scully konnte eine der Kugeln auf dem Boden rollen hören. Ein plötzlicher Knall stoppte dieses Geräusch. Scully schrie auf und machte einen Satz rückwärts, bevor sie erkannte, dass der Eindringling nur seinen Fuß auf den Boden geknallt hatte.

"Aber sogar eine einzige Kugel ist mehr als du gerade in deiner Waffe hast.  Warum legst du sie also nicht beiseite und kommst hier 'rüber. Wir habe eine Menge zu bereden, du und ich."

Scully blieb stehen. Durch den Adrenalinstoß nahm sie die Stimme des Mannes kaum wahr. In ihrem Kopf wirbelte es. Sie versuchte, die Entfernung bis zur Tür abzuschätzen und ihre Chance, es wieder zurück in den Flur zu schaffen.

Doch dann hörte sie das beunruhigenden Klicken seiner Waffe und erkannte, dass er sie auf sie gerichtet hatte. "Denk nicht einmal daran. Mit einer Smith & Wesson kann man einen Schuss nach dem anderen ohne auch nur eine Sekunde dazwischen abfeuern. Das heißt, ich schieße dreimal bevor du überhaupt die Tür gefunden hast." Der Mann verstummte und als er wieder sprach, hatte seine Stimme den Plauderton verloren. "Ich werde es dir nicht zweimal sagen", befahl er. "Leg die Knarre hin und komm her."

Scully zwang sich zur Beherrschung und beugt sich mit zitternden Knien hinunter, um die Waffe auf den Boden zu legen. Sie richtete sich wieder auf, doch blieb immer noch stehen.

"Kommst du jetzt *endlich* hier her?" zischte die Stimme. "Bring mich nicht dazu, dich zu holen."

Scully schickte ein Stoßgebet zum Himmel und trat vorsichtig einen Schritt vor.

 

 

 

 

Mulder saß am Rande des Sitzes und hielt nervös den Türgriff des Taxis fest. Es kam ihm vor, als ob sich das Gefährt im Schneckentempo durch eine zähe Masse von Morast kämpfte. "Wie weit ist es noch?" rief er laut, damit der Fahrer ihn hinter dem Plexiglas verstehen konnte.

"Wir wären schon längst da, wenn kein Stau wäre", antwortete der Fahrer.

Mulder seufzte und versuchte, eine Ruhe vorzutäuschen, die er nicht besaß. Sein Herz raste und ihm war schlecht, sein ganzer Körper verkrampfte sich vor Sorge. Er verfluchte seine Dummheit, seinem Instinkt nicht vertraut zu haben und Scully am Morgen nicht aus der Stadt gebracht zu haben. Es war eine dumme Entscheidung gewesen, eine, die die Informationen nicht wert war, die er bekommen hatte. Wenn ihr irgendetwas passieren würde...

Er versuchte, seine schrecklichen Gedanken zu verdrängen und sich auf die Wagen zu konzentrieren, die mit einer Geschwindigkeit an ihnen vorbeifuhren, die man glatt als Zeitlupe beschreiben könnte. Scully... war alles, woran er denken konnte. Ihre Gedanken waren Eins, jeder ihrer Atemzüge schien einer von seinen zu sein. Und er wusste, konnte es ganz tief in sich fühlen, dass sie in Schwierigkeiten war. Dass sie ihn brauchte. Und wieder war er einen Schritt zu langsam.

Mulder seufzte zitternd vor Angst und Reue. Obwohl sie das Gegenteil behauptete, gab er sich die Schuld an ihre Lage. Wenn er nur schneller, schlauer und fähiger gewesen wäre, wären sie jetzt nicht in dieser Situation. Und jetzt... obwohl er es kaum für möglich gehalten hätte, schlug sein Herz sogar noch schneller, und sein heftiges Keuchen hallte in seinen Ohren.

Er war kein Mann, der leicht Freunde fand. Aber Dana Scully hatte etwas, das ihn dazu gebracht hat, sich ihr vollends zu öffnen, ihr zu vertrauen wie er außer Samantha noch nie jemandem in seinem Leben vertraut hatte.  Während ihres ersten Falles hatte er ihr Dinge gesagt, die er noch nie jemandem verraten hatte und sie hatte ihn nie verraten. Stattdessen hatte sie ihn bei seiner Suche unterstützt und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die Antworten zu finden, die er suchte.

Und sie war dabei fast ums Leben gekommen.

Dieser Gedanke ließ ihn zusammenzucken und er schloss die Augen in einem kurzen Moment der Qual. Sie war nun ein Teil von ihm, ein Teil, den er nicht verlieren konnte. Ein Teil, ohne den er nie sein könnte.

Mulder öffnete die Augen und hämmerte gegen das Glas, das ihn von dem Fahrer trennte. "Wie weit noch?" wiederholte er, und seine Stimme verriet seine Panik.

"Vielleicht noch eine halbe Meile. Etwas weiter diese Straße herunter." Der Fahrer blickte in den Rückspiegel und Mulder sah seinen verwirrten Ausdruck. "Keine Sorge, ich bringe Sie da schon hin."

Das Taxi zog an einer roten Ampel hinter einen Sedan und Mulder griff plötzlich nach seiner Brieftasche. Er zog eine Zwanzigdollar-Note heraus und steckte ihn in das Ausschubfach in der Trennwand. "Danke", rief er, als er die Türe öffnete. "Ich finde es von hier schon."

Mulder sprang heraus in den Verkehr und lief über die Straße, als grün wurde. Ein Wagen hupte, als er auswich, um ihn nicht zu erfassen, doch Mulder sah sich nicht um und begann zu rennen. Er bahnte sich den Weg durch die Masse der Fußgänger und ignorierte die ärgerlichen Kommentare. Er hatte nur ein Ziel vor den Augen.

 

 

 

 

 

"Nein", lachte Karen am Telefon und versuchte, leise zu sein. "Das ist *nicht*, was ich gesagt habe. Keine Sorge, ich werde da sein. Halt mir nur einen Platz frei." Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel. Sie fühlte sich ein wenig schuldig, Privatgespräche in ihrer Schicht zu führen. Nennt mich ruhig Sündiger, dachte sie, als sie ihr Lesezeichen zur Hand nahm und sich wieder ihrem Lehrbuch zuwandte.

Ein paar Sekunden später sah sie auf, und erblickte einen kleinen Jungen, der zwischen den Tischen und Stühlen hin und her ging und die Studenten betrachtete. In einer Hand hielt er ein Notizbuch und er schien ein wenig verloren, als er verwirrt auf jeden der Tische blickte.

"Kann ich dir helfen?" fragte Karen mit ihrer besten Bibliothekarin-Stimme. Der Junge drehte sich um und kam auf sie zu. Er hatte Jeans an mit einem Loch am Knie und eine Windjacke über seinem T-Shirt, auf dem Power Rangers stand, wovon ihre jüngeren Cousins große Fans waren. Er hatte zerzauste blonde Haare und keuchte außer Atem.

"Ja, vielleicht", antwortete der Junge, als er näher kam. Er war kaum groß genug, um über den Rand sehen zu können. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. "Ich suche hier jemanden."

Der Junge blickte so ernst drein, dass Karen lächeln musste. "Ok, dann sag mir doch, wen du suchst und ich schaue mal, was ich tun kann."

"Ich suche einen Mann namens..." Der Junge verstummte und sah auf die zerknitterte Seite in seinem Notizbuch. "Ein Mann namens Rick Wilder. Ist er hier?"

Karen hob vor Überraschung die Augenbrauen, als sie den Namen wieder hörte.

"Er war hier", sagte sie. "Aber er ist schon weg. Ist er dein Vater?"

"Nein", antwortete der Junge mit weiten und ernst dreinblickenden Augen.

"Aber ich muss ihn finden. Wissen Sie, wo er hingegangen ist?"

Karen zögerte für einen Moment. Sie war sich nicht sicher, ob sie dem Kind die Wahrheit sagen sollte. Aber er hatte diesen Gesichtsausdruck, der eine Antwort verlangte. "Es ist ins Krankenhaus gefahren. St. John Baptist.  Seine Frau hatte einen Unfall."

Der Junge runzelte die Stirn. "Wer hat das gesagt?"

"Warum?" Karen war jetzt wirklich neugierig.

"Weil es nicht stimmt, darum", antwortete der Junge. Er drehte sich um, doch dann fiel ihm sein gutes Benehmen wieder ein. "Danke sehr", sagte er und rannte mit einer Geschwindigkeit, die Karen überraschte, aus der Bücherei.

Fremde, dachte Karen. Es war wieder an der Zeit, sich einen neuen Job zu suchen. Sie nahm ihr Lesezeichen und stürzte sich wieder in die Kognitive Dissonanz. Aber sie konnte weder den Jungen noch den Mann, den er suchte, vergessen.

 

 

 

 

 

Scully war nur ein paar Schritte in den Raum gegangen, als sie fühlte, wie eine Hand ihren Oberarm ergriff. Sie zuckte. Sie hörte ein Kratzen auf dem Boden und wurde dann von der Hand zurück geschubst. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Stuhl, der sich plötzlich hinter ihr befand.

"Setzen Sie sich, Agent Scully, so dass wir uns bekannt machen können." Der Mann kicherte und ihr lief es kalt über den Rücken. "Vielleicht sollte ich dich Dana nennen. Du bist ja immerhin keine Agentin mehr, oder?"

Scully schwieg und widerstand seinem Spotten. Sie wollte sein Spiel nicht spielen. Sie hörte in der Stille die lauten Schritte des Mannes, als er um ihren Stuhl herum ging. Er sagte nichts mehr und für einen Moment war alles ruhig.

"Hast du deine Zunge verschluckt? Du bist blind, nicht stumm. Und du kannst mich wunderbar hören."

Sie sagte immer noch nichts und konzentrierte sich auf ruhiges Atmen. Sie konzentrierte sich auf ihn und versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen.  Er hatte einen leichten Akzent, aber es war kein südlicher. Es klang eher nach der Ostküste. New York vielleicht oder New Jersey.

Scully brach die Stille erst, als sie zu bedrückend wurde. "Wer sind Sie?" Sie war erleichtert, dass sie drei Worte sprechen konnte, die sich einigermaßen normal anhörten.

"Tja", sagte der Mann, "das ist nicht wichtig. Lass es uns mal so sagen: wir beide haben gemeinsame Bekannte."

"Sie sind kein Polizist." Obwohl Scully die Antwort kannte, stellte sie die Frage trotzdem, in der Hoffnung, dass der Mann mehr verraten würde. Etwas, das sie gegen ihn verwenden könnte.

"Nein", lachte er wieder. "Ganz bestimmt nicht. Du kannst mich als Beschaffer bezeichnen, wenn du Spaß daran hast. Ich hole die Dinge zurück, die andere verloren haben. Deswegen musst du mir helfen. Wirst du mir helfen, Dana?"

Scully antwortete nicht. Sie dachte angestrengt nach und schätzte die Zeit ab. Es sind mindestens fünf Minuten vergangen, seit Charlie gegangen war, fünfzehn Minuten noch, bis Mulder zurückkam.

Es war fast, als ob der Mann ihre Gedanken lesen könnte. "Wenn du so still bist, weil du auf deinen Partner wartest, kannst du lange warten."

Scully stockte der Atem bei dieser getarnten Drohung, aber sie verbarg es und blieb weiter still.

"Ich wollte, dass wir ein wenig Zeit miteinander haben, also habe ich Mr. Mulder auf eine kleine Reise geschickt."

Furcht überkam sie und dieses Mal konnte sie sich nicht zurückhalten. "Was soll das heißen? Was haben Sie ihm angetan?" Scullys Stimme verriet ihre Sorge und sie ärgerte sich deswegen.

"Ich habe ihm nichts *angetan*... noch nicht." Der Mann lachte und Scully war plötzlich wütend. Das war auch gut so, denn die Wut ersetzte etwas von dem Schock und sie versuchte, sich daran festzuhalten. "Ich habe ihn nur auf einen kleinen Umweg geschickt. Ins Krankenhaus, um genau zu sein. Er denkt, du hättest einen schlimmen Unfall gehabt."

Scully dachte einen Moment an Mulder. An die Angst und Sorge, die er durchstehen musste und sie wünschte sich, bei ihm zu sein zu können und ihm zu versichern, dass es ihr gut ging. Wieder wallte ihre Wut auf den Unbekannten in ihr auf, doch sie zwang sich zu konzentrieren.

"Was wollen Sie?"

"Oh, Dana, ich bin mir sicher, dass du weißt, was ich will." Scully merkte, wie der Mann sich neben sie hinhockte und einen Moment später fühlte sie, wie er mit den Fingern über ihr Wange strich. Sie drehte ihren Kopf weg, und er lachte hämisch. "Die Diskette, Dana. Deswegen bin ich hier."

Wieder hoffte sie, dass ihre Stimme fest sein würde. "Ich weiß nicht, wovon Sie reden."

Scully hörte den Schlag, bevor sie ihn fühlte, einen pfeifenden Luftzug. Dann schlug seine Handfläche ihr ins Gesicht. Es tat mehr weh, als sie sich je vorstellen konnte und sie konnte ein Stöhnen vor Schmerzen nicht unterdrücken, als sie Blut schmeckte.

"Falsche Antwort", sagte der Mann, sein Ton so gesprächig wie vorher auch. "Lass es uns noch einmal versuchen. Ich suche die Diskette, die du aus dem Labor gestohlen hast. Ich weiß, dass du sie hast, also her damit."

Sie verhielt sich wieder absolut still und umklammerte die Ränder des Stuhls, auf dem sie saß. Als sie keine Antwort gab, bekam sie noch einen Schlag ins Gesicht, diesmal auf die andere Seite.

"Es ist gar nicht so schwer, Dana", sagte der Mann. "Gib mir, was ich will, und ich verschwinde."

Ein Profi, dachte sie und versuchte, den stechenden Schmerz zu ignorieren.  Der Typ war ein Profi, nicht einer von diesen Regierungs-Heinis, die sie und Mulder immer antrafen. Es war viel zu viel Befriedigung in seiner Stimme, er genoss seinen Job. Ihr wurde ganz kalt. Sie erkannte, dass das hier ein Gegner war, den sie unmöglich austricksen konnte.

Sie wusste, dass er eine Antwort erwartete und gab ihm die beste, die ihr einfiel. "Sie ist nicht hier."

"Nicht?" fragte er ironisch und fuhr wieder mit der Hand über ihre Wange bis zu ihrem Kinn. Er hob ihren Kopf. Linke Hand, linke Hand, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Sie nahm an, dass die Waffe noch in seiner rechten Hand sein müsste und sie behielt es im Hinterkopf. "Wo ist sie dann?"

"Mulder hat sie", antwortete sie nicht lauter als ein Flüstern. "Er hat sie mitgenommen."

"Wirklich?" Der Mann hielt inne und bedachte ihr Statement. Sie nickte langsam. Er nahm seine Hand von ihrem Kinn und sie entspannte sich ein wenig.

Ohne Vorwarnung fühlte sie noch einen Luftzug und einen kalten, stechenden Schlag an ihrer rechten Schläfe. Wahnsinnige Schmerzen durchschossen ihren Kopf und sie verlor das Gleichgewicht. Sie merkte wie sie fiel, als ein Sog von Benommenheit sie ergriff. Dann fühlte sie gar nichts mehr.

 

 

X-8 X-8

 

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (9/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Mulder rannte in die Notaufnahme des Krankenhauses. Sein Atem kam in heftigen Stößen und er verlangsamte seinen Schritt zu etwas, was normalem Gehen einigermaßen ähnlich war. Weiter vorne sah er den Empfang und er ging zu der grauhaarigen Schwester, die gerade ein Telefongespräch beendete.

"Ich muss zu einer Patientin", stieß er hervor, als sie auflegte.

"Name?" fragte sie unbeeindruckt von seinem panischen Auftritt. So wie sie aussah, hatte sie diese Frage schon dreißig Jahre lang stellen müssen, und würde ganz sicher nicht durch sein Drängen beeindruckt.

"Wilder", sagte er. "Lisa Wilder."

Die Schwester sah mit einer nervenaufreibenden Langsamkeit in den Unterlagen nach. Als sie alles durchblättert hatte, sah sie wieder gelangweilt zu ihm auf.

"Niemand ist hier unter diesem Namen eingeliefert worden, Sir."

Mulder stockte. Für einen Moment dachte er daran, dass Scully hier unter ihrem eignen Namen eingeliefert worden ist. Aber sobald ihm dieser Gedanke kam, verwarf er ihn auch schon wieder. Wenn es nicht so schlimm war, dass sie dem Vermieter nicht sagen konnte, dass er ihn in der Bibliothek anrufen solle, wäre sie dieses Risiko nie eingegangen. "Sind Sie sicher?" fragte er, überzeugt davon, dass sie etwas übersehen hatte. "Ich habe einen Anruf bekommen."

"Vom Krankenhaus?" fragte die Schwester geradezu gelangweilt in ihrer Routine.

"Nein. Von... oh, vergessen Sie's. Könnten Sie bitte noch einmal nachsehen?"

Wieder schälte sie sich durch die Blätter. "Nein, hier steht niemand mit diesem Namen."

Er ließ die Luft aus seinen Lungen. "Okay... ist irgendjemand Unbekanntes eingeliefert worden? Irgendwelche Jane Does?"

Doch er hoffte stark, dass die Antwort nein sein würde, dass Scully nicht in einem so schlimmen Zustand eingeliefert wurde, dass sie unfähig war, sich zu identifizieren. Mulder wartete, als die Frau schon wieder nachsah.

"Nein, Sir, es tut mir Leid. Sind Sie sicher, dass sie heute Nachmittag eingeliefert worden ist?"

"Ja!" Mulder merkte, dass er fast schrie und zwang sich zur Ruhe. "Ja, ich habe gerade die Nachricht bekommen."

Die Schwester blickte ihn besorgt an, was fast herablassend wirkte. "Sind Sie sicher, dass sie das richtige Krankenhaus haben?"

"Ja, ich bin mir sicher!" Mulder verlor den Kampf gegen die Selbstbeherrschung und geriet in Panik. "Ich will mit ihrem Vorgesetzten sprechen. Jetzt sofort!"

Die Schwester sah ihn verärgert an und drehte sich dann zu ihrer jüngeren Kollegin, die hinter ihr am Tisch saß. "Bitte rufen Sie Schwester Bishop."

Die junge Schwester sprang bei dem todernsten Ton ihrer älteren Kollegin aus ihrem Sitz und verschwand. "Bitte warten Sie einen Moment, Sir", sagte sie zu ihm und Mulder nickte.

"Danke", sagte er, als er von dem Empfang zurücktrat. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, als er nervös hin und her wanderte.

 

 

 

 

Vincent starrte die Frau an, die bewusstlos auf dem Boden neben dem Stuhl lag. Sie war klein, viel kleiner als er sich vorgestellt hatte. Er fragte sich, ob das FBI wohl eine Mindestgröße für seine Agenten hatte. Sogar mit intaktem Augenlicht konnte er sich kaum vorstellen, dass sie einmal für die Bundesregierung gearbeitet hatte. Aber andererseits konnte Vincent es sich kaum vorstellen, dass eine Frau überhaupt zu einer solchen Arbeit in der Lage war. Er hielt nicht viel von Organisationen, die einer Frau so viel Verantwortung übergaben.

Er betrachtete ihre bewusstlose Gestalt mit einem befriedigten Grinsen. Er hatte es genossen, ihr mit der Pistole eine überzuziehen. Das Gefühl hatte ihn erregt und er dachte daran, wie befriedigend sein Beruf doch war. Christophes Worte fielen ihm wieder ein: Freie Wahl oder Bestätigung, da gab es keinen Unterschied. Es waren magische Worte für Vincent. Bestätigung hieß, dass eine Leiche gefunden werden musste, dass sie identifiziert werden musste, weswegen sie mit einer gewissen Erkennbarkeit zu erledigen war. Freie Wahl war eine völlig andere Sache. Da keine Leiche jemals gefunden werden musste, war es ihm überlassen, was er mit ihr machte.

Vincent hockte sich neben sie und wartete darauf, dass sie wieder zu Bewusstsein kam. Er blickte über ihren kleinen Körper. Sie trug eine graue Strickjacke, ein weißes T-Shirt und Jeans. Diese Sachen zusammen mit den Tennisschuhen ließen sie eher wie eine College-Studentin aussehen, als eine FBI-Agentin. Und sie war hübsch, viel netter anzusehen, als er erwartet hatte. Normalerweise fand er Frauen, die für die Regierung arbeiteten eher statisch und trocken, geradezu maskulin in ihrem Auftreten. Aber diese Frau hatte eine zerbrechliche Schönheit an sich, die das Blut in seinen Unterleib schießen ließ. Ja, er war definitiv zufrieden mit seinem Auftrag.

Aber eigentlich war Vincent immer zufrieden mit seiner Arbeit. Es war eine Ehre, von Christophe ausgewählt worden zu sein und zu seinen Leuten zu zählen. Christophe nahm immer nur die besten. Männer, die ihren Job eher als eine Kunst betrachteten als einen Beruf. Vincent wurde schon oft vorgeworfen, in einigen Fällen zu weit gegangen zu sein und eine Situation so zu behandeln, dass sie seinen persönlichen Hunger stillte. Aber er hatte es nie so weit getrieben, dass Christophe wütend wurde. Ganz im Gegenteil. Vincent war einer von Christophes wertvollsten Angestellten. Er kam nie mit leeren Händen zurück und er machte keine halben Sachen. Und dieses Mal würde es nicht anders sein.

Nach einer halben Ewigkeit, so schien es Vincent, regte sich die Frau. Sie tastete mit den Händen um sich, um sich wieder zu fassen. Sie saß auf, ihre Hände immer noch flach auf dem Boden, um das Gleichgewicht zu halten.  Vincent wartete auf den passenden Moment für seine nächste Attacke.

Er streckte seine Hand aus und fasste nach ihren Haaren, die über ihre Schultern fielen und genoss es, als sie vor Schreck zusammenzuckte. Der Schlag mit der Pistole hatte ihr eine große Wunde an ihrer rechten Wange zugefügt, die bereits anfing anzuschwellen. Sein Herz begann schneller zu schlagen.

"Willkommen zurück", sagte Vincent und spielte mit ihren dunklen Locken.  Sie war still, nur ihr heftiges Keuchen verrieten ihre innere Unruhe. Er war fasziniert davon, wie sie sich unter Kontrolle hatte. Er hatte die Pistole immer noch in seiner rechten Hand und spielte mit der Sicherung. Er klickte sie ein und wieder aus und grinste bei dem Geräusch. "Willst du es jetzt noch mal versuchen und diesmal ein wenig mehr Sinn ergeben?" Vielleicht können wir dann ja eine zivilisierte Unterhaltung führen. Wir wissen doch beide, dass Mulder die Diskette nicht hat. Genauso wenig wie seine Knarre, weil er sie nicht durch den Metalldetektor in der Bücherei bringen kann."

Die Frau blieb immer noch absolut still, und ihre Ruhe hatte etwas Frustrierendes an sich, das Vincent irgendwie erotisch fand. Ihre Augen waren auf einen Punkt genau hinter ihm gerichtet, und ihr Blick war vollkommen leer. Er konnte nicht die Angst darin sehen, an der er sich normalerweise so erfreute und es machte ihn wütend.

"Dana? Ich werde dir jetzt einmal etwas sagen. Ich habe keine Lust, dieses Warte-Spielchen mit dir hier zu treiben." Er ruckte harsch an den feinen Strähnen in seiner Hand und riss so ihren Kopf zur Seite. Ein leises Wimmern der Hilflosigkeit entkam ihren Lippen und er fühlte sich sehr mächtig. Sie versuchte, sich mit einer Hand von seinem Griff zu befreien. Er schlug sie mit seiner Waffe weg. "Nix da", schimpfte er. "Ich rede jetzt und du hörst gefälligst zu."

Vincent konnte sich nicht daran erinnern, wann ihn das letzte Mal ein Auftrag so berührt hatte. Er hatte kaum Kontakt zu Frauen bei seiner Arbeit. Die meisten auf Christophes Liste waren Männer, die jeder gut für eine Herausforderung waren. Die paar Frauen, mit denen er es zu tun gehabt hatte, waren alle völlig anders gewesen. Sie hatten alle bei dem ersten harschen Wort angefangen zu heulen. Aber diese Frau hier... ihre mutige Sturheit machte ihm Spaß und er freute sich schon auf den Moment, in dem er sie brechen würde.

"Wir haben nicht mehr viel Zeit miteinander, also müssen wir voran machen." Die Strickjacke der Frau war aufgeknöpft und unter dem weißen T-Shirt konnte Vincent die Umrisse ihrer Unterwäsche sehen. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er den Griff der Pistole nahm und sie an ihr Schlüsselbein legte. "Es ist ganz deine Entscheidung. Du kannst es einfach haben, du kannst es aber auch auf die harte Tour haben. Es steht dir völlig frei." Während er sprach strich er mit der Pistole langsam über ihren Körper und fuhr an den Linien ihres BHs entlang. Sie sagte immer noch nichts und er könnte schwören, dass sie aufgehört hatte zu atmen, als er kein Heben und Senken ihrer Brust wahr nahm. Sein Puls ging schneller und er zwang sich zur Konzentration.

Vincent senkte seine Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern und sprach weiter. "Du bist doch Ärztin, also weißt du ja, dass ein Bauchschuss die schmerzhafteste aller Verletzungen ist." Er unterstrich seine Worte, indem er mit der Waffe bis hinunter zu ihrem Bauch fuhr und drückte. "Im Durchschnitt dauert es eine Dreiviertelstunde oder sogar eine ganze Stunde, bis man verblutet. In einigen Fällen haben Leute ganze drei Stunden überlebt, aber das kommt wirklich selten vor. Hab ich Recht, Dana? Hab ich Recht?" Wieder riss er an ihren Haaren und hörte eine leises Murmeln ihrerseits.

"Ja..."

"Ich *könnte* dir jetzt einfach in den Bauch schießen und wir könnten hier zusammen auf Mr. Mulder warten. Ich bin sicher, dass er mir alles geben wird, was ich will, um dich so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu bringen."

Vincent setzte sich anders hin und nahm die Waffe von ihrem Körper, aber er hielt immer noch an ihrem Haar fest. "Aber das würde weder für mich noch für dich lustig sein. Anders als du vielleicht denkst, finde ich eine solche Sauerei überhaupt nicht gut."

Die Frau schloss für einen Moment die Augen und Vincent wusste, dass sie nachdachte. Er sagte nichts und beobachtete sie nur entzückt und wartete, was sie als nächstes tun würde. Dann öffnete sie ihre Augen wieder, doch machte keinen Laut und Vincents Geduld begann zu schwinden.

"Das Spiel ist vorbei, Dana. Ich habe keine Lust mehr, mich an der Nase herumführen zu lassen und ich werde dich nicht noch einmal fragen. Wenn du mir also die Diskette geben willst, sag es jetzt. Wenn nicht, habe ich keine andere Wahl, als dich zu erschießen."

Wieder eine lange Pause und Vincent genoss die Intensität des Momentes. Er wartete gespannt auf den Ausgang ihres stillen Duells, was immer das auch sein würde.

"In Ordnung", sagte die Frau letztendlich mit einem verschwindend leisen Flüstern der Zustimmung.

"Was hast du gesagt?" Vincent brachte seine Lippen an ihr Ohr. "Ich kann dich nicht hören."

Sie drehte sich ein wenig, um von ihm weg zu kommen, aber ohne Erfolg. "Ich gebe Ihnen die Diskette."

"Ah", machte Vincent und freute sich über seinen Sieg. "Gut. Aber du musst bitte sagen." Er legte die Waffe wieder an ihren Bauch, um sie noch mehr zu quälen und wartete auf ihre Antwort. Wenigstens erhielt er ein leises Flehen.

"... bitte..."

Vincent wusste, dass er die Grenze erreicht hatte, aber er war ein Jäger, der nie müde wurde, sein Opfer zu hetzen. "Nein", spottete er, "das ist nicht ganz richtig. Sag 'Bitte, lassen Sie mich Ihnen die Diskette geben'." Er konnte ihr deutlich ansehen, was in ihr vorging, trotz ihrer Versuche, es zu verbergen—Hass vermischte sich mit Schrecken und Angst und mit etwas, das ganz nach Abscheu aussah. Vincents zufriedenes Grinsen wurde breiter.

Unwillig, noch einen Moment länger zu warten, ruckte er wieder an ihren Haaren und riss ihren Kopf nach hinten, so dass ihr Hals frei lag. Er fuhr mit der Pistole über ihre Haut und hörte, wie sie den Atem anhielt, als ob sie gleich weinen würde. Sein Herz machte einen Hüpfer.

Sie ließ ihre Tränen nicht fallen, aber er konnte sie deutlich in ihrer Stimme ausmachen, als sie mit zusammengebissenen Zähnen die Worte aus sich heraus zwang. "Bitte... lassen Sie mich... Ihnen... die Diskette geben."

"Also schön, Dana", lachte Vincent, "dieses Angebot kann ich natürlich nicht ablehnen." Endlich ließ er ihre Haare los, nur um sie beim Arm zu packen und sie mit sich hochzuziehen. "Auf geht's."

 

 

 

 

 

Charlie drückte die Tür auf und betrat vorsichtig das Krankenhaus. Die schwirrenden Aktivitäten um ihn herum überwältigten ihn. Das letzte Mal, an dem er in einem Krankenhaus gewesen war, war, als er seine kranke Großmutter besucht hatte. Augenblicklich sah er sie wieder vor seinem inneren Auge, wie sie ausgesehen hat, so klein und zerbrechlich unter den Laken. Die Erinnerung machte ihm Angst und er zwang sich zu Gedanken, als er noch klein war und sie ihn immer gehalten hatte. Sie hatte ihn immer lieb gehabt und ihn immerzu ermutigt, wie niemand anderes. Dieser Gedanke gab ihm Mut und er ging durch den Korridor auf der Suche nach dem Mann.

Charlie hörte ihn bevor er ihn sah. Er war laut und klang sehr ärgerlich. Charlie folgte einfach dem Geschrei. Der Mann stand neben dem Empfang und stritt sich mit einer braunhaarigen Schwester, die ihn an seine Mutter erinnerte, weil sie sich nicht unterkriegen ließ. Der Mann gestikulierte wie wild vor lauter Wut, aber die Schwester blieb ruhig und antwortete ihm mit gemäßigter Stimme. Es hatte aber keine Wirkung. Charlie blieb etwas weiter entfernt stehen und sah aus Angst zu unterbrechen bloß zu.

Dann wandte sich die Schwester zu einer anderen, etwas älteren Schwester hinter dem Empfang und sagte etwas zu ihr, was Charlie nicht richtig verstehen konnte. Die beiden Frauen wechselten einige Worte und drehten sich dann um und gingen den Korridor hinunter. Eine junge Frau blieb hinter dem Tisch zurück, die den Mann hilflos anstarrte. Der sah zu, wie sie fortgingen, blickte auf seine Armbanduhr und haute mit der Faust auf den Tisch. Er trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen die Wand. Er schloss die Augen und ließ die Luft aus seinen Lungen.

Charlie atmete ebenfalls tief durch und ging auf ihn zu. Er stand bereits fast neben ihm, als der Mann seine Augen öffnete und ihn grimmig ansah.

Er sagte nichts zu ihm, sondern starrte ihn bloß wild an und für einen Moment fand Charlie keine Worte. Er öffnete seinen Mund einige Male, und beim dritten Versuch fand er seine Stimme wieder. "Entschuldigung."

"Was?" Der Mann hatte etwas von seinem Vater, wenn er wieder in miserabler Stimmung war, aber Charlie dachte an das Versprechen, das er der Frau auf dem Dach gegeben hatte und zwang sich dazu fortzufahren.

"Ich... ich bin auf der Suche nach Ihnen." Charlie sah den Mann aus Angst vor seiner Wut geradeheraus an, aber der Mann bewegte nicht einen Muskel, also redete er weiter. "Ich habe eine Nachricht für Sie."

"Was für eine Nachricht? Von wem?" Jetzt schien es Charlie, als ob der Mann skeptisch wurde.

"Von Lisa", antwortete er. "Der Lady... auf dem Dach."

Der Mann kam auf ihn zu und Charlie trat einen Schritt rückwärts. Doch der Mann kniete sich bloß vor ihn, um auf einer Höhe mit ihm zu sein. "Das Dach..." murmelte er, als ob er durcheinander wäre. "Wer bist du? Woher kennst du Lisa?"

"Ich heiße Charlie", antwortete er, erleichtert, dass der Mann ihm zuhörte.

"Ich wohne nebenan. Und Lisa... sie hat mich geschickt, um Sie zu finden. Sie hat mir gesagt, dass Sie ganz schnell nach Hause müssen."

Der Mann schwieg und musterte Charlie, als ob er Beweise suchte. Charlie fiel ein, dass er es ja beweisen konnte und er griff in seine Hosentasche, um die Kette herauszuholen, die Lisa ihm gegeben hatte. "Ich lüge nicht", sagte er. "Sie hat mir das hier gegeben, und sie hat gesagt, dass ich Sie nach Hause schicken soll."

Charlie hielt ihm die Kette hin und der Mann nahm das goldene Kreuz in seine Hand. Er starrte es an und umschloss es dann fest. Als er Charlie wieder ansah, standen Tränen in seinen Augen. "Danke", flüsterte er.  Charlie hatte kaum Zeit zu nicken, als der Mann auf die Füße sprang, den Gang hinunter rannte und die Eingangstür hinter ihm mit einem Knall in die Angel fiel.

 

 

X-9 X-9

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (9/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

 

"Wo ist sie?"

"Im Badezimmer." Scully brachte die Worte trotz ihrer Angst und Wut heraus. Die Hand des Mannes war wie ein Eisengriff an ihrem Arm, und sie zuckte zusammen, als er sie mit sich zog.

In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken in einem unzusammenhängenden Karussell, und sie bemühte sich, einen klaren Kopf zu bewahren und einen Plan zu fassen. Scully wusste ohne Zweifel, dass der Mann sie umbringen würde. Er würde auch Mulder umbringen, sobald er bekam, was er suchte. Und sie war sich bewusst, dass sie fast nichts dagegen tun konnte. Nicht Mulder, nicht Mulder, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. *Sie* hatte all dies verursacht—es war alles ihre Schuld, nicht Mulders, und Scully schwor, dass sie es nicht zulassen würde, dass er wegen ihrem Vergehen leiden musste.  Wenn sie sich selbst dafür opfern musste, um ihn zu retten, dann sollte es sein. Aber sie würde ihn nie für ihre Entscheidung mit dem Leben bezahlen lassen.

Bekräftigt durch diesen Entschluss ließ Scully sich mit ins Badezimmer zerren. Er ließ sie los und sie stolperte und griff nach dem Waschbecken, um nicht zu fallen. "Okay, Dana, wir sind hier. Wo ist sie?"

Scully spürte, wie rasend er unter seinen kontrollierten Worten war und antwortete so schnell sie konnte. "Der Arzneischrank", sagte sie. "Zwischen dem Spiegel und dem Rahmen."

Scully lehnte sich gegen das Becken und hörte, wie er den Schrank öffnete. Er streifte gegen sie, als er versuchte, das Glas vom Rahmen zu lösen und sie rückte zur Seite, um von ihm weg zu kommen. Ihre Hände stießen gegen etwas Kaltes und Glattes und als sie es näher betastete erkannte sie, dass es Mulders Rasierklinge war. Klinge... das Wort hallte in ihrem Kopf, als ihr bewusst wurde, was dieses kleine Objekt bewirken könnte. Vielleicht könnte sie...

Sie wusste nicht, ob der Mann sie beobachtete, also konzentrierte sie sich auf die Geräusche, des Arzneischranks. Sie bewegte sich kaum, als sie mit einer Hand über den Rand des Beckens glitt und ein Objekt nach dem anderen ertastete. Zahnbürste, Zahnpasta, Kamm... endlich fand sie, was sie gesucht hatte. Sie berührte eine Pappschachtel und fummelte nach der Öffnung, in der Hoffnung, dass der Mann nichts bemerken würde. Sie fand die Öffnung und griff in die Schachtel. Drei oder vier Rasierklingen waren darin.

Scully hielt den Atem an und holte vorsichtig eine der Klingeln aus der Schachtel. Sie hoffte, dass sie sie nicht fallen lassen oder die Schachtel umstoßen würde. Doch demzufolge, was sie hörte, schien der Mann seine Aufmerksamkeit völlig auf die Diskette gerichtet zu haben. Doch sie war sich nicht sicher und betete weiter, dass er ihre langsamen Bewegungen nicht wahrnahm. Sie nahm eine der Klingen fest zwischen zwei Finger und fasste sie dann in einen sicheren Griff, so dass sie flach in ihrer Hand lag. Sie umschloss ihre Finger darum und krempelte mit der anderen Hand ihren Ärmel herunter, als ob sie lediglich den Stoff ihrer Jacke halten würde und nicht die Klinge darunter.

Eine Sekunde später hörte sie, wie das Glas aus dem Rahmen gezogen wurde und wie der Mann zufrieden seufzte. "Also *deswegen* das ganze Theater hier", sagte er und ihr Herz setzte einen Schlag aus, obwohl sie nie daran gezweifelt hatte, dass er die Diskette finden würde. "Das sieht mir aber glatt nach nichts aus."

Scully hörte ein Rascheln und sie nahm an, dass der Mann die Diskette in seine Tasche gesteckt hatte. Dann war alles still und Scully zitterte. Ihr wurde klar, dass er sie anstarrte. Sie umfasste die Klinge enger und versuchte, Trotz in ihre Stimme zu legen. "Sie haben die Diskette. Jetzt raus hier."

Der Mann lachte ein eiskaltes Lachen. "Oh, das denke ich nicht. Wir sollten wirklich warten, bis Mr. Mulder zurückkommt."

Noch bevor sie irgendetwas sagen konnte, merkte Scully mit Schrecken, dass der Mann sie wieder beim Arm griff und sie aus dem Badezimmer ins Schlafzimmer schubste. Sie hatte keine andere Wahl, als es mit sich geschehen zu lassen. Der Mann zog sie in die Mitte des Schlafzimmers und warf sie dann so brutal hin, dass sie fiel und ihr Oberschenkel gegen etwas Hartes stieß. Sie erkannte, dass sie gegen das Bett geknallt war.

"Was soll das denn jetzt?" fragte sie hasserfüllt.

"Wir müssen ein wenig Zeit totschlagen", kam die Antwort. Scully hörte ein lautes Poltern neben dem Bett, als der Mann etwas darauf legte. Etwas Schweres, wovon sie annahm, dass es die Waffe war. Noch mehr Rascheln folgte und sie merkte, dass er sich die Jacke auszog. "Und ich habe eine sehr gute Idee, wie wir das machen können."

Blanker Horror durchlief Scullys ganzen Körper. Sie sprang auf und versuchte, an ihm vorbei an die Tür zu kommen. Doch er ergriff sie von hinten und hielt ihren schwächlichen, stolpernden Fluchtversuch mit seinen groben Händen auf. Obwohl sie wusste, dass es nutzlos war, kämpfte sie verzweifelt in seinem eisenharten Griff.

"Lass mich los!" schrie sie, doch er lachte nur. Er hob sie in einer schwungvollen Bewegung auf und Scully fühlte keinen Boden mehr unter den Füßen. Sie zappelte, als er sie in hohem Bogen durch die Luft wirbelte und wieder aufs Bett warf.

Scully war während ihrer Zeit beim FBI in sehr vielen gefährlichen Situationen gewesen, und hatte jede mit einer Kraft gemeistert, die sie selbst manchmal überraschte. Aber sie hatte noch nie in ihrem Leben eine solche Angst gehabt. Sie fühlte sich plötzlich erschreckend verletzlich, hilflos und allein. Sie schrie, als sie gegen ihn ankämpfte, trat und kratzte und versuchte, sich ihn vom Leibe zu halten und dabei nicht die Klinge aus der Hand zu verlieren.

"Neiiiiinnn!!" Ihre Schreie waren laut und schrill in ihren eigenen Ohren.  Verzweifelt schrie sie so laut sie konnte und hoffte, dass jemand, irgendjemand, sie hören würde. Scully fühlte, wie er sie bei den Oberarmen packte und wie er sie hochhob. Ehe sie wusste, was wie ihr geschah, knallte sie mit dem Kopf und dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes. Der Aufprall raubte ihr den Atem und sie schnappte nach Luft.

Scully fiel rückwärts auf das Bett und bemerkte kaum die weichen Decken unter sich. Sie fühlte sich schwach und war benommen und sie wusste, dass sie kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Ein schweres Gewicht drückte sie auf die Matratze und sie nahm wahr, dass er jetzt auf ihr lag. Er drückte ihr Mund und Nase zu und zwang sie zum Keuchen. Seine Stimme war ein einziges heiseres Flüstern an ihrem Ohr, das sich meilenweit entfernt anhörte, obwohl sie seinen stinkenden Atem an ihrem Hals fühlen konnte.

"Du musst eines verstehen", zischte er. "Ich mag kein Gerede dabei."

Die Worte erreichten ihr Gehirn und Scully versuchte, einen Sinn daraus zu machen. Aber es fiel ihr ungewohnt schwer herauszufinden, was er meinte.  Dann nahm der Mann seine Hand von ihrem Gesicht und sie zog dankbar in langen Zügen die Luft ein. Er richtete sich auf ihr auf, so dass er jetzt auf ihren Schenkeln saß und seine Knie sich in ihre Hüften vergruben.  Scully versuchte, sich unter ihm zu bewegen, doch es hatte keinen Sinn.  Durch sein Gewicht wurden ihre Beine ganz gefühllos. Wieder musste sie seine Hände ertragen, als der Mann an den Knöpfen ihres Pullovers zog. Er zerrte ihn ihr halb vom Leibe und wandte sich dann ihrem T-Shirt zu. Scully meinte, ein lautes Ratschen zu vernehmen, dann wurde ihre nackte Haut von der kalten Luft erfasst.

Der Mann atmete aus, ein leises pfeifendes Geräusch und Scully fühlte, wie er mit seinen kalten Fingern an dem Verschluss ihres Büstenhalters spielte.  Sie versuchte, ihre Arme zu heben, ihn wegzustoßen, aber ihre schwachen Versuche wurden augenblicklich nichtig gemacht. Der Mann nahm ihre beiden Handgelenke in eine Hand und drückte sie über ihrem Kopf in die Kissen. Sie hatte immer noch die Klinge in der Hand, ihre Faust fest um ihre scharfen Ränder geballt, doch sie war im Moment nutzlos.

Scully fühlte, wie ihr die Tränen kamen, aber sie schwor sich, dass sie ihm nicht die Genugtuung geben würde zu weinen. Ihr Hals brannte von den Schreien, die sie zurückhielt. Die Furcht vor dem Mann zwang sie, die Worte zu verschlucken, die in ihrem Kopf hämmerten—

 

Scully befand sich wie in einem Alptraum ohne Ausweg. Ihre Welt bestand jetzt nur aus diesem Mann: sein eisenharter Griff an ihren Handgelenken, seine Berührung wie Eis an ihrer Haut, sein Körper ein erstickendes Gewicht auf ihr, sein röchelndes Hecheln laut in der Stille des Zimmers. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als sie so unter ihm lag, bis er endlich seinen Griff löste und mit beiden Händen ihren Körper hinunter strich. Sie fühlte, wie er an dem Reißverschluss ihrer Jeans fummelte.

 

Ein panischer Adrenalinstoß durchfuhr sie und Scully handelte ohne zu denken, angetrieben durch puren Horror und dem Instinkt des nackten Überlebens. Als er mit beiden Händen an ihrer Hüfte beschäftigt war, griff sie mit ihrer Linken nach oben und fand sein Gesicht. Sie hörte sein überraschtes Grunzen, als ihre rechte Hand mit der Klinge zwischen ihren Fingern hochschoss und soweit es ging auf sein Gesicht zielte. Sie fühlte den Widerstand als das Eisen sein Gesicht traf und zog es mit zusammengebissenen Zähnen durch. Die Klinge rutschte ihr aus der Hand, als sein Blut über ihre Finger floss.

Der Mann schrie auf, ein kreischender Schrei voll Schmerz und Wut und Scully fühlte, wie er sich etwas von ihr hob. Ohne zu Zögern stieß sie ihn von sich, hob schreiend ihre Knie und trat ihn mit voller Wucht. Mit einem Mal spürte sie sein Gewicht nicht mehr und sie hörte ein lautes Krachen und Klirren, das sich sehr nach brechendem Glas anhörte.

Dann war alles still.

Scully blieb wo sie war, überrumpelt durch die plötzliche Wendung der Ereignisse und bemühte sich Luft zu bekommen. Es war das Atmen des Mannes, das sie aus ihrer Starre herausriss. Sein Atem ging unregelmäßig und nicht sehr laut, und sie erkannte, dass er zwar bewusstlos, aber immer noch am Leben war. Sie saß auf und versuchte instinktiv, sich wieder zu bedecken. Ihr T-Shirt war wertlos, also zog sie den Pullover darüber, ohne sich damit aufzuhalten, es auszuziehen. Sie schaffte es, ihre Jeans wieder zuzuknöpfen, stand vom Bett auf und trat zwei vorsichtige Schritte vorwärts.

Rasch fand sie den bewusstlosen Mann an der Stelle, an der er neben das Bett gefallen war. Sie tastete um ihn herum und fand Holzsplitter, von denen sie annahm, dass es die Überreste des Nachttisches waren. Der Mann musste genau gegen den Tisch gefallen sein, vielleicht sogar mit dem Kopf dagegen geknallt sein. Sie tastete um den Tisch herum und suchte nach der Waffe, doch sie fand nichts. Sie fühlte, wie sie zitterte und zwang sich zur Konzentration. Ihre Zeit war knapp. Sie fasste Mut und suchte seinen ganzen Körper nach der Diskette ab. Doch als sie wieder nichts fand, begann sie in Panik zu geraten, bis ihr einfiel, dass er seine Jacke ausgezogen hatte.

Sie trat über ihn und stolperte zu der Kommode, auf der sie den rauen Stoff seiner Jacke fand. Sie fuhr mit den Händen darüber und fand die Diskette in einer Tasche. Sie nahm sie an sich und steckte sie erleichtert in ihre hintere Hosentasche. Raus hier, raus hier, raus hier, schrie die Stimme in ihrem Kopf und sie brachte ihre Beine dazu, sich zu bewegen. Doch dann zögerte sie, dachte daran, seine Waffe zu suchen. Aber sie hatte zu viel Angst davor, was passieren würde, wenn der Mann sein Bewusstsein wiedererlangte und sie noch im Zimmer war.

So schnell sie konnte ging Scully aus dem Schlafzimmer, quer durchs Wohnzimmer bis zur Wohnungstür. Sie zog sie hinter sich zu und lief den Hausflur entlang zur Treppe, nur auf ihre Flucht konzentriert. Das Gebäude schien seltsam ruhig, und obwohl sie an jede Wohnungstür hämmerte, erwartete sie keine Antwort. Sie bekam auch keine.

Nach einer halben Ewigkeit erreichte Scully die Glastür. Sie suchte den Griff, fest entschlossen, auf die Straße zu kommen und dort nach Hilfe zu suchen, doch die Tür ging nicht auf. Scully tastete weiter und fand ein ungewohntes, großes Stück Metall. Ein Schloss, kam es ihr in den Sinn und ihr Hals wurde ganz trocken mit der Erkenntnis, dass der Fremde sie völlig in diesem Haus eingeschlossen hatte. Es war jetzt nur eine Frage der Zeit, bevor er aufwachte...

Scully verlor sich schon fast völlig in ihrer Panik, als ihr Charlie einfiel. Das Dach, die Feuerleiter! Keuchend kletterte sie wieder die Treppen hinauf, ihre Hände an der Wand, um das Gleichgewicht zu behalten, bis sie schließlich die Tür erreichte, die aufs Dach führte. Sie riss sie auf und stieg so schnell sie konnte weiter hoch, bis sie ihr Ziel erreichte und ihr die frische Luft entgegen blies.

Sie knallte ungeachtet des Lärms die Türe hinter sich zu. Sie wollte so viele Hindernisse wie nur irgend möglich zwischen sich und dem Mann bringen. Scully taumelte über das Dach und suchte in dem ungewohnten Bereich weiter hinten, wo sie die Geräusche der Feuerleiter immer gehört hatte. Dann fand sie das Metall, von dem sie nur annehmen konnte, dass es der Anfang der Treppe war. Voller Schreck aber fest entschlossen fasste sie es und schwang ihre Beine über den Rand des Daches, unglaublich erleichtert, als sie eine Stufe unter sich spürte anstatt hohle Luft.

Scully stieg die Stufen trotz ihrer Unfähigkeit zu sehen, wo sie hintrat, mit erstaunlicher Schnelligkeit herunter. Sie bewegte sich wie ein Roboter. Sie hatte größere Angst vor dem Mann als vor einem Sturz von der Leiter. Sie war nur einige Schritte weit gekommen, als sie hörte, wie die Tür auf dem Dach aufgestoßen wurde mit einem Knall, der ihr durch Mark und Glieder fuhr.

 

<neinneinneinbitteGottnichtschonwiedernichtschonwiedernichtschonwiederbittebitte>

 

Die Schritte des Mannes waren ohrenbetäubend laut auf dem Teerbelag des Daches und Scully fühlte, wie die Feuerleiter wackelte, als er sich darauf schwang. Sie kletterte weiter abwärts und hoffte, dass sie den Boden erreichen würde, bevor er sie zu fassen bekam, und fliehen konnte. Es kam ihr vor, als hätte die Leiter gar kein Ende, doch in dem Moment trat sie mit dem linken Fuß auf die letzte Stufe, danach traf sie nur Luft. Spring, spring, spring, schoss es ihr durch den Kopf und sie tat genau das.

Scully traf hart auf den Boden auf und schrie auf, als ein stechender Schmerz ihren Knöchel durchfuhr. Obwohl sie nicht weit gefallen war, war sie schlecht gelandet. Sie ignorierte den Schmerz und kam auf die Füße. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie lief, doch alles, woran sie denken konnte war, so weit wie möglich von den krachenden Geräuschen wegzukommen, die von der Feuertreppe hinter ihr kamen.

Sie war nur ein paar Dutzend Schritte weit gekommen, als sie hörte, wie der Mann näher kam. Sie schrie laut auf vor Angst und Wut und Hilflosigkeit, als er sie erreichte und zu Boden warf. Ihr Schrei erstickte in ihrem Hals, als er sich auf sie warf und ihr die Diskette aus der Tasche riss.

"Dämliche Schlampe", fluchte er. Die Worte schnitten scharf in ihr Bewusstsein. "Du solltest lernen, dass man nichts anfangen soll, was man nicht zu Ende bringen kann."

 

 

 

 

X-10 X-10

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (11/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Mulder warf sich zum dritten Mal gegen das bruchsichere Glas der Haustür, als er den Schrei hörte.

Ihren Schrei hörte.

Die Angst, den Schmerz, die Qualen hörte.

Und hörte, wie der Schrei abrupt abriss.

Ihm blieb das Herz im Hals stecken, als er an dem älteren Ehepaar vorbeilief und gerade noch wahrnahm, wie die Frau kreischte: "Stanley, ruf die Polizei! Stanley..."

Mulder war augenblicklich um das Gebäude herum gerannt und warf sich gegen den Holzzaun, der ihm den Weg versperrte. Der spröde Zaun gab leicht seinem Gewicht nach und Mulder stob über den leeren Hof auf die Hinterseite des Hauses zu.

"Stehenbleiben, keinen Schritt weiter!"

Mulder blieb stehen, doch nicht wegen dem Befehl, sondern wegen dem Anblick, der sich ihm bot. Das erste, was er sah, war Blut und er brauchte einige kostbare Sekunden, bevor er darüber hinaus sehen konnte.

Da war ein Mann. Ein Mann, den Mulder noch nie in seinem Leben gesehen hatte, doch in dem Moment war es ihm egal, wer er war. Seine Augen waren auf Scully fixiert, die er mit einem Arm fest an sich gepresst hielt, so dass sie fast auf den Zehenspitzen stand. In der anderen Hand hielt er eine Waffe, von der Mulder rasch erkannte, dass sie seine eigene war. Der Lauf der Pistole war auf Scullys Kinn gerichtet und zwang ihren Kopf nach oben in einem grausamen Winkel.

Und das Blut... überall. Auf ihrem Gesicht, ihren Wangen, auf ihren Händen, die den Arm umschlossen, der sie festhielt, als ob sie sich stützen müsste. Mulder brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass das Blut von einer Wunde in seinem Gesicht kam, ein riesiger Riss, der fortwährend blutete.

Die Augen des Mannes waren pechschwarz, kalter Stahl. Er war groß und gut gebaut. Er hielt Scully an sich, als ob sie überhaupt nichts wiegen würde.  Er verhielt sich alarmierend ruhig, als ob er die Situation völlig unter Kontrolle hatte. Seine Hand hielt die Waffe eisern an Scullys Hals und als er Mulder anstarrte, drückte er sie sogar noch weiter warnend in ihr Genick.

Mulders fotografisches Gedächtnis nahm das alles in Sekundenschnelle auf, doch der Großteil seiner Aufmerksamkeit galt Scully. Ihr Pullover war falsch geknöpft und ihr T-Shirt hing erschreckend seltsam an ihr. Mulder traf es wie ein Blitzschlag. Er sah einen riesigen Striemen auf ihrer Wange, einen dunklen Bluterguss und ihr kreideblasses Gesicht. In ihren Augen stand die nackte Angst. In all der Zeit, in der sie zusammengearbeitet hatten, hatte er nie einen solchen Ausdruck an ihr gesehen und er betete zu Gott, dass er ihn nie wieder sehen müsste.

Mulder wollte sie beruhigen und hob seine Hände. Er sprach so ruhig wie er nur konnte. "Immer mit der Ruhe", sagte er und sah mit einer Spur von Erleichterung, wie Scully beim Klang seiner Stimme den Kopf hob. "Ich bin unbewaffnet. Tun Sie nichts, was Sie später bereuen könnten."

Der Mann starrte ihn lediglich weiter an. Die nächsten Worte waren Scullys. Ihre Stimme war erstickt und heiser, als sie leise seinen Namen flüsterte.

"Mulder... er hat die Diskette."

Ihre Worte machten den Mann wütend und er quetschte sie noch enger, so dass sie nach Luft schnappen musste. "Du hast hier gar nichts zu sagen", zischte er böswillig.

Mulder konnte nur hilflos zusehen, wie der Mann seinen Griff an ihr lockerte, aus Angst etwas zu tun, was sie noch mehr in Gefahr bringen könnte. Er zwang sich zu ruhigen, festen Worten und fragte, "Sie haben die Diskette. Was wollen Sie noch?"

Der Mann verzog den Mund zu einem Grinsen. "Antworten, Mr. Mulder. Was ich will, sind Antworten."

"Okay", sagte Mulder und versuchte, die Situation abzuschätzen und einen Ausweg zu finden. "Wir können über alles reden, was Sie wollen, solange Sie sie gehen lassen." Er trat einen kleinen Schritt auf ihn zu, doch seine Bewegung blieb nicht unbemerkt. Der Mann trat seinerseits einen Schritt zurück und zog Scully mit schleifenden Füßen mit sich.

Der Mann lachte und Mulder lief es kalt über den Rücken. "So einfach ist das nicht, FBI-Agent. Ich weiß, wie der Hase läuft."

Mulder nickte und ballte seine Hände zu Fäusten. Er wusste, dass es verhängnisvoll sein könnte, jetzt dem Impuls nachzugeben, das Leben aus diesem Mann herauszuquetschen. "Dann fragen Sie."

"Wem haben Sie und Dana noch von der Diskette erzählt? Wer weiß noch davon?"

"Niemand", sagte Mulder fest. "Wir haben niemandem etwas von der Diskette gesagt." Bei dieser Lüge fühlte er sich einigermaßen sicher, denn er würde nie im Leben diesem Typen auf die Nase binden, dass die Einsamen Schützen auch davon wussten, geschweige denn würde er etwas über seinen Kontakt zu ihnen verraten.

"Warum sollte ich das glauben?" fragte der Mann und stieß Scully mit der Waffe.

"Weil Sie alle Karten in der Hand halten, und das wissen Sie", antwortete Mulder und starrte den Mann an. "Ich hätte nichts davon, wenn ich lügen würde."

Einige Sekunden verstrichen, die Mulder wie Stunden vorkamen, in denen er auf eine Antwort wartete. Dann nickte der Mann langsam und grinste breiter.  "Ich muss zugeben, ich glaube Ihnen, FBI."

"Dann lassen Sie sie gehen."

"Nein", sagte er und schüttelte fast reuevoll den Kopf. "Tut mir leid, das geht nicht. Dana und ich haben noch etwas zu erledigen, stimmt's Dana?"

Mulders Augen glitten zu Scully, die stocksteif stehenblieb, wo sie war.  Nur ihre Unterlippe zitterte. Er wünschte sich mehr als zuvor, dass sie ihn sehen könnte, dass er mit Augenkontakt mit ihr kommunizieren könnte, wie sie es schon so oft getan haben.

"Aber zuerst...", sprach der Mann weiter. "Es tut mir leid, aber Ihre Dienste werden hier nicht mehr verlangt, Mr. Mulder."

"Was wollen Sie machen? Mich hier im Hof erschießen?" Mulder versuchte eine Zuversicht in seine Stimme zu legen, die er nicht hatte. "Die Nachbarn haben bereits die Polizei gerufen."

Wieder lachte der Mann. "Wenn die Bullen hier ankommen, sind Dana und ich schon längst verschwunden." Er richtete die Waffe an Scullys Ohr. "Außerdem könnte ich dich jetzt erschießen, auf die Bullen warten und trotzdem hinterher noch als freier Mann gehen."

Seine Worte hielten eine dunkle Wahrheit, die in Mulders Ohren widerhallten. Er hatte keine Ahnung, wer er war oder welche Interessen er genau verfolgte, aber irgendetwas sagte ihm, dass er nicht bluffte, dass er sich nicht scheuen würde, genau das zu tun, was er eben gesagt hatte.  Mulder fielen hundert Strategien ein, was er tun könnte, aber er verwarf jede einzelne von ihnen, weil das Risiko für Scully einfach zu hoch war.  Aber er wollte verdammt sein, wenn er sich so einfach ergeben musste und ihm Scully überlassen musste.

"Ich bin sicher, es gibt einen Weg, wie wir das aushandeln können...", sagte Mulder.

"Mr. Mulder", der Mann schnitt ihm das Wort ab, "es wurde bereits ausgehandelt."

In diesem Moment brach Scully in dem Armen des Mannes mit einem Stöhnen zusammen. Ihr Kopf fiel auf eine Seite und ihre Knie gaben nach. Mulders Herz machte einen Sprung und er trat zwei Schritte vorwärts, als der Mann Scully ansah und die Waffe von ihrem Kopf rutschte, als er seinen Griff erneuern wollte.

Dann passierte alles wie in Zeitlupe—

Scully biss in den Arm, der sie festhielt—

Der Mann schrie auf, als er sie losließ—

Ein Schuss löste sich in einer ohrenbetäubenden Explosion—

Scully fiel auf den Boden, machte sich klein und rollte weg von ihm—

Ohne an die Folgen zu denken, ergriff Mulder die Chance, die Scully ihm gegeben hatte und schnellte auf den Mann zu. Ungeachtet seiner Waffe krachte Mulder in ihn hinein.

Sie fielen beide zu Boden und Mulder verzog das Gesicht. Er hörte ein lautes Scheppern und sah, dass der Mann seine Waffe fallengelassen hatte.  Mulder vergeudete keine Zeit, mit aller Kraft auf den Mann einzuschlagen.  Der Mann widersetzte sich mit der Intensität eines Tigers, wehrte Mulders Faustschläge ab und schlug seinerseits auf ihn ein. Aus dem Augenwinkel sah Mulder, wie Scully auf Händen und Füßen von ihnen weg auf die Hauswand zu kroch.

"Lauf!" schrie er, erleichtert, dass sie nicht getroffen war. Er wollte, dass sie so schnell wie möglich floh. "Lauf weg!" Er verlor sie aus den Augen, als er das erste Mal getroffen wurde und er schmeckte Blut im Mund. Als er das nächste Mal zu ihr hinsehen konnte, war sie verschwunden und Mulder fühlte wie ihm ein Stein vom Herzen fiel.

Der Mann katapultierte sein Knie in Mulders Unterleib und er stöhnte auf.  Seine Schläge hämmerten wie die eines professionellen Boxers auf ihn ein und bald konnte Mulder nur versuchen, ihnen auszuweichen. Seine brutalen Schläge regneten ungehalten auf ihn ein und Mulders Kopf begann sich zu drehen. Er schaffte es, einen gezielten Schlag zu treffen und hörte das brechen von Knochen unter seine Faust, doch es hatte kaum einen Effekt auf den Mann.

Mulder fühlte, wie sein Widerstand schwächer wurde, zerstört von der Kraft der Angriffe. Er konnte die Waffe sehen, doch sie lag zu weit entfernt. Ein weiterer Schlag traf seinen Kopf und er ächzte, als ein wahnsinniger Schmerz durch sein Gehirn stach. Der Mann schlug rastlos auf ihn ein und Mulder wurde schwächer und schwächer. Er wusste, dass er schnell das Bewusstsein verlieren würde, alles war verschwommen und seine Kraft verließ ihn wie Sand in einer Sanduhr. Ein einziger Gedanke ergriff ihn, und ließ ihn nicht mehr los—

 

<DanaDanaDanaDanaDanaDanaDanaDana>

 

und er biss die Zähne zusammen aus Angst um sie. Er betete für die Kraft, die er brauchte, um seinen Gegner zu bezwingen.

 

 

 

 

 

Scully sank mit hämmerndem Herzen an der Wand auf der anderen Seite des Hauses zusammen. Ihr Hals war wie zugeschnürt von den Tränen, die sie nicht vergießen wollte, mit den Schreien, die sie nicht schreien wollte. Sie wusste, dass sie zitterte, ihr Körper geschüttelt von der Erkenntnis der Unschlüssigkeit. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wie sie Mulder helfen konnte, aber sie wusste, dass sie ihn nicht alleine lassen konnte. Sie würde ihn nicht allein lassen, koste es, was es wolle.

Sie hörte den Lärm des Kampfes, der um die Ecke ausgetragen wurde und hörte Mulders Ächzen und Stöhnen, das ununterbrochen an ihre Ohren drangen. Scully hatte keine Ahnung, wer in dem Kampf die Oberhand hatte und die Verzweiflung stieg in ihr auf. Mulder hatte große Schmerzen, sie konnte es hören, und sie war wütend auf ihre eigene Unfähigkeit mehr zu tun, als nur zu hören und zu warten.

Dann zerriss ein Schuss die Luft und raubte ihr den Atem, als sie schrie—

 

< neinneinneinneinneinneinneinnein >

 

Ein weiterer Schuss folgte gleich darauf. Dann fiel Stille über den Hof.

Scully erstarrte kreidebleich und lauschte verzweifelt...nach irgendetwas.

 

 

< ohMulderneinneinneinestutmirsoleidestutmirsoleid >

 

Nach einigen Sekunden hörte sie Schritte näher kommen, die auf dem Kiesel auf dem Hof knirschten. Mit zitternden Fingern fand Scully etwas Großes und Schweres neben sich. Einen großen Stein. Sie umklammerte ihn und hob ihn hoch, obwohl sie wusste, dass sie gegen eine Waffe nie ankommen könnte. Doch ihre Wut auf den Mann hatte eine solche Intensität erreicht, dass sie völlig von ihrem Hass geleitete wurde, sie hielt nur an ihrer Rache fest. Sie wusste, dass sie nur eine Chance hatte und wartete auf das Unausweichliche.

 

 

 

 

Mulder kam um die Ecke und erblickte Scully. Sie atmete genauso schwer und hastig wie er und ihre Augen waren weit aufgerissen. Er eilte zu ihr, mit einer Welle von Erleichterung, ihren Namen zu rufen. Nicht sehr laut, aber sehr bedeutungsvoll. "Dana!"

Sie hatte einen Stein in der Hand, den sie in Angriffshaltung hielt, und obwohl sich ihr Arm beim Klang seiner Stimme senkte, sagte sie nichts. Er kniete neben sie und nahm sie in die Arme. Sie zitterte erbärmlich und er wurde von ihrem Schütteln mitgerissen. Er hielt sie fester und versuchte, sie zu beruhigen. Er suchte nach Worten, doch alles, was ihm einfiel, war ihr Name. "Dana... Dana... Dana..."

Sie erwiderte seine Umarmung nicht, sie war stocksteif. Mulder sah, dass sie immer noch den Stein hatte und er nahm ihn ihr sanft aus der Hand. Er legte ihre Hand an sein Gesicht und strich ihre Finger über seine Gesichtszüge.  "Dana... ich bin es. Mulder. Es ist alles in Ordnung... alles ist okay..."

Scully entspannte sich etwas, doch sie hörte nicht auf zu zittern. Ihre Hand strich immer noch über sein Gesicht, als sie murmelte, "Mulder... ich dachte... ich dachte..."

"Ich weiß", sagte er und versuchte, sie noch näher an sich heran zu ziehen. In der Ferne konnte er lauter werdende Sirenen hörten. "Der Mann... wo..."

"Er ist tot", sagte Mulder. Sie nickte und legte ihren Kopf an seinen Hals. Er hielt sie noch einen Moment und löste sich dann widerwillig von ihr. "Wir müssen weg, Scully", sagte er. "Die Polizei wird gleich hier sein."

Scully nickte noch einmal und griff nach seiner Hand. Er nahm sie und zog sie mit sich hoch. Er richtete die Waffe in seiner Jacke, um besser den Arm um sie legen zu können und führte sie die Gasse hinunter auf den Ausgang am anderen Ende.

"Mulder?" Ihre Stimme war leise und schwach. "Die Diskette... hast du die Diskette?"

 

Mulder sah zu ihr hinunter und musste fast lachen, weil ihr ein so vergleichsweise unwichtiges Detail einfiel, wo sie doch gerade der Hölle entkommen waren. Aber er war sich der Wichtigkeit des Stücks Metall wohl bewusst, das er in seiner Begierde, zu ihr zu kommen, völlig vergessen hatte.

"Nein", sagte er und führte sie zurück zu der Stelle, an der die Leiche lag. Scully stand neben ihm, als er sich hinhockte und in den Taschen des Mannes nachsah. Er fand die Diskette und steckte sie in seine eigene Tasche, bevor er sie wieder beim Arm nahm. "Alles klar", bestätigte er.

 

 

 

 

Charlie fuhr um die Ecke. Seine Beine taten ihm schon weh, als er immerzu in die Pedale trat. Er war müde und außer Atem und wünschte sich, er hätte Geld, um sich etwas zu trinken zu holen. Überrascht wegen dem Lärm hinter dem Haus verlangsamte er seine Geschwindigkeit, als er sich seiner Straße näherte. Da standen drei Polizeiwagen quer auf der Straße und eine große Anzahl von Polizisten schwirrte um das Haus herum. Als er auf den Parkplatz fuhr, weiteten sich Charlies Augen, als er sah, dass einige der Polizisten ihre Waffen gezogen hatten.

Charlie drückte den Ständer seines Fahrrads herunter, ließ es vor dem Haus stehen und näherte sich soweit wie er es wagte dem Geschehen. Ein Krankenwagen stand inmitten der Polizeiwagen, aber die Lichter waren aus und die Sirene heulte nicht. Er sah zu, wie zwei Männer eine Trage hinter dem Haus trugen. Es war etwas auf der Trage, aber das weiße Laken darüber deckte es völlig zu. Charlie wusste vom Fernsehen, dass es bedeutete, dass dort eine Leiche lag. Er erschauerte, aber er sah nicht weg. Ein Teil von ihm wünschte sich, dass das Laken hinunterfallen würde, damit er sehen konnte, wer darunter lag, aber im Grunde wollte er es aus Angst davor, wer es sein könnte, gar nicht wissen.

"Charles!" Das Rufen seines Vaters veranlasste ihn, sich erschrocken von der Szene abzuwenden. "Was machst du da draußen?" Sein Vater stand mit wutentbranntem Gesicht auf der Schwelle seines Hauses.

"Nichts, Papa. Ich sehe nur zu."

"Dann komm rein, jetzt gleich. Ich werde es dir nicht zweimal sagen." Sein Vater winkte ihn zu sich. Charlie wusste, dass er besser nicht widersprechen sollte. Er sah ein paar Mal zurück zu der Pension, aber er konnte keine weiteren Tragen mehr sehen. Die Türen des Krankenwagens wurden geschlossen und das Fahrzeug schwenkte aus dem Parkplatz.

Charlie beeilte sich nun, sein Fahrrad zu schnappen und es hinter dem Haus in die Garage zu stellen. Achtsam schloss er die Tür und ließ das Schloss zuschnappen. Obwohl er wusste, dass sein Vater auf ihn wartete, nahm er sich noch die Zeit, hoch zu dem Dach gegenüber zu blicken, auf dem er sie das erste Mal vor ein paar Tagen gesehen hatte. Der Himmel darüber verdunkelte sich bereits und er konnte den ersten Stern des Abends schwach in dem blasser werdenden Blau sehen. Irgendwie beruhigte ihn der Stern und er musste lächeln. "Auf Wiedersehen, Lisa", flüsterte Charlie, bevor er sich umdrehte und die Treppen zu seiner Küchentüre aufstieg.

 

 

 

 

Das laute Klingeln des Telefons hallte in dem Büro, und obwohl der Mann den Anruf bereits erwartet hatte, ließ er fast seine Zigarette fallen. "Ja?" sagte er mit wachsender Vorfreude.

Christophes Stimme war kalt und gelassen. "Ich habe schlechte Nachrichten."

"Schlechte Nachrichten?" Seine Vorfreude verschwand augenblicklich, als er die Zigarette ausdrückte und sich eine neue anzündete. "Was für schlechte Nachrichten? Ich hatte den Eindruck, dass Sie die Lage im Griff hätten."

Einen Moment herrschte Stille, bevor Christophe antwortete. "Den Eindruck hatte ich auch. Die Details sind bis jetzt noch nicht völlig klar, aber wie haben noch nicht das Objekt bekommen, das Sie suchen."

Der Mann nahm einen langen Zug, um seinen Ärger zu zügeln. "Und der andere Teil des Auftrags? Ist das wenigstens erledigt?"

"Nein." Das Wort echote durch die Leitung. Der Mann sagte nichts und wägte seine Möglichkeiten gegeneinander ab. Er wusste, dass das Scheitern dieser Mission schwerwiegende Konsequenzen haben würde.

Christophe schien das Verhängnis der Situation ebenfalls zu erkennen und sagte schnell: "Ich kann Ihnen versichern, dass so etwas nicht noch einmal passieren wird. Ich werde mich sofort persönlich mit dem Problem befassen."

"So, werden Sie?" Ein Hauch von ironischem Grinsen umspielte die Lippen des Mannes, als er die Luft einzog. "Und wer sagt mir, dass Sie dieses Mal erfolgreich sein werden?"

"Es ist jetzt auch für mich persönlich wichtig." Christophe hielt inne.  "Einer meiner wertvollsten Männer ist tot. Und sein Tod wird gerächt werden."

"Ich verstehe", sagte der Mann, dieser Idee nicht ganz abgeneigt. "Dann haben Sie meine Erlaubnis, es noch einmal zu versuchen."

"Danke", antwortete Christophe und dem Mann war klar, dass er die Oberhand hatte. Zumindest für einen Moment.

"Allerdings", warf der Mann ein, "wenn Sie dieses Mal versagen, werde ich nicht für den Fortgang der Situation verantwortlich sein."

"Verstanden", gab Christophe zurück, dann war die Leitung tot.

Der Mann hielt den Hörer noch für ein paar Sekunden und dachte über die neue Wendung in dem immer komplizierter werdenden Spiel. Dann legte er den Hörer wieder auf die Gabel, nahm die zerknitterte Zigarettenschachtel vom Tisch und verließ das Büro.

 

 

 

 

Scully saß neben Mulder auf dem Rücksitz des Taxis. Trotz Mulders warmen Körper und seinen Armen um sie herum, war ihr kalt. Sie wusste, dass sie immer noch zitterte, und biss die Zähne zusammen, als ob schierer Wille das Zittern stoppen könnte. Erfolglos. Sie versuchte, an Mulder zu denken, an seine Nähe und das gleichmäßige Heben und senken seiner Brust neben ihr, aber sie konnte ihre Gedanken nicht von dem Mann losreißen. Sie konnte sein Blut auf ihrem Gesicht riechen und das schreckliche Gewicht auf ihr fühlen.  Die Erinnerungen waren immer noch frisch. Wieder zitterte sie und Mulder küsste sie sanft auf den Kopf. "Wir sind gleich da", sagte er ruhig. Sie nickte und gab eine Ruhe vor, die sie nicht besaß.

Er hatte Recht, was die Entfernung betraf, denn ein paar Minuten später hielt das Taxi an. Scully fühlte, wie Mulder von ihr wegrutschte und hörte das Geräusch der Tür, als er sie öffnete. Sie blieb sitzen, bis sie seine Hand auf ihrer fühlte, die sie sanft über den Sitz zog. Sie trat aus dem Wagen und fühlte Mulders Hand auf ihrem Kopf, als er sie unter dem Türrahmen hindurch führte. Sie stellte sich neben ihm und lauschte den hektischen Geräuschen der Menschenmenge um sich herum.

"Wie viel?" hörte sie Mulder fragen.

"Elf-fünfundsiebzig", antwortete der Taxifahrer.

Scully hörte, wie Mulder in seiner Brieftasche kramte und wartete geduldig, bis er dem Fahrer das Geld gegeben hatte. "Okay", sagte er. "Hier haben Sie dreißig. Sie können den Rest behalten, aber Sie haben uns nie mitgenommen, verstanden?"

"Laut und deutlich", antwortete der Fahrer und Scully konnte ihm anhören, dass sie nicht die ersten waren, die ihn auf diese Weise bestachen.

Das Quietschen der Reifen war laut in Scullys Ohren, als das Taxi davonfuhr. Mulder nahm sie wieder beim Arm. Sie folgte ihm, als sie einige Treppen hinaufstiegen. "Alles in Ordnung?" fragte er sorgenvoll, als er sie durch die Türe führte.

"Ja, es geht mir gut", gab sie zur Antwort, doch er merkte, dass es nicht ganz stimmte. "Sind wir da? Ist das hier der Bahnhof?

"Ja", sagte Mulder. "Wir verschwinden von hier. Aber erst sollten wir uns ein wenig frisch machen."

Scully nickte wortlos. Sie ging mit ungewohnt vorsichtigen Schritten neben ihm her, weil ihre Beine noch nicht aufgehört hatten zu zittern. Nach ein paar Sekunden hielten sie an. "Wir sind jetzt bei den Waschräumen. Warte hier eine Sekunde." Er ließ ihre Hand los und sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Dann kam Mulder zurück und sagte, "Okay, es ist leer. Das Waschbecken ist an der hinteren Wand und die Toilette in der rechten Ecke.  Schließ hinter dir ab und mach niemandem auf außer mir."

"Okay", sagte Scully und ging an ihm vorbei ins den Toilettenraum. Sie zog die Tür hinter sich zu und tastete nach dem Schloss. Sie fand es, drehte es einmal nach links und zog daran, um zu prüfen, ob es wirklich zu war. Sie hörte, wie sich Mulder entfernte und wieder überkam sie die gewisse Angst, die sie immer befiel, wenn er weg war. Sie schüttelte sie ab und machte sich mit quietschenden Sneakers auf den Weg zum Waschbecken.

Dort angekommen stützte sie sich darauf und seufzte. Sie war müde, so müde, wie sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen war. Als sie vor Charles' Geburt noch die Jüngste gewesen war, hatte sie sich völlig verausgabt, um mit ihren älteren Geschwistern in den Spielen mitzuhalten, deren Regeln sie nicht verstand und die Geschicklichkeiten erforderten, die sie nicht besaß.  Jetzt fühlte sie sich genauso erschlagen, genauso unfähig, weiter zu kämpfen und sie empfand genau dieselbe Erschöpfung. Vage konnte sie sich an einstige Worte erinnern—

 

< MomdieKleinebrauchtnePauseschicksieweg >

 

Melissas Worte, geprägt von kindischem Spott. Der Gedanke an ihre Schwester versetzte Scully einen Schlag in den Magen und sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Nicht jetzt, nicht jetzt, betete sie und fasste den Rand des Beckens fester, um die Kontrolle zu bewahren.

 

Als sie sich wieder bewegen konnte, ohne völlig zusammenzubrechen, fand Scully den Wasserhahn und ließ das Wasser in das Becken laufen.

 

 

 

X-11 X-11

 

 

 

 

 

 

IM BLAUEN HOTEL  (12/12)

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

 

Mulder bespritzte zum sechsten und was er hoffte letzten Mal sein Gesicht mit Wasser. Er warf einen Blick in den Spiegel und fand, dass er so einigermaßen akzeptabel aussah und drehte das Wasser ab. Er trocknete sein Gesicht mit Papierhandtüchern ab, die wie Sandpapier auf seiner zerschundenen Haut wirkten und verzog das Gesicht.

Mulder blickte wieder in den Spiegel. Er hatte eine hässliche Wunde über einem Auge, die nicht aufhören wollte zu bluten. Er presste er eines der Papierhandtücher dagegen, um die Blutung zu stoppen. Seine Unterlippe war an zwei Stellen gerissen, aber die Schnitte waren nicht so sichtbar, als wenn er glattrasiert wäre. Der Rest seines Gesichtes, tat zwar höllisch weh, weis aber keine weiteren Beulen auf, stellte er erleichtert fest.

Seine Brust jedoch war eine ganz andere Geschichte. Als er sein schmutziges und zerfetztes T-Shirt anhob, konnte er bereits die blau-schwarzen Flecken auf seinem Brustkorb sehen. Für einen Moment hatte er befürchtet, dass einige Rippen gebrochen sein könnten, aber das schien zum Glück nicht der Fall zu sein. Allerdings wäre es untertrieben, wenn man sie als stark geprellt bezeichnen würde. Er seufzte und diese kleine Bewegung tat weh.

Mulder steckte sein T-Shirt wieder in seine Jeans zurück und schloss den Reißverschluss der Windjacke. Die Jacke war nicht in einem so schlechten Zustand, wie er erwartet hatte, und er schaffte es, mit noch mehr Papiertüchern und der Seife vom Spender, den größten Dreck davon runterzubekommen. Seine Jeans war nicht in einer so guten Verfassung und er staubte sie lediglich ab so gut er konnte.

Mulder starrte sein Spiegelbild an und war überrascht, wie sehr er sich in den letzten sieben Wochen verändert hatte. Der Mann, der ihn ansah, war blass und ausgemergelt und hatte Linien unter den Augen, die Mulder noch nie bei sich gesehen hatte. Ihm wurde plötzlich klar, dass er sich selbst fremd geworden war.

Er schüttelte den Gedanken ab und ging aus dem Waschraum. Er durchquerte den Gang und klopfte an die Türe auf der Gegenseite. "Lisa? Ich bin's."

Scully öffnete die Tür und tastete nach seiner Hand. Sie hob ihren Kopf und fragte, "Besser?"

Mulder sah, dass ihre Haare um ihr Gesicht vom Wasser ganz feucht waren.  Scully hatte es geschafft, den Dreck aus ihrem Gesicht zu waschen und ihre Haut war jetzt, ausgenommen von dem hässlichen dunklen Bluterguss, wieder glatt und sauber. Sie hatte ihr T-Shirt gleich ganz weggeworfen und jetzt nur noch die ordentlich geknöpfte Strickjacke an. Ihre Jeans sahen genauso wie seine aus, mitgenommen und schmutzig, aber Mulder glaubte nicht, dass es sehr auffallen würde.

"Viel besser", versicherte er ihr und sie lächelte. Mulder strich vorsichtig über die Wunde in ihrem Gesicht. "Wir müssen es kühlen", sagte er, doch sie schüttelte den Kopf und wich ihm aus.

"Das ist schon in Ordnung, Rick", sagte sie. "Lass uns bloß hier verschwinden."

"Schon dabei", stimmte er zu und führte sie den Gang hinunter.

 

 

Carl lächelte, als er geduldig wartete, bis die ältere Dame auf der anderen Seite der Glastheke ihr Geld aus der Tasche geholt hatte. Sie legte jeden Schein auf die Theke und überprüfte seinen Wert, bevor sie wieder in ihre riesige Tasche griff und noch mehr herausholte. Sie blickte ihn an und lächelte entschuldigend. "Bitte entschuldigen Sie, junger Mann, es dauert nur eine Sekunde."

"Lassen Sie sich ruhig Zeit", antwortete Carl, und sein Grinsen wurde breiter, als sie ihn 'junger Mann' nannte. Obwohl sie wahrscheinlich gute zwanzig Jahre älter als er war, war es ihm mit seinen zweiundsechzig Jahren lange nicht mehr untergekommen, so genannt zu werden. Seine Haut war zwar noch nicht sehr faltig, doch hatten seine Haare bereits zu Zeiten Kennedys zu grauen angefangen, und das, fand Carl, war schon ziemlich lange her.

Als er auf die alte Dame wartete, schweiften seine Gedanken ab, wie sie es immer taten, wenn er arbeitete. Warum hatte sie wohl diesen Zug gewählt und wo wollte sie hin? Bestimmt die Großmutter von jemandem, dachte er, als er die Plastikhüllen mit den Fotos in ihrem Portemonnaie sah. Vielleicht sogar eine Ur-Großmutter, die für eine oder zwei Wochen ihre Enkelkinder besuchen wollte. Carl schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf und war froh, dass seine eigenen Enkelkinder noch nicht groß genug waren, um selber Kinder haben zu können.

"Also gut", kündigte die Dame schließlich an. "Ich habe es genau passend und meine Senioren-Karte ebenfalls." Sie schob das Geld in die silberne Schublade unter Carls Fenster. Er zog es auf seiner Seite an sich und zählte es noch einmal durch.

"Gut", sagte Carl. "Hier ist Ihr Ticket." Er schob den Umschlag zu der Dame, die ihn freundlich anlächelte und es zusammen mit den Fotos in ihre große Tasche steckte. "Gute Reise wünsche ich Ihnen."

"Danke sehr", antwortete die Dame mit einem Nicken. "Danke für Ihre Hilfe, junger Mann."

Carl grinste und winkte ihr nach, als sie weiterging. Er beobachtete, wie sie sich auf den Weg zu den Zügen machte, und wandte er sich seinen nächsten Kunden zu. Sein Lächeln verschwand augenblicklich, als er das Pärchen vor sich stehen sah und er war mit einem Mal hellwach.

Es war ein junges Pärchen, zwar älter als seine Enkelkinder, aber nicht sehr viel. Nicht alt genug um zu rechtfertigen, warum sie so mitgenommen aussahen. Der Mann war groß und blickte ihn ernst an. Die Frau stand dicht bei ihm und Carl merkte mit einem Schlag von Mitgefühl, dass ihre blauen Augen leer waren. Carl verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, die Leute, die an seine Kasse kamen zu beobachten, und kaum etwas konnte ihm entgehen. Er bemerkte die Beulen und Wunden an dem Paar und wie die Hand der Frau zitterte, als sie sich am Arm des Mannes festhielt. Doch er sagte nichts außer seinem üblichen freundlichen Grüßen. "Willkommen bei Amtrak. Was kann ich für Sie tun?"

"Wir hätten gerne zwei Fahrscheine", sagte der Mann und Carl nickte.

"Wohin bitte?" fragte er und sah, wie die Frau fragend aufschaute.

Der Mann zögerte. "Los Angeles", antwortete er dann.

 

 

"Okay", erwiderte Carl und blickte auf die Karte vor ihm. "Das wäre ein Transkontinental-Ticket. Sie nehmen am besten den Sunset Limited."

"Der fährt nach Los Angeles?"

"Ja, über Texas, New Mexiko und Arizona." Carl drehte sich nach dem Plan an der Wand an seiner Seite um. "Ein Zug ist gestern aus Florida gefahren, der hier heute Abend um sieben Uhr zehn abfährt."

Der Mann nickte und legte seine Hände auf die der Frau, als er antwortete.

"Den nehmen wir."

"Welche Fahrscheine möchten Sie gerne, Sir?" fragte Carl und der Mann zögerte wieder.

"Einen Schlafwagen. Etwas mit Privatsphäre."

Carl runzelte die Stirn und sah auf der Liste nach. "Dafür muss man normalerweise im Voraus reservieren, Sir. Ich glaube, die dürften alle ausgebucht sein."

"Könnten Sie nachsehen, bitte?"

Carl nickte und tippte es in seinen Computer ein. Seine Arthritis versetzte ihm einen Stich in seinen rechten Arm, doch er ignorierte ihn wie immer. Er konnte hören, wie die Frau dem Mann etwas zuflüsterte, aber er versuchte, nicht hinzuhören.

"Rick, wir brauchen das nicht. Wir können es uns nicht leisten."

"Keine Sorge", antwortete der Mann gerade, als Carl gerade die gesuchte Information auf dem Bildschirm sah.

"Sie haben Glück, Sir. Wir haben zufällig ein Abteil frei. Es ist eines aus der Luxusklasse, genau das Richtige für Sie beide. Es hat zwei Betten. Das untere ist ein Doppelbett, mit einem eigenen Waschbecken, Toilette und eine Dusche."

Der Mann nickte zustimmend. "Wunderbar. Das nehmen wir."

"Okay, einen Moment bitte", nuschelte Carl. Als er die Reservierung eintippte, blickte er noch einige Male diskret zu dem Pärchen und fragte sich, wer sie waren und wovor sie davonliefen. Er hatte fast sein halbes Leben damit verbracht, tatkräftig für die Bahngesellschaft zu arbeiten, aber er war noch nie einem Pärchen wie diesem begegnet. Wenigstens nicht, dass er wüsste.

"Name?" fragte er und bemerkte, wie der Mann leicht zusammenzuckte. Er sagte nichts, also wiederholte er die Frage. "Sir, ich brauche Ihren Namen, um die Fahrscheine zu buchen."

"Steward", sagte der Mann letztendlich. "Mr. und Mrs." Er nannte keine Vornahmen, obwohl Carl einen Augenblick abwartete, ob er sie nennen würde, bevor er fortfuhr.

"Haben Sie irgendwelches Gepäck dabei, Mr. Steward?" erkundigte er sich, doch der Mann schüttelte den Kopf.

Carl tippte weiter, bis alles Nötige geregelt war. Er nannte ihnen die Endsumme und sah zu, wie der Mann sein Portemonnaie aus der Hosentasche holte. Rasch zählte er die Scheine und schob sie unter das Glasfenster.  Carl nahm sie und überprüfte automatisch die Summe. Seine Augen weiteten sich, als er zählte und blickte den Mann fragend an.

"Sir", begann er, "Sie haben mir viel zu viel gegeben. Es ist das Doppelte von dem, was es kostet."

"Vergessen Sie einfach, dass wir je hier gewesen sind", sagte der Mann ruhig und bemessen.

Carls Herz begann aus einem unbekannten Grund schneller zu schlagen, als ob er gerade in etwas verwickelt würde, das über den einfachen Verkauf von zwei Fahrausweisen hinausging. Einen Moment dachte er daran, das Angebot abzuweisen, und vielleicht seinen Vorgesetzten zu rufen oder ihm paar Fragen zu stellen. Aber ein Blick auf die Frau ließ ihn seine Bedenken verwerfen. Sie hatte etwas sehr Zerbrechliches an sich und Carl fand, dass warum auch immer sie so geheimnisvoll taten, sie hatten ihren Grund dazu. Es sollte nicht an ihm liegen, ihnen im Weg zu stehen.

Carl schob das überschüssige Geld wieder zurück unter das Fenster, aber der Mann schüttelte seinen Kopf. "Behalten Sie es", sagte er und die Intensität in seinen Augen deutete Carl, dass er es ernst meinte.

"Also... vielen Dank, Sir", bedankte sich Carl und lächelte, als ob alles nur ein gewöhnliches Geschäft gewesen war. "Der Zug fährt am Gleis sechs ab. Gute Reise!"

Der Mann antwortete nicht, sondern nickte ihm nur kurz zu, bevor er die Fahrscheine nahm und sie in die Jackentasche steckte. Er nahm die Frau beim Arm und manövrierte sie durch die Menschenmenge. Carl sah ihnen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwanden, erst dann steckte er das Geld in seine Tasche und dachte auf einmal an einen Strauß Blumen für seine Frau, wenn er nach Hause kam.

 

 

 

 

Walter Skinner ging auf dem engen Raum hinter seinem Schreibtisch hin und her. Diese Unruhe war völlig untypisch für ihn. Er war ein Mann, bei dem Gelassenheit von äußerster Wichtigkeit war, aber er konnte sich unmöglich auf die Schreibarbeit auf seinem Tisch konzentrieren. Er war an dem Punkt angelangt, an der er die Antworten verlangte, die er suchte.

Die Tür zu seinem Büro öffnete sich und der Mann betrat mit der gewohnten Rauchwolke hinter ihm den Raum. "Sie wollten mich sprechen?"

"Ich will eine Erklärung!" explodierte Skinner und er versuchte, sich zu beherrschen. "Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat."

Der Mann trat an Skinners Schreibtisch und blickte gelassen auf die Akten, die darauf lagen. Dann nahm er einen weiteren Zug an seiner Zigarette und zuckte die Schultern. "Wie ich Ihnen schon sagte, die Untersuchungen in dem Fall laufen noch. Es gibt nichts Neues zu berichten."

"Nichts Neues?" Skinner sah den Mann grimmig an. "Ein Schwerverbrecher mit Kontakten zur organisierten Kriminalität wurde in New Orleans mit zwei Kugeln einer Smith & Wesson 1076, der Standard-Waffe des FBI, getötet. Ein blutiger Fingerabdruck auf dem Gesicht des Mannes ist der von Dana Scully. Der Mann wurde in einer Gasse hinter einer zweistöckigen Pension gefunden, wo sich Mr. und Mrs. Wilder, die keine Vornamen genannt hatten, eingemietet hatten und sich dann einfach in Luft aufgelöst haben. In dem Apartment von den beiden sind weitere Fingerabdrücke von Agent Scully und von Fox Mulder. Und die Spitze des Eisbergs? Die Smith & Wesson-Dienstwaffe, die auf Agent Scullys Namen eingetragen ist, befand sich noch in der Wohnung. Von der wurden allerdings keine Schüsse abgefeuert, was zu vermuten lässt, dass der Mann mit Mulders Waffe getötet wurde, die womöglich noch in Mulders Besitz ist."

Skinner verstummte und sah den Mann an, der weiterhin an seiner Zigarette paffte. Eine Weile lang sagte niemand etwas, dann brach der Mann die Stille. "Exzellente Wiedergabe der Tatsachen, Mr. Skinner. Ich wüsste nicht, was ich Ihnen sagen könnte, das Sie nicht schon wussten."

"Was Sie mir sagen *können* ist, was hier eigentlich los ist." Skinner beugte sich ungeachtet des Qualms näher zu dem Mann. "Ich will wissen, wer der Tote ist und was er da gemacht hat. Und was noch wichtiger ist, warum bekomme ich diese Informationen von der örtlichen Polizei und nicht vom FBI?"

Der Mann blickte Skinner so eisig an, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Aber er hielt seinem Blick stand und wandte sich nicht ab. Sie starrten sich einen Moment lang an, dann senkte der Mann seinen Blick und wandte sich zur Tür. Er legte eine Hand auf die Klinke und drehte sich mit leicht erhobenen Mundwinkeln zurück zu Skinner.

"Es werden nur Informationen an die weitergegeben, die es wissen müssen. Und Sie, Mr. Skinner, müssen nicht mehr als das wissen."

Skinner blickte dem Mann nach, als er das Büro verließ und die Tür hinter sich zuzog. Wieder alleine im Raum blickte Skinner auf die Akten, die über seinem Tisch verstreut waren. Wutentbrannt riss er sie alle mit einem Schwung vom Tisch. Er griff sich an die Stirn in einem Versuch, Ruhe zu bewahren, und schlug dann auf die Taste des Intercoms. "Holly, kommen Sie hier rein. Ich brauche hier Hilfe mit dem Papierkram."

 

 

 

 

Seit Mulder gegangen war, ging Scully zum dritten Mal durch das schmale Abteil und gewöhnte sich an die neue Umgebung. Der Raum war ein langes schmales Rechteck. Die Betten waren an der hinteren Wand und wie der Mann an der Kasse versprochen hatte, war das untere viel größer als das andere. Das Waschbecken und die Toilette waren in der hinteren linken Ecke, über der sich ein kleines Fenster befand. Scully drückte ihre Hände gegen das kühle Glas und konnte das Vibrieren des Zuges fühlen. Die Dusche nahm den meisten Platz in der Ecke in Anspruch, und Scully berührte im Vorbeigehen den Türgriff, um sich zu merken, wo sie war. An der rechten Wand standen zwei Stühle neben einem kleinen Wandschrank, der aber leer stand.

Scully hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und fuhr herum.  "Ist in Ordnung, Lisa", sagte Mulder, als er die Tür öffnete, und sie entließ einen Seufzer der Erleichterung. Sie hörte, wie die Tür hinter ihm in die Angel fiel und wie er durch den Raum auf sie zukam.

"Wo warst du?" fragte sie neugierig.

"Im Speisewagen", antwortete er. Sie wusste, dass er neben dem Becken stand und er ließ irgendetwas da rein fallen, was ein klapperndes Geräusch machte.

"Was ist das? Was machst du?"

Mulder antwortete nicht, ging zu ihr und nahm sie beim Arm. "Komm hier rüber", sagte er und Scully folgte ihm zu den Stühlen an der Wand. Einer der Stühle quietschte, als er sich setzte und sie mit auf seinen Schoß zog, so dass sie mit dem Rücken gegen seinen linken Arm lehnte und ihre Beine am Stuhl herunter baumelten. Sie hörte das ratternde Geräusch schon wieder, dieses Mal gedämpfter und erschrak dann, als sie etwas Kaltes und Feuchtes an ihrer Wange spürte.

"Mulder!" Scully zuckte zurück, als das kühle Nass ihr Gesicht traf, doch sein Arm blieb fest um ihre Schultern und trotz ihrer Beunruhigung fand sie etwas sehr Tröstendes in seiner warmen Umarmung.

"Es ist nur etwas Eis in einem Handtuch", sagte er. "Glaub mir, es wird dir gut tun." Er legte den Eisbeutel wieder an ihre Wange.

Scully seufzte. Sie musste ihm zustimmen, aber trotzdem kam sie sich unbeholfen dabei vor. "Ich kann das selber machen, Mulder."

Er schwieg für einen Moment. "Ich weiß."

Plötzlich fiel ihr ein, dass er es vielleicht für sie tun wollte. Es wirklich für sie tun wollte aus einem seltsamen Bedürfnis heraus. Dass er es vielleicht genauso gern hatte, sie zu halten, wie sie es gern hatte, von ihm gehalten zu werden. Dieser Gedanke beruhigte Scully, sie entspannte sich und legte ihre rechte Gesichtshälfte an seine Schulter, als er das Eis an ihre Verletzung hielt.

Für eine Weile sagten sie nichts. Mulder schien genau zu wissen, wann das Eis zu kalt für sie wurde, denn er nahm es wieder weg, ohne sie fragen zu müssen. Das einzige Geräusch war das Rumpeln des Zuges, als er in die Nacht hinein rollte.

Scully kam plötzlich eine Frage in den Sinn. "Warum Steward, Mulder?"

"Warum habe ich den Namen geändert oder warum habe ich gerade diesen Namen genommen?"

"Beides", sagte sie.

"Jimmy Steward. Er ist immerhin eine amerikanische Ikone." Mulder lachte leise und Scully musste lächeln, als sein Brustkorb von der Bewegung leicht geschüttelt wurde. "Und wegen dem Ändern... die Polizei wird früher oder später zwei und zwei zusammenzählen. Haben sie vielleicht schon. Und unser Vermieter... er kennt uns unter dem Namen 'Wilder'. Also können wir den Namen jetzt vergessen."

Scully nickte. "Wir brauchen dann auch neue Ausweise."

"Neue Ausweise und noch mehr Geld. Wir haben fast keines mehr." Mulder setzte sich etwas anders hin. "Ich steige morgen bei der ersten Gelegenheit aus und kümmere mich darum. Ich hole auch ein paar Klamotten für uns."

"Okay", sagte sie. Dann fuhr sie leise fort. "Wir haben viele Beweise hinterlassen."

"Also... das heißt, die wissen, wo wir waren." Mulder sprach ebenso leise.

"Das heißt nicht, dass die wissen, wo wir hingehen."

 

 

 

Scully erwiderte nichts darauf, sie blieb nur sitzen. Mulder versuchte, sich zu entspannen, aber seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jeden Moment erwartete er ein Klopfen an der Türe, als ob sie trotz all ihrer Vorsicht aufgespürt worden sind.

Doch kein Klopfen kam, und als der Zug weiterhin an Polizei-Stationen vorbeifuhr, glaubte Mulder, dass sie dieses Mal vielleicht doch Glück gehabt haben könnten. Er konnte gar nicht glauben, dass es ihm vergönnt war, Scully hier sicher in seinen Armen bei sich zu haben. Die Ereignisse an diesem Nachmittag hatten ihn mehr mitgenommen, als er je gedacht hätte. Obwohl Scully nicht viel darüber gesagt hatte, was in dem Apartment vorgefallen war, hatte ihre Angst ihm alles gesagt. Nie wieder, schwor Mulder, in der Hoffnung, dass er dieses Mal sein Versprechen halten konnte.

Das Eis in dem Beutel war schon fast geschmolzen, als Scully die Stille brach. "Mulder, ich bin müde."

"Ich auch", stimmte er zu und nahm seinen Arm von ihren Schultern, um sie aufstehen zu lassen. Er stand auch auf und warf das restliche Eis mit dem feuchten Tuch ins Waschbecken.

Als er sich wieder umdrehte, sah er Scully auf dem unteren Bett sitzen. Sie band ihre Sneakers auf und glitt dann unter die Decke. Mulder wartete, bis sie es sich zurecht gemacht hatte und knipste dann das Licht aus. Im Dunkeln entledigte auch er sich seiner Schuhe und rutschte neben sie. Das Bett war zwar ein Doppelbett, doch trotzdem nicht sehr breit. Mulder fand das gar nicht so schlecht. Er schob seinen Arm unter sie und zog sie an sich heran, ihr Kopf eingebettet an seiner Schulter.

Mulder hatte nicht gemerkt, dass er eingeschlafen war, als er plötzlich durch ihre Bewegungen geweckt wurde. Sie zitterte in seinen Armen. Sie zitterte stark, aber sie gab keinen Laut von sich und er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sie weinte. Er zögerte, unsicher, in ihre Privatsphäre einzudringen, aber ihr Schluchzen brach ihm das Herz und er konnte ihr Leiden einfach nicht ignorieren. "Dana?" flüsterte er in ihr Ohr.

Scully erstarrte, stocksteif neben ihm. Mulder bereute es augenblicklich, dass er sie gestört hatte und hoffte, dass sie nicht verärgert war. Doch sie drehte sich zu ihm um und vergrub ihr Gesicht in seiner Brust. Sie weinte offen und ungehalten, ihr stockendes Schluchzen zerschnitt seine Seele. Mulder hielt sie so fest er konnte und murmelte Zärtlichkeiten über Zärtlichkeiten, um sie zu beruhigen.

Sein Hemd war feucht von ihren Tränen, als sie sich endlich ein wenig entspannte. Ihr Schluchzen verstummte und sie rieb sich ihre tränenfeuchten Augen. Sie versuchte, zu Atem zu kommen, und flüsterte mit gebrochener Stimme, "Es tut mir Leid, Mulder."

"Oh, Dana..." Mulder streichelte die Haarsträhnen, die an seinen Fingerspitzen lagen. "Bitte sag so etwas nicht. Du brauchst nie so etwas zu sagen."

"Ich... ich weiß nur nicht, ob ich das noch kann... ich halte das nicht mehr aus."

"Was hältst du nicht mehr aus?" fragte er und sie legte ihre Hand an seine Brust.

"Das hier... die Flucht, das Sich-Verstecken, das Untertauchen." Mulder hörte eine Verzweiflung in ihrer Stimme, die er noch nie zuvor bei ihr erlebt hatte. "Ich glaube nicht, dass ich das noch durchstehen kann."

Mulder suchte verzweifelt nach Worten, doch alles, was ihm einfiel, erschien ihm schrecklich unpassend. "Dana... du musst es nicht allein durchstehen."

Scully strich mit ihrer Hand an seinem Arm entlang, bis sie seine fand. Sie verstrickte ihre Finger mit seinen und sagte, "Ich weiß. Und das... das macht mir auch Angst. Mir macht Angst, wie sehr ich dich brauche, Mulder."

"Ich brauche dich auch, Dana. Ich brauche dich so sehr", flüsterte er. Es waren zwar nicht die Worte, die er ihr eigentlich sagen wollte, aber sie waren okay fürs erste. Mulder fühlte ein sanftes Ziehen an seinem Arm, als Scully ihre verschlossenen Hände an ihre Lippen hob und ihn in Zustimmung zu seinen Worten sanft auf den Handrücken küsste.

Dann seufzte sie und löste sich aus der Umarmung. Trotz der Dunkelheit in dem Abteil konnte Mulder in dem schwachen Licht, das durch das Fenster trat, das Rot ihrer Wangen sehen und er lächelte. Wieder einmal raubte ihre Schönheit ihm den Atem. "Gute Nacht, Mulder", murmelte sie und rollte sich neben ihm ein.

"Gute Nacht, Dana", erwiderte er, schloss die Augen und ließ sich durch das sanfte Rumpeln des Zuges in den Schlaf lullen.

 

 

 

 

"...I refftest to beliefe Thais could happen to me and you But it's lonesome and it's hard and it's true And I hear the train sigh And idle down below Why your love is so sweet and wild Is something I'll never know..." - ("...ich weigere mich zu glauben, dass es dir und mir passieren kann. Aber es ist einsam und schwer und wahr Und ich kann den Zug seufzen hören Und untätig dort unten Warum deine Liebe so süß und wild ist Ist etwas, das ich nie verstehen werde...")

Melissa Etheridge

 

 

 

 

Und das ist alles, was sie schrieb... ;-) Danke fürs Bleiben! Mit Ausnahme meiner Abschlussprüfung ist das hier wohl das Längste, was ich je geschrieben habe... *Bitte* lasst mich wissen, was Ihr darüber denkt, selbst wenn es nur "Wow, nett getippt!" ist... Meine Adresse ist nvrgrim@aol.com - Danke fürs Lesen!!!