RICHTUNG
NIRGENDWO 3 - IM BLAUEN HOTEL
(Originaltitel:
At The Blue Hotel)
von
Nicole Perry
(
nvrgrim@aol.com )
Datum:
14. März 1996
aus dem Englischen
übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de
>
*** überarbeitet 2017 ***
Wort
der Autorin: Leute, versammelt Euch wieder um das Lagerfeuer, ein weiteres
Kapitel der On The Road- Sage beginnt! Diese Geschichte ist eine Fortsetzung
von RICHTUNG NIRGENDWO und DURCHREISE (...), die man der Verständlichkeit
halber zuerst lesen sollte. Bevor wir anfangen möchte ich gerne noch einiges
loswerden. Vielen tausend Dank an die wundervolle Kat für ihre unendliche
Geduld und Extra-Arbeit mit meinen ständigen "Was wäre, wenn..." und
"Denkst Du, dass..." Fragen. Außerdem ein Dankeschön an Sensei Survivor für die
Ermunterungen und die guten Ratschläge, und an meine Brieffreundin, die mich zu
diesem Teil der Story inspiriert hat. (...) Und wie immer *vielen, vielen Dank*
an alle, die sich die Zeit genommen haben, mir zu schreiben—es ist einfach
unbeschreiblich, Feedback zu bekommen!!
Um den Autor (mich) ruhig schlafen zu lassen oder in Rage zu bringen,
können alle möglichen Kommentare an nvrgrim@aol.com geschickt werden. Genug gesagt...
Spoiler
Warnung: Diese Geschichte hat eine eigene Richtung eingeschlagen, und zwar
was-zum-Teufel-ist-mit-Scully-passiert-als-sie-drei-Monate-verschwunden-war. Dazu beziehe ich mich auf Informationen aus
der Duane Barry- Trilogie, Anasazi und den sechs weiteren Verschwörungsfolgen
aus der 2. Staffel.
Zusätzlicher
Kommentar: Ich glaube nicht, dass diese Geschichte eine Altersbeschränkung
braucht, aber ich möchte sagen, dass sie ziemlich dunkel ist und einige
gewalttätige Szenen hat. Aber eigentlich nicht viel mehr als man in jedem Kino
an der Ecke finden kann...
Dementi:
Wie immer Danke an Chris Carter, 1013 und Fox, die die Rollbahn für das
Flugzeug meiner Kreativität gestellt haben. Ich denke, jeder von Euch kennt
inzwischen Mr. Carters Gefolge—alle anderen Charaktere gehören zu mir. Ein
spezielles Dankeschön an David und Gillian für ihre inspirierende
Darstellungen. Und, noch ein Danke an Chris Isaak (unter anderem) für seine
stimmungsvolle Musik und vor allem für den Titel...
IM BLAUEN
HOTEL (1/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Scully
saß auf der Couch und versuchte sich zu erinnern, welche Farbe der Stoff hatte,
den sie zwischen ihren Fingern hin und her drehte. Sie hörte Mulder in der
Küche rumoren. Würziger Knoblauch-Duft drang aus der Küche zu ihr und sie nahm
an, dass er Pasta zubereitete. Mulder hatte den Fernseher eingeschaltet, damit
sie Gesellschaft hatte, während er kochte, aber sie hatte ihn leiser gestellt,
weil sie ihm lieber in der Küche zuhörte, als sich irgendein Sitcom-Gequatsche
anzutun.
"Ist
es schon fertig, Mulder?" rief sie. Ihr Kopf begann zu jucken und es kam
ihr vor, als ob die Farbe schon ihr Gehirn anfärbte.
"Noch
ein paar Minuten", antwortete er. "Hab' noch etwas Geduld."
"Du
hast gut reden", murmelte sie, aber im Grunde machte es ihr gar nichts
aus. Die Couch war zwar alt, aber bequem
und außerdem war es in dem kleinen Zimmer mit dem Kamin viel wärmer als in der
Küche.
Sie
waren schon die dritte Nach in dem kleinen Apartment des Französischen
Quartiers in New Orleans. Scully wusste, dass Mulder immer nervöser wurde, weil
sie schon so lange an einem Ort waren, aber sie war darüber sogar erleichtert.
Obwohl sie es vor ihm nie zugeben würde, empfand sie das ständige Unterwegssein
als sehr erschöpfend. Es fiel ihr schwer, sich an jeden neuen Ort zu
gewöhnen—allein schon den Weg vom Bett zum Badezimmer jeden Tag aufs Neue
herausfinden zu müssen, war eine große Herausforderung.
Wenigstens
hatte sie sich bereits an das kleine Apartment gewöhnt, in dem sie im Moment
wohnten. Es bestand nur aus vier Zimmern: Schlafzimmer, Badezimmer, Küche und
das Wohnzimmer, in dem sie sich gerade befand. Es gab nicht viele Möbel und es
roch ein wenig staubig, aber Dank Mulder war es jetzt relativ sauber.
"Okay,
das sollte reichen." Mulders Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie stand
von der Couch auf und orientierte sich kurz, bevor sie langsam in die Küche
ging.
Er
kam ihr auf halbem Wege entgegen und sie ließ sich von ihm zu der Spüle führen.
"Hmm, das riecht aber gut, Mulder", sagte
sie. "Ich habe gar nicht gewusst, dass du so ein guter Koch bist."
"So
bin ich eben", grinste er. "Ich habe immer irgendein Ass im
Ärmel."
Scully
stützte sich mit den Händen auf den Rand und beugte sich über die Spüle. Mulder
stellte sich hinter sie und sie hörte, wie er das Wasser anließ. Ein paar
Tropfen spritzten ihr ins Gesicht, als er eine Hand unter den Wasserstrahl
hielt, um die Temperatur zu prüfen. Sie schien gerade richtig zu sein und er
drückte ihren Kopf sanft unter den Wasserhahn.
"Auu!" rief Scully, als der Wasserstrahl sie traf und
er zog sie schnell wieder zurück.
"Zu
heiß?" fragte er besorgt.
"Ein
wenig", sagte sie und hörte das Quietschen des Hahns, als er das kalte
Wasser andrehte.
Beim
zweiten Versuch fühlte Scully angenehm warmes Wasser über ihren Kopf laufen.
"Besser?" fragte er und sie nickte leicht.
"Mmmm... viel besser." Er wusch die Farbe aus ihren
Haaren. Seine Finger waren vorsichtig, aber zugleich fest und effizient und
überraschend sanft. Die ausgewaschene
Farbe lief an ihrem Gesicht herunter und sie schloss die Augen, um nichts
abzubekommen.
Scully
hörte, wie Mulder irgendetwas vom Tisch nahm. Er drückte es und dann fühlte
sie, wie etwas Kaltes auf ihre Haare fiel. "Conditionier",
sagte er auf ihren überraschten Seitenblick hin. Er lehnte sich näher an sie
heran und der Conditionier begann zu schäumen. Seine
kreisenden Bewegungen wirkten unglaublich beruhigend auf sie und Scully entspannte
sich unter seinen Händen.
Sie
hatte sich nie für jemanden gehalten, der besonders körperlich mit Mitmenschen
umging. Anders als ihre Schwester Melissa hatte sie Andere nie nahe an sich
heran gelassen. Umarmungen waren sogar auch innerhalb der Familie selten. Doch
jetzt hatte sich das, wie vieles andere auch, geändert. Die Dunkelheit, in der
sie nun leben musste, war so überwältigend, dass Körperkontakt für sie ein
Bedürfnis geworden war. Sie erkannte, wie viel Mulders Berührungen ihr
bedeuteten, seine Hand in ihrer war wie ein Anker, der sie am Rande der
geistigen Gesundheit vertäute.
Sie
hörte, wie er leise vor sich hin summte, als er mit seiner Arbeit fortfuhr, und
musste lächeln. "Ich glaube, dir gefällt das hier viel zu sehr",
schimpfte sie mit ihm. "*Ich* muss das hier immerhin durchstehen, nicht
du."
"Tja,
*ich* wurde mit unscheinbaren braunen Haaren geboren, anstatt mit
feuerroten."
"Clown-Haare."
Das Wort entglitt ihr, eine schmerzvolle Erinnerung an die verletzenden Sprüche
der anderen Kinder auf dem Spielplatz in ihrer Kindheit.
"Wunderschöne
Haare", widersprach Mulder mit einer Stimme, die der ihres Vaters sehr
nahe kam, und sie verpasste durch den Schreck fast seine nächsten sanften
Worte. "Ich vermisse sie."
"Wirklich?"
sie drehte ihren Kopf, als ob sie sein Gesicht sehen könnte, wenn sie schnell
genug war.
"Ja",
gab er zu. "Wirklich. Aber jetzt—halt still", sagte er und sie fühlte
wieder das Wasser, als er sie wieder unter den Hahn drückte. "Wir haben es
gleich geschafft."
Sie
waren beide still, als Mulder den Wasserhahn abstellte und ihre Haaren
auswrang, bevor er ihr ein Handtuch reichte. Scully rubbelte etwas ungeschickt
ihre Haare trocken. Er wollte ihr helfen, doch sie entzog sich seinen Händen.
"Ist schon okay", sagte sie. "Aber könntest du mir bitte eine
Bürste bringen und einen Pullover?"
"Klar",
erwiderte er und sie hörte seine Schritte in Richtung des Schlafzimmers. Obwohl
sie wusste, dass er gleich zurückkommen würde, spürte sie eine seltsame Kälte
in seiner Abwesenheit. Dummes Kind, dachte sie und schüttelte die plötzliche
Angst von sich. Als Mulder mit dem Handtuch zurückkam, bahnte sie sich ihren
Weg von der Küche zurück ins Wohnzimmer, das Handtuch um ihren Hals.
Mulder
fand die Bürste auf dem Nachttisch neben dem Bett. Er öffnete die mittlere
Schublade, in der er die wenigen Sachen gelegt hatte, die sie noch ihr Eigen
nennen konnte. Er war kurz einkaufen gewesen, nachdem sie an dem Französischen
Quartier angekommen waren, um ein paar Sachen zu ersetzten, die bei dem Unfall verloren
gegangen waren. Er fand die beiden Pullover und rief, "Willst du den
grauen oder den grünen?"
In
der Sekunde, in der die Worte aus seinem Mund waren, verfluchte er sich für
seine Unüberlegtheit. Doch bevor er noch irgendetwas sagen konnte, um sich zu
berichtigen, antwortete sie ihm. "Den Pullover", rief sie ohne eine
Spur von Bitterkeit in der Stimme. "Nicht den mit den Knöpfen."
Mulder
dankte ihr im Stillen für ihre endlose Geduld, warf die graue Strickjacke
zurück in die Schublade und knallte sie zu. Er brachte ihr den grünen Sweater
und die Bürste ins Wohnzimmer. Unterwegs sah er kurz in der Küche nach der Soße
auf dem Herd, drehte die Temperatur der Platte kleiner und rührte einmal um. In
dem anderen Topf hatte das Wasser bereits zu kochen angefangen und er schüttete
die Packung Nudeln rein.
Scully
saß mit gekreuzten Beinen für seinen Geschmack viel zu nahe vor dem Kaminfeuer.
Das Handtuch lag achtlos hingeworfen auf ihrem Schoß und ihre Haare waren immer
noch nass. Er hatte sich noch nicht ganz an ihre Farbe gewöhnt.
"Hier",
sagte er und reichte ihr den Pullover.
"Danke",
sagte sie und schenkte der Luft über seiner linken Schulter ein warmes Lächeln.
Mulder sah zu, wie sie den Pullover über ihr T-Shirt zog. Er war viel zu groß für sie, aber er war
schon eingetragen und bequem und er konnte verstehen, warum sie ihn so mochte.
"Jetzt
spann mich nicht auf die Folter." Diesmal war ihr Lächeln treffender und
er sah, dass die Wunde auf ihrer Wange langsam zu heilen begann. "Wie
sieht es aus?"
Er
griff nach ihrer Hand, froh, eine Entschuldigung dafür zu haben, als er sie von
dem Feuer wegführte. "Gut, denke ich—lass mich mal sehen." Er setzte
sich auf die Couch und sie rückte nah an ihn heran, so dass seine Beine rechts
und links neben ihr waren. Vorsichtig begann er, sie zu kämmen. Bei seiner
Berührung setzte sie sich aufrecht hin und legte ihre Ellenbogen auf seine
Knie.
"Ja—ich
glaube, alles ist schwarz", sagte er. "Kein rot mehr." Nach
dieser Feststellung konnte Mulder eigentlich wieder aufhören, doch irgendetwas
in ihm ließ nicht davon ab, weiter mit der Bürste durch ihr Haar zu streichen.
Sie seufzte, was sich sehr nach einem kleinen Lachen anhörte. "Ich weiß nicht, Mulder. Du könntest
Friseur werden, wenn es sein müsste."
Er
lachte und bürstete weiter, dankbar für ihre gute Laune. Sie war entspannter
denn je, seit sie D.C. verlassen hatten, schien es ihm und er schwor, alles zu
tun, damit sie so ruhig bleiben würde und sich sicher fühlte.
Mulder
selbst war es unwohl bei dem Gedanken, dass sie in Louisiana festsaßen, und sei
es nur für eine Weile. New Orleans schien laut den Einsamen Schützen ein viel
besserer Ort zu sein, um sich zu verstecken, aber der schwere Unfall hatte
seine Pläne durcheinander geworfen. Auf der anderen Seite jedoch, war es genau
dieser Unfall, der es ihnen jetzt ermöglichte, eine Pause einzulegen, um zu
sehen, ob die ’Männer Im Schatten’ von ihrem Tod überzeugt waren.
Sie
hatten Glück, als eine Familie, die gerade von ihrem Ausflug gekommen war, sie
mitgenommen hatte, als sie aus dem Wald heraus auf eine Straße gefunden hatten.
Mulder hatte Scully auf den Rücksitz des Jeep Cherokee geholfen und sich eine
Geschichte ausgedacht, um zu erklären, warum sie so zerzaust aussahen. Er
musste lachen, als er sich daran erinnerte, wie die Frau darauf bestand, ihn
mit dem Erste-Hilfe-Kästchen zu verarzten. Sie waren ein Risiko eingegangen,
per Anhalter zu fahren, um in die nächste Stadt zu kommen. Doch dort konnte er
mit einer gewissen Zuversicht, dass ihnen niemand gefolgt war, ein paar Busfahrscheine
nach New Orleans besorgen.
Sie
waren bei Anbruch der Dunkelheit völlig erschöpft angekommen. Bis zum Quartier
hatten sie ein Taxi genommen, und Mulder hatte, ohne wählerisch zu sein, das
Französische ausgesucht. Auf dem vergilbten Schild an der Tür des "L'Hotel Azur, Pensionne de
Famille" war vermerkt, dass noch ein Zimmer frei war und Mulder hatte es
ohne Umschweife genommen. Es war ein kleine, heruntergekommene Pension mit vier
Apartments, zwei oben und zwei unten.
Mulder hatte ohne Zwischenfragen die Miete für eine Woche im Voraus
gezahlt und den Schlüssel erhalten. Sie hatten eines der oberen Zimmer im
hinteren Ende des Gebäudes bekommen. Es war einigermaßen ordentlich und
abgegrenzt und bot Privatsphäre, was Mulder willkommen hieß.
"Mulder..."
sagte Scully und riss ihn aus seinen Gedanken. Ihr Ton war ernst und er hörte
auf, sie zu bürsten.
"Ja?"
"Ich
habe gerade nur... an meine Mutter gedacht." Sie hielt einen Moment lang
inne und legte ihre Hände flach auf seine Knie. "Glaubst du... glaubst du,
dass es ihr gut geht?"
"Natürlich",
antwortete er rasch. "Ich meine, sie macht sich sicher Sorgen um dich,
aber..."
"Nein,
das meine ich nicht", beeilte sie sich zu sagen. "Glaubst du, dass
sie ihr etwas antun, um uns zu finden?"
Mulder
zögerte. Er wusste nicht, was er ihr antworteten sollte. Er rutschte von der
Couch herunter und saß nun genau hinter ihr. "Scully", sagte er
langsam, als er sie sanft in die Arme nahm, "ich bin mir nicht sicher.
Aber deine Mutter... sie ist eine starke Frau. Sie kann auf sich aufpassen, das
weißt du. Und wir helfen ihr dabei, indem wir sie nicht kontaktieren und denen
nicht die Möglichkeit geben, es gegen sie zu verwenden."
Sie
nickte und er fühlte, wie sie sich in seinen Armen entspannte. "Ich
weiß..." Sie klang traurig und er merkte, dass er schon wieder seinen
kürzlich geleisteten Schwur gebrochen hatte. "Ich weiß, du hast
Recht... Aber es ist trotzdem
schwer."
Ihr
Statement schien keine weiteren Kommentare zu erfordern, also sagte er nichts,
sondern hielt sie nur fest, bis er auf dem Herd die Soße überkochen hörte und
er aufstehen musste, um das Essen fertig zu machen.
Walter
Skinner schloss die Augen und massierte mit zwei Fingern seinen Nasenrücken. Er
war nicht durch Zufall Stellvertretender Direktor des Federal Bureau of
Investigation. Er verdankte seinen Titel seinem scharfen Intellekt und seiner
exzellenten Organisationsfähigkeit; er ist für viele Jahre unermüdlichen
Dienstes mit dieser oft undankbaren Position belohnt worden. Es gab Tage, an
denen er dachte, die Arbeit seines Lebens zu tun, und Tage, an denen er sein
Schicksal verfluchte und sich wünschte, einen anderen Beruf ergriffen zu haben.
Er
öffnete wieder seine Augen und richtete sie auf die vor ihm liegenden Seiten.
In dem peinlich genau geschriebenen Bericht konnte er lesen, dass die Agenten
Fox Mulder und Dana Scully mit dreißigprozentiger Sicherheit in dem Autounfall
von Louisiana umgekommen waren. Natürlich war Skinner sich im Klaren darüber,
dass sich eine solche Statistik augenblicklich ändern konnte, je weiter die
Untersuchungen fortschritten, doch die Explosion und das daraus resultierende
Feuer hatten alle Beweise vernichtet und erschwerten eine weitere Analyse
erheblich.
Dreißig
Prozent. Skinner hoffte auf die anderen siebzig.
Das
zischende Geräusch eines angehenden Streichholzes lenkte Skinners
Aufmerksamkeit wieder auf den Mann vor ihm. Skinner deutete auf das "Bitte
Nicht Rauchen"-Schild auf seinem Schreibtisch, aber der Mann beachtete
seinen Hinweis nicht. Mit einem kaum hörbaren Seufzen fuhr Skinner fort. "Es scheint mir noch etwas verfrüht, die
Suche in diesem Fall zu beenden."
Der
Mann nahm einen Zug von seiner Zigarette, bevor er antwortete. "Ich hatte
angenommen", sagte er, "dass sie es vorziehen würden, ihre Leute
wieder in anderen Fällen einsetzen zu können."
Skinner
sah dem Mann in die Augen, sagte aber nichts.
"Die
Suche nach Mulder und Scully wird fortgesetzt", endete der Mann.
"Unter anderer Führung."
"Unter
wessen Kommando?"
Nun
sagte der Mann nichts mehr und Skinner sah, wie er frustriert die Zähne
zusammenbiss. Er hatte diese Spielchen und die Halbwahrheiten endgültig satt.
Er hatte es satt, lediglich ein Papiertiger in irgendeinem Büro zu sein. Und,
gab er vor sich selbst zu, er konnte dieses ständige Schuldgefühl nicht ertragen.
Irgendwie
gab Skinner sich selbst die Schuld an Mulders und Scullys Zwangslage. Er war
sich schon lange ihrer unüblichen Methoden bewusst gewesen und er hatte sie
geduldet, obwohl er in Grunde dagegen war. Mehr als einmal hatte er sie zu sich
zitieren müssen und sie ermahnen müssen, sich an die Regeln zu halten. Er hatte
sie oft davor warnen müssen, nicht Dingen nachzugehen, die sie nichts angingen
und er hatte ihnen geraten, ihre Suche nach gewissen Wahrheiten aufzugeben.
Skinner wäre in seiner Karriere nicht so weit gekommen, wenn er nicht wissen
würde, wann es an der Zeit ist, einmal nicht hinzusehen, weil es Antworten gab,
die er besser nicht wissen sollte.
Aber
Skinner hatte auch keine Schwester, die vor seinen Augen verschwunden war und
nie wieder aufgetaucht war. Ihm waren
nie völlig ohne Erklärung drei Monate seines Lebens gestohlen worden. Genau aus
diesem Grund half er ihnen wo er nur konnte und er tat sein Bestes, um sie zu
schützen.
Doch
dieses Mal hatte er versagt. Er hatte versagt, weil er nicht die Beweise
wahrhaben wollte, die sie gefunden hatten. Er hatte die Anschuldigungen, die
sie gemacht hatten, nicht ernst genommen. Er konnte sich an das letzte Mal
erinnern, als Scully in seinem Büro gewesen war und ihn mit einer Dringlichkeit
um Hilfe in einer Sache gebeten hatte, dass es fast schon ein Flehen gewesen
war. Ein Flehen, das er nicht hören wollte und abgewiesen hatte.
Skinner
merkte, dass er keine Antwort auf seine Frage erhalten würde und versuchte es
noch einmal. "Ich möchte immer noch kontinuierlich über den Status der
Suche informiert werden."
"Aber
natürlich", erwiderte der Mann und ließ die Asche seiner Zigarette auf den
Teppich fallen. "Ich habe es nicht anders angeordnet."
Mit
diesen Worten drehte der Mann sich um und verließ das Büro. Skinner spürte
einen Hauch der Erleichterung, als er aus der Türe war. Die Gegenwart dieses
Mannes war immer beklemmend, und das nicht nur durch die Tatsache, dass Skinner
im Grunde nicht genau wusste, welche Interessen er eigentlich verfolgte. Es
hatte etwas an sich, das jedem seiner Worte und jeder Handlung einen bösartigen
Beigeschmack verlieh.
Skinner
schloss den Bericht und fragte sich, was passieren würde, wenn Mulder und
Scully noch lebten. Was würde mit ihnen passieren, wenn sie gefunden würden?
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vielleicht wäre es mit solch
vernichtenden Beweisen besser für sie gewesen, wenn sie in dem Unfall
umgekommen wären. Mit einem Kopfschütteln verbannte er diesen Gedanken und
wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
X-1
X-1
IM BLAUEN
HOTEL (2/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Charlie
warf einen Blick auf seine Armbanduhr, als er sein Fahrrad von dem Ständer losmachte.
Er brauchte immer einen Moment, um die Position der Zeiger auf dem Ziffernblatt
richtig zu deuten. Obwohl die Uhr große Zahlen hatte, kam er immer noch
durcheinander. Nach kurzem Überlegen stellte er fest, dass er noch etwa eine
Stunde hatte, bevor sein Vater nach Hause kam. Es war genug Zeit, um
nachzusehen, ob der Engel heute wieder da war.
Charlie
überprüfte noch einmal seinen Rucksack, um sicherzugehen, dass sei Notizbuch
sicher zwischen seinen Schulbüchern verstaut war. Es war da, ein wenig zerfetzt
und mitgenommen, doch es standen alle seine Notizen und Listen darin.
Erleichtert begann er in Richtung seines Zuhauses in die Pedale zu treten.
Er
hatte die Angewohnheit, alles Wichtige aufzuschreiben, das er nicht vergessen
durfte. Seine Großmutter hatte ihn immer wieder an die Wichtigkeit von
Aufzeichnungen erinnert, als er noch kleiner war. Listen seiner
Lieblingsstraßen in New Orleans, Öffnungszeiten seiner liebsten Geschäfte, und
Ereignisse, die er als wichtig erachtete, (zum Beispiel, als er das allererste
Mal ganz alleine einen Fisch gefangen hatte)
waren alle sorgfältig in dem kleinen Büchlein notiert. Es war noch eine
ziemlich kurze Liste, fiel ihm auf, als er in die Pedale trat. Seine Großmutter
hatte ihm immer Geschichten von Engeln erzählt, die in menschlicher Gestalt auf
die Erde gekommen waren, und über die Leute wachten. Sie waren kleine Wunder
Gottes, so hatte sie sie genannt, und Charlie hatte nach ihrem Tod geschworen,
sie zu finden und ihre Gegenwart festzuhalten.
Er
fuhr wie immer vorsichtig um die Ecke, stets auf Gegenverkehr achtend und trat
fester in die Pedale, um schneller zu Hause zu sein.
Charlie
hatte vom ersten Moment an, in dem er sie gesehen hatte, gewusst, dass sie ein
Engel war. Er achtete immer auf Dinge, die sich in seiner Nachbarschaft
ereigneten und er hatte vor allen anderen gewusst, dass das leere Apartment in
der Pension endlich vermietet war. Es hatte fast einen ganzen Monat leer
gestanden und schon allein deswegen wusste Charlie, dass etwas Wichtiges im
Gange war, als sich endlich Mieter eingefunden hatten. Das Apartment war so wichtig, weil es die
Nummer drei hatte. Drei war Charlies Glückszahl. Er tat fast alles dreimal. Er
putzte sich dreimal am Tag die Zähne, trank seine Milch nach dem Essen in drei
langen Zügen und faltete seine Bettlaken dreimal, in der Hoffnung, böse Monster
davon abzuhalten, aus dem Schrank zu kommen, wenn das Licht ausging.
Er
wusste, dass etwas Wichtiges passieren würde. Immerhin war es jetzt fast drei
Jahre her, seit seine Großmutter gestorben war. Und bis jetzt war es ohnehin
schon ein magisches Jahr für Charlie gewesen. Er war jetzt neun, und er wusste,
dass Neun praktisch drei Dreien zusammen waren. Er freute sich gar nicht so
richtig auf seinen zehnten Geburtstag, denn zehn konnte man immerhin nicht
durch drei teilen.
Zu
Hause angekommen stellte Charlie sein Rad in die Garage und ging ins Haus,
nachdem er sich die Schuhe an der Matte draußen abgeputzt hatte. Auf dem Tisch
lag ein Zettel von seiner Mutter, dass er nicht vergessen solle, den Müll
herauszubringen und die Blätter im Vorgarten zusammenzuhaken. Charlie ließ den
Zettel links liegen, denn wenn er sich beeilte, schaffte er die Arbeit dennoch,
bevor sie zurückkam.
Er
nahm seinen Notizblock aus der Schultasche und lief die Treppe zu dem alten
Zimmer seiner Großmutter. Charlie wusste, dass er nicht in dieses Zimmer
durfte, aber wenn niemand daheim war, konnte er es wagen. Man konnte immer noch
das Veilchenparfüm riechen, das sie immer getragen hatte. Seit ihrem Tod hatte
sich nicht viel in dem Zimmer verändert. Seine Mutter kam nur ab und zu hier
herein, um Staub zu wischen.
Charlie
machte das Fenster auf und kletterte auf den Balkon, indem er sich an einem Ast
eines Baumes festhielt, der ziemlich nahe an das Haus herangewachsen war. Er
schätzte die Entfernung ab und griff nach einem weiteren Ast, an dem er sich
höher an dem Baum heraufzog. Er erreichte das Dach des Hauses und schluckte,
als er sah, dass sie wirklich da war.
Er
nahm sein Notizbuch unter seinem Hemd hervor, zog einen Stift aus der Tasche
und fing an, seine Aufzeichnungen durchzugehen, ein Ellenbogen auf den Ast
gestützt.
Sie
war ein Engel, weil sie so ruhig war, als ob sie Gott selbst zuhören würde. Es
war heute schon der zweite Tag, an dem er sie auf dem Dach gesehen hatte. Sie
saß friedlich auf der geteerten Oberfläche der Mauer. Vor vier Tagen war sie am späten Abend mit
einem großen, bärtigen Mann gekommen, aber wenn sie hier heraus kam, war sie
immer allein. Sie sah genauso aus wie der Engel auf dem Fensterbild in der
Kirche, die Charlie gewissenhaft jeden Sonntag besuchte. Dunkles Haar, blasse
Haut und blaue Augen, die Charlie von seiner Position aus deutlich sehen
konnte.
Er
saß ruhig da und bewunderte ihre stille Schönheit.
Die
Zeit verging und Charlie fiel ein, dass er seine Arbeit tun musste. Doch er
wollte noch nicht gehen. Er sah, wie sie aufstand und langsam zurück zu der Tür
zum Treppenhaus ging. Ihre Bewegungen waren vorsichtig und sie hielt bim Gehen
stets die Hände vor sich. Charlie wusste, er hatte es schon vom ersten
Augenblick an gewusst, dass sie blind war, genauso wie der alte Mr. Coleman,
der so oft auf der Bank vor seiner Schule saß. Er wusste nicht, warum Gott
einen blinden Engel auf die Erde schicken würde, aber er hatte es sich
aufgeschrieben und nahm an, dass der Grund dafür ihr Zuhören war.
Auf
einmal stolperte sie und fiel zu Boden, und Charlie hörte ein lautes Klimpern.
Er erstarrte vor Angst, dass sie sich verletzt haben könnte und war
erleichtert, als er sah, dass sie wieder aufstand. Ein ängstlicher Ausdruck
stand nun in ihren Augen und sie suchte auf Knien hastig nach etwas auf dem
Boden. Nach einer oder zwei Minuten bekam sie Panik und ihr Gesicht verzog sich
zu einer Grimasse. Charlie sah auf die Uhr. Es war schon spät und er wusste, dass
er mit seiner Arbeit anfangen musste. Aber er konnte ihre wachsende Angst nicht
ignorieren. Er kletterte wieder zurück in das Zimmer seiner Großmutter und
rannte dann ins Treppenhaus.
Scully
tastete, sie fühlte die ganze Oberfläche ab. Sie versuchte, die Tränen
zurückzuhalten, die bereits in ihr aufstiegen. Er muss hier sein, dachte sie
und suchte weiter nach dem glatten Metallschlüssel.
Sie
war zum zweiten Mal auf dem Dach der alten Pension. Den ersten Tag hatten sie
zusammen verbracht, hatten ausgeschlafen, sich von dem Unfall erholt und
überlegt, was sie als nächstes machen würden. Am zweiten Tag hatte Mulder
Nachforschungen angestellt und in dem Versuch, das Puzzle zusammenzusetzen, das
sie so verzweifelt lösen wollten. Es war ihr bald langweilig geworden, das
Apartment zu erkunden und so hatte sie den Schlüssel genommen, den er auf dem
Tisch liegen gelassen hatte, und das Haus erkundet. Sie wollte sich nicht mit
den Grenzen abfinden, die die Blindheit ihr bot. Sie hielt es für wichtig, den
Weg zu dem Apartment ihres Vermieters zu kennen und den Weg zum Ausgang. Vorsichtig war sie Schritt
für Schritt ihren Weg gegangen und hatte letztendlich die Tür gefunden, die zu
den versteckten Treppen auf das Dach führten.
Auf
dem Dach war es wunderschön für Scully. Die Luft war erfüllt von vielerlei
wundervollen Gerüchen, wohlriechende Aromen von dem Restaurant unten auf der
Straße, und der Duft von frischem Kaffee gemischt mit dem von frischem Brot.
Sie konnte den Verkehr der Straße hören und einige Unterhaltungen von
Fußgängern, die über die Straße gingen, genau wie das entfernte Hupen der
Schiffe, die den Fluss auf- und abwärts fuhren. Von Zeit zu Zeit hörte sie die
Glocke der St. Louis Kirche, die alle Viertelstunde ertönte und ihr half, die
Zeit wahrzunehmen. Der Wind blies kühl und frisch, und sie saß zufrieden da und
stellte sich das aufgeregte Treiben der Innenstadt von New Orleans vor. Sie
hatte sich, abgesehen von kurzen Durchfahrten bei Routinefällen, die Stadt nie
richtig angesehen und hatte nie die Zeit gefunden, eine der Stadtrundfahrten
mitzumachen, die jährlich tausende von Touristen anzogen. Jetzt konnte sie es
sich fast bildlich vorstellen, wie die Stadt aussah, basierend auf einem
inneren Bild gemalt durch verschiedene Empfindungen und Eindrücke, die sie von
sich hatte. Es war ein Zeitvertreib, bis Mulder zurückkehrte.
Heute
war sie noch einmal aufs Dach gekommen und es hatte ihr wieder gefallen - bis
jetzt. Sie hatte das Gleichgewicht verloren und war gestürzt, wobei sie den
Schlüssel zu ihrem Apartment fallengelassen hatte. Jetzt konnte sie ihr kleines
Geheimnis nicht mehr für sich behalten und Mulder würde aus lauter Angst um sie wütend sein.
Scully
suchte verzweifelt nach dem Schlüssel, denn sie wusste, dass er bald
zurückkommen würde. Ein lauter Knall ließ sie vor Schreck innehalten. Eine
Reihe von Klettergeräuschen waren zu hören, dann leichte Schritte auf dem Dach.
"Lady?"
fragte eine sehr leise, fast flüsternde Stimme. "Haben Sie sich
verletzt?"
Scully
zögerte unsicher, doch spürte dann keine Gefahr. "Nein", antwortete
sie langsam. "Ich kann nur meinen Schlüssel nicht finden."
Die
Schritte kamen näher und sie verspannte sich. Dann hörte sie ein Kratzten auf
dem Teerbelag des Daches. "Hier ist er", sagte die Stimme und sie
fühlte, wie ihr der Schlüssel in die Hand gedrückt wurde.
"Danke",
sagte sie und versuchte, sich ein Bild von ihrem Helfer zu machen.
"Wohnst
du hier?"
"Nee",
kam die Antwort. "Ich wohne nebenan in einem Reihenhaus."
Es
war eine Kinderstimme mit südlichem Akzent, erkannte sie, als sich ihre
anfängliche Panik gelegt hatte. Scully lächelte und fragte, "Wie heißt
du?"
"Charles",
sagte der Junge. "Aber alle nennen mich Charlie."
"Aha",
erwiderte sie und stand auf. "Ich bin froh, dass du heute in der Nähe
warst, Charlie." In diesem Moment fiel ihr eine Frage ein. "Wie bist
du eigentlich hier hoch gekommen?"
"Über
die Feuerleiter, Ma'am", antwortete er. "Es ist sehr einfach. Ich war
schon oft hier oben."
Scully
streckte eine Hand aus und nach einem Moment fasste der Junge sie und sie
schüttelte seine kleine Hand. "Danke noch mal, Charlie", sagte
sie. "Ich muss jetzt gehen."
"Kommen
Sie zurecht?" Sie nickte auf seine zögernde Frage hin, aber bevor sie noch
irgendetwas sagen konnte, hörte sie ein strenges Rufen von der Straße unten.
"Charles!"
rief ein Mann laut und ärgerlich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als der
Laut an ihre Ohren drang. "Junge, wo bist du?"
"Okay,
Ma'am, ich muss wohl gehen." Scully hörte ein Zittern in seiner Stimme und
ein Stottern, das eine Sekunde zuvor noch nicht dagewesen war. Der Junge sagte nichts weiter, aber sie hörte
ihn über das Dach laufen und kurz darauf wieder den metallischen Klang der
Feuerleiter, als er hastig herunter kletterte.
Scully
horchte und hörte wieder die Stimme des Jungen, diesmal gedämmt durch die
Entfernung.
"Entschuldige,
Papa. Ich habe nicht auf die Uhr geguckt."
Der
stechende Klang einer Ohrfeige war laut genug, um bis zu ihr auf das Dach zu
gelangen. "Du Idiot", hörte sie den Mann schelten. "Wozu habe
ich dir denn die Uhr gegeben?"
"Weiß
nicht, Papa. Tut mir leid." Das war das letzte, was Scully hören konnte,
obwohl sie noch einen Moment abwartete. Ein kalter Schauer lief ihr über den
Rücken. Dann fasste sie sich und ging langsam zurück zu der Tür, die zur Treppe
und zu ihrem Apartment führte.
Mulder
steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnete die Tür. Es war schon spät
und es war ausgenommen von dem Mondlicht, das durch das Fenster einfiel, völlig
dunkel. Er tastete nach dem Lichtschalter und knipste das Licht im Wohnzimmer
an. Es war leer und völlig still.
Er
schloss die Tür hinter sich und rief leise nach ihr. "Scully?" Er
erhielt keine Antwort und sein Herz begann, schneller zu schlagen. Er knipste
auch das Licht in der Küche an und sah nach, bevor er im Schlafzimmer suchte.
Die
Lampe an der Zimmerdecke brauchte eine Sekunde, bis sie anging. Sie lag
zusammengerollt auf dem Bett, das Kissen fest an ihr Gesicht gepresst. Sie war
völlig angezogen in Jeans und Tennisschuhen und dem großen grünen Pullover.
Ganz so, als ob sie ungewollt eingedöst sei. Ihre Augen waren geschlossen und
ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig mit jedem Atemzug. Er trat neben
sie ans Bett, doch zögerte, sie zu wecken. Er wusste, wie sehr sie den Schlaf
brauchte. Nach einem Moment setzte er sich neben sie und das Gewicht seines
Körpers reichte aus, um sie zu wecken."
Scully
regte sich und schlug die Augen auf. Für eine Sekunde war ihr Gesicht
angsterfüllt, doch dann atmete sie tief durch und lächelte. "Mulder", sagte sie verschlafen.
"Du kommst spät."
"Ich
weiß", gab er zu und strich ihr übers Haar. "Ich habe die Zeit
vergessen." Er beugte sich näher zu ihr und sie legte ihre Hand auf seinen
Schenkel. "Hast du Hunger?"
"Ein
wenig", sagte sie mit einem Gähnen. "Hattest Du Glück?"
Mulder
seufzte. "Nicht viel. Ich muss eine Menge Informationen durchgehen."
Er
hatte wieder fast den ganzen Tag in der Bibliothek der Tulane
University verbracht und war jedes Medizin-Magazin und jedes Fachbuch
durchgegangen, in der Hoffnung, einen Bestandteil der Substanz zu finden, die
Scully in dem Labor gesehen hatte. Den Namen dieser Substanz hatten sie den
Einsamen Schützen gegeben, die diese Information durch jedes
Computersuchprogramm gejagt, das sie zu Verfügung hatten, nur um mit leeren
Händen enden zu müssen. Nichtsdestotrotz hatte Scully den Namen, den sie auf
den Fläschchen gesehen hatte, mit allen möglichen Verbindungen und in allen
Varianten mit Hilfe von ihren Erfahrungen aus ihrem Medizinstudium
aufgeschrieben. Mit dieser Liste bewaffnet war er in die Bücherei gegangen, um
danach zu suchen.
Scully
wurde wach durch seine Worte und sie setzte sich mit einem weiteren Gähnen auf.
"Hast du irgendwelche Ansätze mitgebracht?"
"Ein
paar. Wir können beim Abendessen darüber reden."
Scully
merkte, wie Mulder vom Bett aufstand und nach einem Moment folgte sie ihm. Sie
nutzte den Klang seiner Schritte als Richtungsweiser und hielt an, wenn er
anhielt. Sie streckte die Hand aus und fühlte den Türrahmen zum Badezimmer vor
ihr.
Sie
hörte, wie die Tür des Medizinschränkchens mit einem leisen Knirschen aufging.
"Mulder..." begann sie, doch sie kannte bereits die Antwort bevor sie
überhaupt gefragt hatte. "Es ist noch hier."
"Ich
weiß", sagte sie. "Ich möchte nur sichergehen."
Scully
hörte den Klang von Metall gegen Glas. "Und?" fragte sie. Er
antwortete ihr nicht und sie trat weiter ins Badezimmer, bis sie mit dem Rücken
an den Rand des Waschbeckens lehnte. "Und?" wiederholte sie neben
ihm.
"Es
ist noch hier."
"Gib
es mir für eine Sekunde." Scully streckte beide Hände mit den Handflächen
nach oben aus und fühlte einen Moment später das kühle, raue Metall. Sie strich
mit den Fingerspitzen um das Objekt herum, vorsichtig, um die fragilen Rinnen
nicht zu beschädigen.
Obwohl
sie es nicht mehr sehen konnte, konnte sie sich deutlich daran erinnern. Es war
eine runde Platte, eine flache Scheibe, etwas halb so groß wie eine
Kompakt-Diskette. Sie wusste, dass die Rillen auf der Oberfläche verschiedene
Farben hatten, aber sie konnte sich nicht mehr an das Design erinnern. Die
höherstehenden Furchen hatten ebenfalls eine besondere Bedeutung, aber für
Scully waren die Rillen von größerer Bedeutung. Sie waren klein und gleichmäßig
über der Diskette verteilt und jede war an einem Ende eingekerbt, als ob es die
Halterung für ein noch kleineres Objekt ist.
Ein
Objekt von der Größe des Chips, der in ihrem Nacken implantiert gewesen war.
Vage,
halb vergessene Worte schwirrten durch ihr Gedächtnis. Ein Mikroprozessor...
mit extremer Komplexität und weitreichender Mikrolithographie als Basis von
Computerprogrammen, weil er auf menschliche Gehirnwellen durch direkte
elektro-chemische Kopplungen zurückgreifen konnte...
Irgendwie
war Scully sich sicher, dass dieses Objekt der Schlüssel war. Der Schlüssel für
eine Art von neutralem Netzwerk, das nicht nur Informationen sammeln konnte,
sondern auch künstlich Gedanken produzieren konnte...
Es
schien schon so lange her, dass sie im FBI-Labor den kleinen Chip untersucht
hatte, den sie aus ihrem Nacken hatte entfernen lassen. Ein Chip, der so
zerbrechlich war, dass er während der Untersuchung zerstört worden war. Aber
vielleicht war dieser Verlust das ja auch wert. Es hatte sie immerhin bis
hierhin gebracht, dachte sie bei sich.
Scully
hielt es noch einen Moment fest, bevor sie es Mulder wortlos zurückgab. Es
fühlte sich gar nicht wie der Lebensinhalt oder der Talisman an, zu dem es ohne
Zweifel geworden war. Sie hörte, wie er es wieder zurück in das vorübergehende
Versteck legte. Normalerweise trug Mulder es immer in seiner Tasche und genau
wegen dieser Vorsichtsmaßnahme hatte die wertvolle Diskette den Autounfall
überstanden. Aber der Metalldetektor der Bibliothek hielt ihn davon ab, weder
die Diskette noch seine Waffe mitzunehmen. So musste er sie in dem Apartment
lassen. Scully trat einen Schritt zurück und streifte mit ihrem Arm gegen
etwas, das scheppernd zu Boden fiel.
"Oh!"
sagte sie und verfluchte ihre Tollpatschigkeit.
"Scully?"
Für einen Moment hörte er sich besorgt an, doch dann sagte er beruhigend,
"Nichts passiert. Das ist bloß mein Rasierzeug."
Sie
hörte, wie er die Sachen von Boden aufhob und sie zurück in das Regal räumte.
"Rasierzeug? Nicht, dass du das in letzter Zeit gebraucht hättest..."
Sie
hörte ein Lächeln in seiner Stimme, als er antwortete. "Ich muss diesen
Bart immerhin in Form halten oder?"
"Wie
auch immer..." grinste sie. "Lass uns essen,
Mulder."
X-2
X-2
IM BLAUEN
HOTEL (3/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Der
Lärm in dem Restaurant war gedämmt durch die Entfernung und die schwere Holztür
zwischen den Räumen bot einigermaßen Ruhe. Der Mann holte seine Morleys aus der
Innentasche seines Mantels hervor, schüttelte eine heraus und griff nach seiner
Streichholzschachtel. Er war im Begriff, das Streichholz anzuzünden, als eine
kühle Stimme ihn unterbrach.
"Bitte."
Das
eine Wort reichte aus, um ihn seine Zigarette und die Streichhölzer weglegen zu
lassen. Er nickte und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Misstrauisch
betrachtete er den Mann, der ihm gegenüber in dem ledernen Armsessel saß.
Er
war ziemlich groß und gut gebaut. Sein Haar war dunkel und seine Haut hatte
einen olivfarbenen Ton. Seine Augen waren schwarz und mandelförmig, fast
asiatisch. Er hatte einen schwarzen Anzug über einem schwarzen Hemd an und
überraschend schlanke Hände. Er hatte eine gewisse Ruhe, die geradezu
angsteinflößend war, eine Ruhe in seinen Bewegungen, die deutlich und bedacht
war.
Er
war lediglich unter dem Namen Christophe bekannt, und als er den Mann so anstarrte,
wünschte er sich, die Zigarette doch angezündet zu haben.
"Alles
ist in bester Ordnung", sagte Christophe in demselben kühlen Ton.
"Ich werde sicher bald eine Antwort für Sie haben."
Der
Mann nickte abermals, erfreut über die guten Nachrichten in dieser
Angelegenheit. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, sich an Christophe zu
wenden, aber er respektierte seine Befehle und er wusste, dass Christophe
ohnehin die beste Partie war. Und, was noch wichtiger war, Christophe und seine
Männer konnten, anders als das FBI, kontrolliert werden - zwar nicht durch ihn
selbst, aber immerhin.
"Gut",
sagte er. "Sie werden zufrieden sein. Die Zeit wird knapp, und wir können
es uns nicht leisten, Spielchen zu spielen."
"Ich
verstehe", erwiderte Christophe und fixierte den Mann vor sich.
"Richten
Sie ihnen aus, dass sie bald haben werden, was sie suchen."
Der
Mann war im Begriff aufzustehen, als er von einer Frage Christophes aufgehalten
wurde. "Wie lauten die Befehle, sobald das Objekt sichergestellt
wurde?"
"Beseitigen
Sie sie." Der Mann hielt inne, eine Hand an der Tür des kleinen dunklen
Zimmers. "Finden Sie heraus, ob die Information an Dritte weitergegeben
worden ist und beenden Sie es dann. Sprechen Sie sich ab, es ist uns egal.
Machen Sie jedenfalls ihren Job."
"So
gut wie erledigt."
Mit
dieser Bestätigung verließ der Mann das Treffen und griff wieder nach der
Packung Zigaretten, als die Tür hinter ihm in die Angel fiel.
Mulder
seufzte und massierte mit müden Fingern seine Schläfen. Die Wörter schwirrten
vor seinen Augen, eine endlose Reihenfolge von Ausdrücken, von denen er nicht
das Bedürfnis hatte, sie näher zu verstehen. Nicht zum ersten Mal wünschte er
sich, dass Scully bei ihm wäre. Es verbrachte heute den dritten Tag in der
Bücherei, er blätterte Seiten um Seiten durch und machte sich Notizen. Es war
unglaublich zeitaufwendig, aber sie hielten es beide für zu gefährlich, wenn
sie ihn begleiten würde. Allein war er unauffälliger. Zusammen würden sie
Aufsehen erregen.
Er
zwang sich dazu, sich auf die Seiten zu konzentrieren und weiter Listen der
Substanzen zu schreiben. Dilocaine, Dilomine, Dilosyn, las er
murmelnd vor sich hin. Dobutamine, Dolocene, Dolophine... Die Worte
vermischten sich in einem einzigen Klumpen. Er verlor rasch den Überblick, den
er unbedingt behalten musste. Scully war sich sicher, dass der Name auf den
sorgfältig beschrifteten Flaschen mit "D" begann, aber Mulder war
sich da nicht mehr so sicher. Seine vorherigen Ergebnisse waren auch nicht
besonders aufschlussreich gewesen, aber da hatte er noch nicht nach so vielen
Kriterien gesucht. Dieses Mal hatte Scully vorgeschlagen, er solle einfach eine
Liste aller Medikamente schreiben, die mit "D" begannen, die er
finden konnte, um so unter bestimmten Gesichtspunkten zu suchen. Grimmig biss er
die Zähne zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. Aber es half nichts.
Er
schob das Buch zur Seite und griff nach einem weiteren, kleineren Buch, als er
sich umsah. Er schlug die Seite auf, die er markiert hatte und las weiter.
"Korneale
Lichtundurchlässigkeit weist auf den Grad der Vernarbung des Augengewebes hin.
Es gibt viele Faktoren, die diesen Zustand bewirken können, insbesondere wenn
das Gewebe verbrannt wurde oder einer starken Lichtquelle oder Hitze ausgesetzt
worden ist. In seltenen Fällen, in denen das Ausmaß der Verletzungen nicht sehr
groß ist, ist es bereits vorgekommen, dass sich das Gewebe regeneriert hat. In
den meisten Fällen jedoch bleibt das Gewebe lichtundurchlässig und die
Augenmuskeln beginnen schnell, sich zurückzubilden."
Mulder
fuhr mit dem Finger über die Zeilen und speicherte sie in seinem Gedächtnis.
Fast am Ende des Absatzes fand er etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte, und
er schrieb die Textstelle in seinen Notizblock.
"In
einigen Fällen konnten Erfolge verzeichnet werden, indem man die Zurückbildung
der Augenmuskeln verhinderte. Bei Hornhauttransplantationen wird die Hornhaut
durch Spendergewebe ersetzt. Obwohl dieses Vorgehen relativ neu ist, sind in
vielen Fällen bereits erstaunliche Resultate erzielt worden, unter anderem von
Herrn Dr. Robert Bard, einem Pionier in Laserchirurgie."
Mulder
sah von dem Text auf und blickte auf die Uhr. Er musste bald gehen und er
wollte die letzten Minuten nutzten, um die Liste der Medikamente durchzugehen,
auf die der Text verwies. Er zögerte und stand dann mit seinem Schreibblatt in
der Hand auf.
Auf
einmal schien die Arbeit doch noch interessant zu werden. Karen legte das
rosafarbene Lesezeichen auf die Seite ihres Psychologiebuches und sah zu, wie
er näher kam. Sie nahm ihre metalleingefasste Brille ab, legte sie hinter sich
sie auf den Tisch und fuhr sich mit einer Hand durch ihr kastanienbraunes Haar
in der Hoffnung, dass ihr Verhalten nicht so offensichtlich war, wie sie
dachte.
Er
war der interessanteste Mann, dem Karen in den sieben Monaten, in denen sie
hier arbeitete, begegnet war. Sie hatte den Job in der Bibliothek mit der
Aussicht angenommen, dass ihr ein gut bezahltes Nichtstun nicht nur die
Möglichkeit geben würde zu lernen, sondern auch intelligente Männer aus Gelehrtenkreisen
zu treffen.
Getroffen
hatte sie sie, Dutzende sogar. Bücherwürmer mit Hornbrillen, die ihren
Büchereiausweis voller Stolz wie ein Abzeichen mit sich herumtrugen. Sie wünschte sich, sie würde Englisch
studieren oder Jura oder vielleicht etwas in romantischer Richtung, wie
Philosophie oder Altphilologie. Zwar hatte sie bei abendlichen Einladungen zum
Kaffee nie nein gesagt, aber keiner von den Männern hatte sie wirklich je
interessiert. Bis jetzt.
Er
hatte etwas an sich, das über sein Oxford-Hemd-und-Jeans-Bekleidung
hinausging. Sein Bart war etwas dunkler als seine braunen Haare und ihr war
aufgefallen, dass er von Zeit zu Zeit blinzelte, während er las. Sie fand es
lustig, dass er zu eitel war, um sich die Brille anzuziehen, die er offensichtlich
brauchte. Andererseits, dachte sie, kann er sich bei dem Gehalt eines Studenten
vielleicht gar keine leisten.
Er
kam mit festen Schritten auf sie zu. "Hallo", sagte er mit einem
höflichen Lächeln. "Wären Sie vielleicht so freundlich, mir einen Artikel zu
bringen?"
"Sicher",
antwortete sie und strich sich eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. Sie
merkte, dass er sie dabei beobachtete wurde rot. "Haben Sie die
Referenznummer?"
Er
antwortete zuerst nicht, sondern sah sie nur an, doch dann fasste er sich.
"Ja, hier", sagte er und reichte ihr einen Zettel.
Karen
war noch nie so froh gewesen, im hinteren Teil des Raumes verschwinden zu
müssen wie jetzt. Der Typ gefiel ihr wirklich sehr. Es war lächerlich—sie hatte
sich in einen Kerl verguckt, den sie bloß dreimal in der Bibliothek gesehen
hatte. Sie wusste nicht einmal, wie er hieß. Sie schüttelte den Kopf und tippte
die Nummer des Artikels, den er haben wollte, in den Computer. Einige Minuten
später kehrte sie mit den ausgedruckten Seiten in der Hand zurück. Er stand an
der Theke und wartete auf sie.
"Studieren
Sie Psychologie?" fragte er, als sie wiederkam und deutete auf das
aufgeschlagene Buch hinter der Theke.
"Ja",
antwortete sie. "Sechstes Semester."
"Sieht
nach einem guten Kurs aus", sagte er und sie nickte.
Karen
wollte ihr kurzes Gespräch noch nicht beenden und warf einen Blick auf die
Blätter, die sie in der Hand hielt. "'Fortschritte in der
Hornhauttransplantation'", las sie. "Basiert auf Untersuchungen von
Dr. Robert Bard am Jules Stein Institut für Augenkunde, UCLA."
Er
wirkte ein wenig nervös, sagte aber nichts, sondern streckte nur seine Hand
nach den Blättern aus.
"Das
verstehe ich nicht", sagte sie lebhaft. "Wie lautet Ihre These?"
"Wie
bitte?" Verwirrung stand in seinen braunen Augen.
"Ihre
These", wiederholte sie und bereute ihre Frage augenblicklich, weil es
verriet, dass sie ihn die ganze Zeit genau beobachtet hatte. "Ich meine...
Sie haben die ganze Zeit diese Listen von Medikamenten gelesen... und jetzt das hier. Ich sehe da keine Verbindung."
Er
starrte sie an und Karen sah etwas Dunkles und Trauriges in seinen Augen, von
dem sie nicht wusste, was es war. Er blinzelte und das Dunkel verschwand.
Anstelle dessen trat etwas, das eher nach ruhiger Entgegennahme aussah.
"Zwei
unterschiedliche Projekte", sagte er und entzog ihr die Unterlagen.
"Danke für Ihre Hilfe."
"Kein
Problem", erwiderte sie und sah ihm nach, als er wieder seinen Platz an
dem Tisch einnahm.
Karen
nahm wieder ihr Psychologiebuch zur Hand und gab vor, den Stoff für die morgige
Prüfung zu wiederholen anstatt ihn zu beobachten, tief in dem Artikel
versunken, den er von ihr bekommen hatte.
Kurze
Zeit später verließ er die Bücherei, ganze drei Stunden vor Ende ihrer Schicht.
Sie seufzte, als seine schlanke Gestalt aus der Tür verschwand. Sie wünschte,
sie könnte ihm folgen, und sie hoffte, dass er bald wiederkommen würde.
Das
ältere Ehepaar aus der Wohnung gegenüber kam ihm gerade entgegen, als Mulder
zurückkam. Er vermied Augenkontakt und nickte ihnen im Vorbeigehen kurz zu. Als
er die Tür öffnete, war er überrascht, als ihm der Geruch von Essen in die Nase
stieg.
Er
schloss die Tür und machte das Licht an. "Scully?"
"Hier!"
kam die Antwort und er ging in die Küche. Obwohl das Licht aus war, wurde die
Küche noch durch die untergehende Sonne erhellt und er erstarrte bei dem, was
er sah.
Scully
stand neben dem kleinen Tisch mit einem Glas in jeder Hand, die sie
offensichtlich zu den beiden Tellern stellen wollte, die auf dem Tisch waren.
Sie lächelte in seine Richtung, aber er nahm es kaum wahr, denn seine Augen
klebten an dem Herd hinter ihr. Die Gasflammen unter dem Kochtopf waren
alarmierend hoch und sie erreichten schon fast das Geschirrtuch, das daneben
hing.
Mulder
war in einer Sekunde neben dem Herd. Er riss das Tuch vom Haken und stellte den
Brenner mit einer hastigen Bewegung niedriger. "Scully—" sagte er
scharf, als er herumfuhr und sie ansah. "Was machst du denn da?"
"Abendessen",
antwortete sie und stellte vorsichtig die Gläser ab. "Was ist denn
los?"
"Du
hast fast das ganze Haus in Brand gesetzt!" Er nahm einen tiefen Atemzug,
um sich wieder zu fassen. "Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?"
Sie
antwortete nicht sofort, und als sie es tat, war ihre Stimme wie zugeschnürt.
"Ich habe gedacht, dass ich dazu in der Lage bin, eine Suppe aufzuwärmen
und ein paar Sandwiches zu machen."
Mulder
blickte sich in der Küche um. Auf dem Tisch verstreut standen einige Dosen und
andere Behälter, und er sah die Sandwiches, die etwas schief auf einem Tablett
neben der Spüle standen. Aber seine Aufmerksamkeit galt anderen Dingen.
Der
Dosenöffner, mit dem sie die Suppe geöffnet hatte. Das Messer, mit dem sie das
Brot geschnitten hatte. Die Flammen, die immer noch niedrig auf dem Herd
brannten. Er malte sich alle möglichen Katastrophen aus, aber trotzdem
versuchte er, seine Stimme ruhig zu halten. "Natürlich bist du das,
Scully, aber—"
Sie
schnitt ihm abrupt das Wort ab. "Hör auf, mich zu bemuttern, Mulder. Ich
bin kein kleines Kind."
Ihm
blieb das Wort im Halse stecken und sah sie zum ersten Mal wirklich an. Sie
trug ein langes geblümtes Kleid und eines seiner Hemden, die viel zu weiten
Ärmel hochgekrempelt. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und er konnte
deutlich ihre Wut hinter ihren zusammengebissenen Zähnen sehen.
Er
versuchte es noch einmal, viel vorsichtiger diese Mal. "Ich weiß..."
"Nein,
weißt du nicht." Ihre Worte waren kalt, sie schienen den ganzen Raum
einfrieren zu wollen. "Du weißt *überhaupt* nichts!"
"Scully,
bitte." Er trat einen Schritt auf sie zu, in der Hoffnung, sie zu
beruhigen. "Hör mir zu, bitte, ich..."
"Hör
auf—hör auf damit—halt die Klappe!" Scully wehrte ihn mit wild umher
schlagenden Armen ab. "Ich kann es nicht mehr hören, Mulder! Du hast
*keine* Ahnung, wie das ist. Du hast *keine* Ahnung, was ich durchmache!"
Mulder
stand völlig still, erstarrt durch ihre Worte.
"Weißt
du, wie das ist, Mulder, wenn man auf der Straße nichts sehen kann? Hast du
eine Ahnung, wie das ist, wenn man völlig hilflos ist und von anderen abhängig,
die dir bei allem helfen müssen?" Sie wich von ihm zurück und stieß dabei
gegen den Tisch, worauf eines der Gläser klirrend zu Boden fiel.
Der
Lärm erschreckte sie und er sah, dass sie die Ursache des Lärms suchte. Sie schrie vor Qual und Schmerz und Mulder
wusste, dass sie sich am Rande der Hysterie befand. "Ich hasse es, Mulder.
Hörst du? Ich *hasse* es!"
Er
ging auf sie zu und versuchte, ihren Arm zu fassen, aber sie wich fort und
schrie. "Ich hasse diese Dunkelheit, ich hasse sie!" Sie erreichte
die Theke und fuhr mit wild suchenden Fingern über die Oberfläche, bis sie das
Tablett mit den Sandwiches fand. Sie riss es vom Tisch und knallte es auf den
Boden. "Ich *hasse* es, so schwach zu sein!" Sie fuhr weiter über die
Theke und schmiss alles auf den Boden, das ihr in die Finger kam. "Ich
*hasse* es, so verletzlich zu sein! Ich *hasse* es, die ganze Zeit so eine
Angst zu haben!"
Scully
erreichte das Ende der Theke und bevor Mulder sie stoppen konnte, riss sie in
einem Schwung den Suppentopf vom Herd. Ihre Hand klatschte gegen das heiße
Metall und sie schrie vor Schmerz als siedend heiße Flüssigkeit sich auf dem
Boden um sie ausbreitete.
"Scully!"
Er
schrie sie an, er versuchte, sie vor ihrer Panik zu beruhigen. Er griff nach
ihr, aber er hielt sie nur für einen Moment fest, bevor sie sich aus seinem
Griff herauswand und ins Wohnzimmer stolperte.
Irgendwie
schaffte sie es, aus der Küche zu kommen, bevor ihr die Tränen in die Augen
schossen. Sie sank zu Boden und schlang die Arme um ihre Knie. Ihr Schluchzen
hallte unerträglich laut in ihren Ohren, als sie ihr Gesicht in ihren Knien
vergrub. Ihre rechte Hand tat weh, aber es half ihr, ihre Selbstbeherrschung
wiederzufinden.
Sie
hörte, wie er das Wohnzimmer betrat, aber sie bewegte sich nicht. Seine
Schritte kamen näher, bis er genau neben ihr stand. Dann fühlte sie, wie er ihr
die Hand auf die Schulter legte.
"Scully,
bitte", begann er, doch die Sorge in seiner Stimme weckte wieder ihre Wut
und sie schüttelte ihn ab.
"Geh
bloß weg von mir!"
Er
sagte nichts, und sie hoffte, dass der schrille Ton geholfen hatte. Sie merkte,
wie er sich neben sie auf den Boden setzte, aber er versuchte nicht wieder sie
anzufassen.
"Scully...
ich glaube, du hast dir die Hand verbrannt", sagte er sanft. "Lass
mich mal sehen... bitte."
Seine
Worte waren weich und es lag etwas darin, das sie fast dazu brachte, zu tun
wofür er sie bat, aber ihre Wut war noch nicht ganz gewichen. "Nein", keifte sie zwischen ihrem
Schluchzen. "Ich will nicht, dass du überhaupt noch irgendwas tust."
"Scully..."
"Ich
meine es ernst, Mulder." Sie setzte sich aufrechter hin und wischte sich
mit dem Ärmel über das Gesicht. "Ich will nicht, dass du mir Essen
machst... oder meine Klamotten aussuchst... oder irgendwas. Ich will es
nicht... Ich will es nicht... Ich will es nicht!"
Trotz
ihrer Versuche konnte Scully nicht aufhören zu weinen, und ihre Wut wandelte
sich schnell in Verlegenheit. Sie fühlte seine Hand auf ihrem Handgelenk und
dieses Mal ließ sie ihn gewähren. Er strich über ihre Handfläche und sie
zuckte. Dann fühlte sie etwas Kaltes und Nasses an ihrer Hand und sie erkannte
an dem Stoff, dass es das Geschirrtuch aus der Küche war.
"Ich
glaube, es ist nicht so schlimm", hörte sie ihn sagen als er provisorisch
ihre Hand verband. "Aber das wird den Schmerz etwas lindern."
Sie
nickte und zog ihre Hand wieder auf ihren Schoß. "Danke." Und nach
einem Moment fügte sie leise hinzu, "Es tut mir leid."
Sie
hörte ihn seufzen und er war so nahe, dass sie es fast spüren konnte.
"Nein,
Scully", sagte er. "Mir sollte es leid tun."
"Warum?"
"Wegen
allem", antwortete er und der Kummer in seiner Stimme berührte sie
zutiefst. "Ich habe dich im Stich gelassen, und ich habe versucht, es
wieder gut zu machen. Ich... ich glaube, dass ich aus lauter Angst, dich wieder
im Stich zu lassen, dich so—kontrolliere. Ich will nicht, dass dir noch
irgendetwas passiert."
Sie
hörte nur einen einzigen Ausdruck von dem, was er sagte. Einen Ausdruck, der in
ihrem Hirn widerhall und der endlich ihre Tränen trocknete. Sie drehte sich zu
ihm. "Was meinst du damit—du hast mich im Stich gelassen?"
Er
schwieg, und sie fand seine Hand mit ihrer unverletzten und drückte sie.
"Mulder?
Sag es mir."
"Das
Labor", sagte er leise. "Ich wusste, es war eine Falle. Du hättest
nie reingehen dürfen. Ich hatte versprochen, dich zu beschützen und ich—ich
habe versagt."
"Oh,
Mulder." Sie zögerte und suchte nach Worten, um auszudrücken, was sie
sagen wollte. "Du warst nie dafür verantwortlich, mich zu beschützen.
Außerdem hast du es versucht. Du hast mich gewarnt, du bist mir sogar da hinein
gefolgt. Ich habe bloß..." sie verstummte und hob reuevoll die Schultern.
"Ich war wie besessen, Mulder. Ich war mir so sicher, dass ich recht
hatte. Ich war nicht mehr in der Lage, auf irgendjemanden zu hören. Es gab nichts, das du hättest tun können."
"Aber
wenn ich nur bei dir gewesen wäre, hätte ich..."
"Hättest
du *was*, Mulder?" fragte sie, aber als er nicht antwortete, fuhr sie
fort. "Es gibt nichts, das du hättest tun können. Ich habe mir das selbst
eingebrockt." Scully schwieg wieder aus Angst das zu sagen, was sie so
lange für sich behalten hatte. Aber es war, als ob der Wall zwischen ihnen
gebrochen war, und sie wollte ihm alles sagen.
"Mulder",
begann sie, "in dieser Explosion sind Menschen umgekommen. Unschuldige Menschen—und ich—es war meine
Schuld. Vielleicht... vielleicht
verdiene ich es ja."
"Nein!"
explodierte er. "Du hast nichts getan, um so etwas zu *verdienen*, Scully!
Denk sowas nicht!" Seine Worte waren fest, aber sie konnte das Zittern
darunter hören. "Niemand verdient so etwas, Scully....
am wenigsten du."
"Oh,
Mulder." Sie hob ihre Hand an sein Gesicht und fühlte, dass seine Wange
feucht war. Sie erkannte mit Schrecken, dass er weinte.
"Weißt
du denn nicht..." sagte er in heiserem, gebrochenen Flüstern. "Wenn ich... ich würde *alles* tun... ich würde
*alles * dafür geben... wenn... wenn es
dir dein Augenlicht zurückgeben würde... wenn es dich wieder ganz machen
würde."
Überwältigt
durch den Schmerz und die Trauer in seinem leisen Geständnis, legte sie ihre
Arme um ihn und zog ihn ganz nah an sich heran. Sie fühlte, wie er auch seine
Arme um sie legte und wie er durch die Macht der Tränen, die ihn schüttelten,
zitterte. Wieder fing sie an zu weinen. Sie presste ihre Stirn an seine, seine
Haut warm und weich an ihrer. Das plötzliche Verlangen, ganz nah bei ihm zu
sein und ihn zu trösten, überkam sie, und sie strich sanft mit ihren Lippen
gegen seine.
Stop!! Haltet den
Bus an!!! Da sind sicher ein paar grummelige NorRoMos im hinteren Teil, die aussteigen wollen... Sorry,
Leute—Ich weiß, ich hätte am Anfang von diesem Teil eine Warnung schreiben
müssen, aber ich konnte meine Drama-Hand einfach nicht dazu bewegen. ;-)
Außerdem denke ich, dass ich die Szene auch für die größten Carter-Anhänger
früh genug geschnitten habe, oder? Jedenfalls möchte ich mich entschuldigen,
wenn sich jemand ärgern sollte— die Story ist eine Geschichte für sich! Wenn
Ihr trotzdem noch weiterlesen möchtet, die Teile 4-12 werden gleichzeitig
gepostet.
Ich
möchte mich bei der Gelegenheit bei Brian bedanken, der mir seine
Medizin-Bücher ausgeliehen hat und sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zu
beantworten. Du bist der Beste! :-) Und
jetzt, rein in die Höhle des Löwen...
X-3
X-3
Dies
hier ist der vierte Teil eines Zwölfteilers. Wort der Autorin, Spoiler Warnung
und Dementi können am Anfang von Teil 1 gefunden werden. Und wenn wir schon
einmal dabei sind, möchte ich eine Relationship-Warnung
vorausschicken... ;-)
IM BLAUEN
HOTEL (4/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Scully
wich erschrocken zurück, als ihr bewusst wurde, was sie tat. Mulder blickte sie
mit tränenfeuchten Augen an und wie aus dem Nichts fiel ihm plötzlich wieder
die Porzellanpuppe ein, die er Samantha zum siebten Geburtstag geschenkt hatte.
Dunkles, seidiges Haar. Glatte, zarte Haut. Klare, blaue Augen, die sein Bild
widerspiegelten, ohne zu zeigen, was in ihnen lag.
Scully
wurde rot und ihm wurde mit einem Schlag klar, dass es nicht so sehr mit ihrer
unglaublichen Schönheit zu tun hatte, dass er sich so zu ihr hingezogen fühlte,
sondern vielmehr mit dem, was in ihr steckte. Ihre Lebhaftigkeit, ihr Mut, ihre
Stärke. Diese Eigenschaften machten sie menschlich, wirklich und lebendig.
Sie
legte ihre Hand auf seine Brust und schüttelte den Kopf. "Mulder, ich...
ich..."
Mulder
wollte nicht, dass sie abstritt, was sie eben getan hatte. Er lehnte sich zu
ihr und presste seine Lippen gegen ihre... und ertrank in ihrer Wärme und
Geschmeidigkeit. Ohne Nachzudenken zog er sie an sich heran und nahm sie in
seine Arme.
Scully
fühlte seine Lippen auf ihren und erzitterte, als das Gefühl ihren Körper
durchschoss. Ihr erster Gedanke war, von ihm weg zu kommen. Ihr Verstand sagte
ihr, dass es falsch war, dass es gegen jede ethische Regel des FBI war. Aber
sie war nicht länger dieselbe Frau, die einst diese Regeln gelernt hatte. Diese
Frau, Special Agent Dana Scully, hatte sie vor sechs Wochen in Washington DC
hinter sich gelassen. Nun war sie sich nicht mehr so sicher, wer sie war, aber
der Teil von ihr, der zu Lisa Wilder geworden war, empfand es als einen
schützenden Unterstand vor dem Schrecken der letzten zweiundvierzig Tage. Es
war dieser Teil von ihr, der seinen Kuss erwiderte, ihre Finger durch die
kurzen Haare an seinem Nacken streichen ließ und sich völlig seiner sanften
Berührung hingab.
Mulders
Kuss war lang und tief und zärtlich. Er strich beruhigend über ihren Hals, ihre
Schultern, ihren Rücken. Sein Bart kitzelte leicht auf ihrer Haut, als sich
seine Lippen auf ihren bewegten. Ihre Unsicherheit, ihre Furcht und alle ihre
Ängste waren auf einmal wie weggeflogen durch seine Nähe. Sie gab sich völlig
seinen Liebkosungen hin und stöhnte sanft, als er seinen Körper näher an sie
heran drückte.
Sie
fühlte seine Finger auf ihrem Schlüsselbein, seine elektrisierenden Hände
entfachten tief in ihrem Inneren ein Feuer. Sein zärtliches Streicheln sank
tiefer, zu ihrem Ausschnitt, und seine Finger spielten mit den Knöpfen ihres
Hemds. Es kam ihr vor, als würde sie nur durch seine Kraft aufrecht erhalten,
nur durch seine Arme gestützt, die sie an seinen Körper hielten.
Er
begann, den obersten Knopf aufzumachen und plötzlich verspannte sie sich. Sie
hatte Angst, vor dem was passieren würde, wenn sie ihn gewähren ließ. Sie nahm
ihre Hände von seinem Hals und legte sie auf seine, in der Hoffnung, dass er
ihr stilles Zeichen verstand.
Er
schien zu verstehen und beugte sich zurück und sie ließ ihren Kopf auf seine
Schulter fallen. Sie fühlte seinen kurzen, flachen Atem neben ihrem Ohr, das
ihr von Kopf bis Fuß einhüllte. Sie kuschelte sich näher an ihn und war sich
augenblicklich ihrer roten Wangen bewusst. In diesem Moment war sie dankbar,
dass sie seine Augen nicht sehen konnte und nicht wusste, was er dachte.
Mulder
hielt sie fest umschlungen, bis sie einschlief. Er strich über ihr Haar und
küsste sie sanft auf die Wange, aber sie regte sich nicht. Als ihm selbst die
Augen begannen zuzufallen, stand er auf. Er nahm sie in die Arme und trug sie
ins Schlafzimmer. Sanft legte er sie auf das Bett und zog ihr die Schuhe aus,
bevor er sie zudeckte.
Er
zögerte einen Moment und blickte auf ihr friedliches Gesicht. Er dachte an die
Unordnung in der Küche, doch zuckte dann mit den Schultern. Das kann bis morgen
warten, dachte er bei sich, zog seine Schuhe aus und legte sich neben sie.
Sogar im Schlaf zog es sie zu ihm, denn sie rollte sich in seine Arme. Sie
schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter und atmete ruhig und gleichmäßig. Nach
nicht langer Zeit wurde auch er von traumlosem Schlaf übermannt.
Scully
wachte mit dem Gedanken auf, dass sie allein im Bett lag. Sie tastete suchend
nach ihm über die Laken, doch als er nicht aufzufinden war, bekam sie Angst.
Dann ertönte Lärm aus einem anderen Zimmer und die anfängliche Furcht wich von
ihr. Sie hörte noch einen Moment zu, bevor sie ihn rief.
"Mulder?"
Sie
hörte, wie er näherkam und dann das Quietschen der Tür, als er sie aufstieß.
"Scully? Alles in Ordnung?"
"Ja",
antwortete sie, erleichtert, seine Stimme zu hören. "Was machst du?"
"Ich
räume die Küche auf", antwortete er und sie wurde rot, als sie sich an den
vorherigen Abend erinnerte.
"Oh..
Wie spät ist es?"
"Kurz
nach acht."
"Morgens?"
fragte sie überrascht.
"Ja",
sagte er. "Du hast die ganze Nacht durchgeschlafen."
Sie
erwiderte nichts, sondern nickte nur. Sie wusste, dass er hinsah.
"Möchtest
du Kaffee?" Sie nickte abermals und hörte, wie er sich in die Küche
entfernte. Sie blieb auf dem Bett liegen mit tausend wirren Gedanken im Kopf.
Sie fühlte sich gut, zum ersten Mal seit Wochen richtig ausgeruht, aber dieses
Gefühl wurde von einer seltsamen Unruhe gehemmt, von der sie nicht wusste,
woher sie kam.
Als
er zurückkam, saß sie aufrecht an das Kopfende des Bettes gelehnt und ihre
Haare fielen wirr auf ihre Schultern. Mit der Kaffeetasse in der Hand trat er
näher und setzte sich neben sie. Vorsichtig gab er ihr die Tasse in ihre
ausgestreckten Hände und sah zu, wie sie daran nippte.
"Okay?"
fragte er und war erleichtert, sie lächeln zu sehen.
"Perfekt",
sagte sie. "Genau das habe ich gerade gebraucht."
"Gut."
Ihm fielen keine weiteren Worte ein, also blieb er sitzen und sah ihr zu.
Sie
waren beide still, als sie noch einige vorsichtigen Schlucke nahm und dann nach
dem Nachttisch tastete, um die Tasse abzustellen. Sie stellte sie ziemlich nahe
an den Rand und er schob sie etwas mehr in die Mitte. Sie runzelte die Stirn.
"Mulder", begann sie und zögerte einen Moment, bevor sie weiter
sprach. "Wegen gestern Abend..."
"Du
musst mir überhaupt nichts erklären", unterbrach er sie, aber sie
schüttelte den Kopf und er ließ sie sprechen.
"Ich
möchte es aber." Sie fummelte an dem Bettlaken. "Es tut mir
leid... was passiert ist. Wegen dem
Chaos in der Küche... und..."
"Mir
nicht." Mulder war selbst überrascht über seinen energischen Ton.
"Mir
aber." Ein Anflug von Röte huschte über ihr Gesicht und sie drehte sich
weg. "Das... das hätte nicht passieren dürfen. Und... ich möchte mich
entschuldigen."
"Scully..."
Er legte seine Hand auf ihre, um ihre nervösen Finger zu stillen. "Ich
wollte es... ich wollte dich küssen."
Sie
seufzte und Mulder sah eine eigenartige Melancholie auf ihrem Gesicht, die er
vorher noch nie gesehen hatte. "Mulder... ich möchte nicht... ich möchte
nicht, dass ich dir leid tue. Dass du... dass du Mitleid mit mir hast... das könnte
ich nicht ertragen."
"Oh,
Scully... nein." Der Schmerz in ihrer Stimme brach ihm das Herz und er
strich ihr über die Wange. Sie zuckte bei seiner Berührung, aber er schaffte
es, sich ihr Gesicht zuzudrehen. "Weißt du denn nicht... das hat überhaupt
nichts damit zu tun." Sie antwortete nicht und er nahm ihr Schweigen als
einen Anlass, weiter zu sprechen. "Ich fühle mich schon seit sehr langer
Zeit zu dir hingezogen, lange bevor wir DC verlassen haben. In so vielen
Hinsichten... mehr, als ich je erkannt habe. Bis—bis jetzt."
Scully
verhielt sich absolut still. Sie fühlte die Wärme seiner Hand auf ihrer Haut.
Seine Worte waren ruhig und beschwichtigend, doch trotzdem konnten sie die
hohle Leere in ihr nicht füllen.
Er
wartete auf eine Antwort, aber sie sagte immer noch nichts. Dann hörte sie, wie
er tief durchatmete und seine Hand von ihrem Gesicht nahm, um mit beiden Händen
ihre zu umschließen. "Scully... du musst mir glauben. Ich kann mir ein
Leben ohne dich nicht vorstellen. Einmal musste ich es. Und ich könnte nie...
ich würde das nicht noch einmal überleben."
Auf
einmal öffnete sich ein Bild vor ihrem inneren Auge, ein Bild von ihm damals.
Wie er ausgesehen hatte, als er in der blauen Windjacke etwas verlegen neben
ihr am Krankenhausbett gestanden hatte. Seine Hände hatten nervös mit dem
Goldkettchen gespielt, an dem ihr Kreuz hing und in seinen Augen stand eine
Mischung aus Leid und Erleichterung.
"Scully",
sagte er kaum lauter als ein Flüstern. "Ich bin hier bei dir, weil ich es
so gewollt habe."
Scully
spürte einen Kloß in ihrem Hals und sie bekam feuchte Augen.
"Mulder..."
"Bitte...
Dana", flehte er und der Klang ihres Vornamens klang süß in ihren Ohren.
"Lass mich. Bei dir sein."
Er
umarmte sie und die Spannung wich von ihr. Sie war das Gefühl seiner Arme um
sie nun gewohnt, aber doch war es irgendwie anders und neu. Er vergrub sein
Gesicht in ihrer Schulter und sie fühlte, wie er sie sanft auf den Hals küsste
und wie ein warmer Schauer ihren ganzen Körper durchfuhr.
Sie
sagte nichts, und er genoss das Gefühl ihrer Arme um sich. Er drehte ein wenig
ihren Kopf und ihr Haar strich leicht an seiner Wange. Er beugte sich näher und
küsste sie sanft auf die Lippen. Zärtlich ließ er seine Zunge über ihre Lippen
gleiten und sie erwiderte seine Liebkosungen. Rasch vertiefte sich der Kuss zu
einer leidenschaftlichen Erkundung.
Nach
einigen langen Momenten erlöste er sie. Seine Hände waren immer noch in ihrem
Haar und auf ihrem Gesicht, das nur einige Zentimeter von seinem entfernt war.
Er blickte sie voller Sehnsucht an, doch ihr Blick blieb leer und dumpf. Er
küsste leicht ihre Stirn und war froh, ein kleines Lächeln auf ihren Lippen zu
sehen.
Sie
rückte ein wenig von ihm weg und tätschelte den leeren Platz neben sich. Er
verstand, rückte näher und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie legte ihren
Kopf an seinen Hals zwischen seiner Schulter und seinem Kinn und sie saßen
still da und genossen die neue Nähe, die zwischen ihnen entstanden war.
Ein
Grummeln aus Scullys Magengegend unterbrach die friedliche Stille. Sie kicherte
verlegen und löste sich von ihm.
"Mulder",
sagte sie, "ich glaube, es ist Zeit fürs Frühstück."
"Gute
Idee", stimmte er zu. Er stand auf und nahm sie bei der Hand, als er sie
vom Bett in die Küche führte.
Der
Mann stand in dem dunklen Zimmer. Seine Augen waren auf den flimmernden
Fernseher vor ihm gerichtet, doch er nahm ihn kaum war. Er dachte nach, unter
anderem über die Zeit, die für seinen Geschmack viel zu schnell verstrich.
Er
warf einen weiteren Blick auf die Uhr, als er sich eine Zigarette anzündete. Er
genoss das Gefühl des Nikotins, das seine Lungen füllte. Langsam begann er, an
dem Lauf der Dinge, die passierten, zu zweifeln, aber er hatte keine
Möglichkeit, irgendetwas daran zu ändern. Er hasste es zugeben zu müssen, aber
er hatte die Situation überhaupt nicht unter Kontrolle und das machte ihn mehr
als wütend. Er war ein Mann, der so eine Ohnmacht zutiefst verabscheute.
Das
Scheppern des Telefons war eine willkommene Unterbrechung seiner düsteren
Gedanken.
"Ja?"
Seine Stimme war scharf und brüsk. Die Stimme am anderen Ende war
unverwechselbar. Christophe. "Ich möchte Sie nur wissen lassen, dass wir
unserem Ziel sehr nahe sind."
"Wie
nahe?" fragte der Mann und nahm einen langen Zug an seiner Zigarette.
"Ich habe mir sagen lassen, dass unsere Zielobjekte gesichtet worden sind.
Es wird nicht mehr lange dauern."
"Gut."
Der Mann war mit dem bisher Erreichten zutiefst zufrieden. "Lassen Sie es
mich wissen, wenn es erledigt ist."
"Selbstverständlich."
Eine Sekunde später war die Leitung tot.
Der
Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blies kleine Kreise in die Luft. Er
war erleichtert zu hören, dass Fortschritte gemacht worden sind, aber ein Teil
von ihm fluchte noch immer darüber, dass er nicht bei dem großen Finale dabei
sein konnte, an das er in den letzten Wochen immerzu gedacht hatte. Aber er war
schlau genug, sich in diesem Punkt nicht einzumischen.
Er
drückte die Zigarette in dem überfüllten Aschenbecher neben ihm aus, schaltete
auf einen anderen Kanal um und gab sich wieder seinen düsteren Gedanken hin.
Scully
hörte Schritte auf dem Metall der Feuerleiter krachen und musste lächeln, als
sie den Menschen erkannte, zu dem sie gehörten. Trotz des Lärms auf der Straße
konnte sie hören, wie der Junge sich ihr näherte.
"Hallo",
sagte sie und lächelte in seine Richtung.
"Hallo,
Ma'am", antwortete er höflich. "Wissen Sie noch, wer ich bin?"
Sie
nickte. "Charlie", sagte sie. "Von nebenan."
"Genau",
antwortete er und sie hörte den glücklichen Unterton in seiner Stimme.
"Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste?"
Sie
schüttelte den Kopf. "Nicht im Geringsten."
Er
setzte sich neben sie, und sie konnte hören, wie er sich auf der geteerten
Oberfläche zurechtsetzte. Für eine Weile sagte er nichts und sie vernahm nur
das Geräusch seiner leicht keuchenden Atemzüge.
Nach
einiger Zeit versuchte er, ein Gespräch anzufangen. "Kennen Sie sich mit
Brüchen aus?"
"Ein
wenig", sagte sie und versuchte sich ein Grinsen zu verkneifen.
"Ich
hasse Brüche", sagte der Junge. "Ich habe es lieber, wenn die
Ergebnisse glatt rauskommen."
"Ich
auch", sagte sie und sie schwiegen wieder.
Charlie
betrachtete sie näher. Sie sieht heute irgendwie anders aus, dachte er bei sich.
Irgendetwas bewirkte, dass sie viel ruhiger und glücklicher schien, sie
strahlte geradezu. Er verfluchte die Tatsache, dass er einen Tag mit seinen
Beobachtungen versäumt hatte. Seine Mutter hatte ihn zum Zahnarzt geschleppt
trotz seiner Proteste, er hätte Wichtigeres zu tun. Und jetzt kam es ihm vor,
als ob er etwas sehr Wichtiges verpasst hätte, etwas, das er hätte aufschreiben
müssen.
Er
hatte den ganzen Morgen damit verbracht, den Mut aufzubringen, sie etwas zu
fragen. Aber jetzt, wo er die Gelegenheit dazu hatte, war er sich nicht mehr so
sicher, ob er ihr diese Frage stellen sollte. Er beschloss, zunächst etwas
Einfaches zu fragen. "Wie ist Ihr Name?"
Sie
zögerte für einen Moment, bevor sie antwortete. "Lisa", sagte sie.
"Lisa",
wiederholte er. Es war ein schöner Name für einen Engel, obwohl er sich nicht
daran erinnern konnte, ihn jemals in der Bibel gelesen zu haben. Es gab mal ein Mädchen in seiner Klasse
namens Lisa, aber Charlie wusste, dass sie kein Engel war. Nicht im Mindesten.
Diese Lisa hier war etwas Besonderes.
"Das
ist ein schöner Name."
"Danke",
sie lächelte und Charlie wurde wieder zuversichtlich.
"Lisa",
fragte er, "Sie kommen nicht aus der Gegend hier, oder?"
Sie
zog scharf die Luft ein und er konnte sehen, wie eine Sorgenfalte über ihr
Gesicht huschte. "Nein", gab sie zur Antwort. "Ich... bin nur
auf der Durchreise."
Charlie
war erleichtert. Immerhin hatte er recht gehabt. "Das ist gut." Er
sah auf die Uhr und stand auf. Sein Vater könnte jede Minute nach Hause kommen.
"Ich muss gehen", sagte er. Dann, "Ich bin froh... Ich bin froh,
dass Sie hier auf der Durchreise sind."
Er
nahm ihre Hand und sie drückte sie. "Bye, Charlie", sagte sie.
"Bye",
echote er und lief wieder zu der Feuerleiter am anderen Ende des Daches. Als er
die Treppen herunter stieg, blieb sein Blick an ihr hängen. Er wünschte sich, bleiben zu können, aber er
konnte das Risiko nicht eingehen.
Scully
saß auf der Couch und hörte die Nachrichten im Fernsehen, als sie den Schlüssel
im Schlüsselloch hörte. Sie horchte, als die Tür aufschwang und erkannte seine
Schritte, als er den Raum betrat. Es kam ihr vor, als hätte sie tagelang auf
seine Rückkehr von der Bücherei gewartet, obwohl es in Wirklichkeit nur ein
paar Stunden gewesen waren. "Hey", rief sie zur Begrüßung. Sie konnte
es kaum erwarten, seine Stimme zu hören.
"Selber
hey", antwortete er. Sie hörte, wie er die Türe zuschlug und nahm
augenblicklich eine starken, süßlichen Duft wahr. Sie
horchte, wie er sich näherte und hörte ein ungewohntes Rascheln, das die
Geräusche seiner Bewegungen begleitete.
"Mulder?"
Sie war neugierig. "Was ist das für ein Geruch?"
Sie
spürte, wie er sich neben sie setzte. Der Duft war nun ganz nah und er überkam
ihre Sinne in einer Welle von Lieblichkeit. Er griff nach ihren Händen, und sie
hörte es wieder rascheln, als er ihr etwas in die Hände drückte. Papier, glatt
und kühl an ihrer Haut, das um lange, dünne Stängel gewickelt war. Noch ein
Atemzug und sie erkannte, dass sie einen Strauß der wohlriechendsten Blumen in den Händen hielt, der ihr je
untergekommen war.
"Mulder!"
Sie wiederholte seinen Namen dieses Mal mit einem Lächeln, aber ihre Frage
stand noch deutlich in ihrer Stimme.
"Es
sind Gardenien", antwortete er leise. "Ich wollte dir eigentlich
Rosen kaufen, aber diese hier... sie riechen viel schöner."
Ein
stechender Schmerz füllte ihr Herz, der nicht durch diese Geste entstand,
sondern von seinen rührenden Worten, die seine Umsichtigkeit und Rücksicht viel
besser zum Ausdruck brachten, als die Blumen selbst.
Mulder
saß neben ihr und versank in dem Anblick, wie sie ihr Gesicht in dem Strauß
Blumen vergrub und wie ihr Haar wie ein dunkler Vorhang über die weißen
Blütenblätter fiel. Er freute sich, sie glücklich zu sehen und er verdrängte
die Bedenken, die er hatte, als er den Blumenladen betreten hatte. Seine
alberne Idee hatte sie glücklich gemacht.
Nach
einem Moment hob sie den Kopf und fragte, "Bringt Rick Lisa immer Blumen
mit, wenn er nach Hause kommt?"
Er
verstand, was sie meinte. "Ja, wenn Lisa es gern hat."
Sie
schenkte ihm ein kleines Lächeln, das in seiner Schüchternheit verführerisch
war. "Lisa", antwortete sie, "hat Rick gern. Sehr gern."
Ihre
Worte hallten in ihm wider und er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen. Den
Blumen, die er zerdrückte, als er sie in die Arme nahm, schenkte er keine
weitere Beachtung. Sie erwiderte seinen Kuss und erfüllte ihn mit einer stillen
Zufriedenheit, die ihn die langen und langweiligen Stunden vergessen ließen,
die er in der Bibliothek verbracht hatte.
Stunden, in denen sie nicht bei ihm gewesen war.
"Lass
uns Essen gehen", sagte er, als er sich löste, um zu Atem zu kommen.
"Ernsthaft?"
fragte sie.
Er
strich mit seiner Hand über ihr Gesicht, über ihre Schulter und über ihren Arm,
bevor er ihre Hand nahm. "Es ist schon spät und es sind viele Leute auf
den Straßen. Es ist kein großes Risiko."
"Okay",
antwortete sie mit einem Lächeln, das er nicht widerstehen konnte zu küssen.
X-4
X-4
IM BLAUEN
HOTEL (5/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Lucy
bahnte sich vorsichtig ihren Weg durch den Menschenpulk an die Bar und
verfluchte im Stillen den zweiten Drink, den sie sich im Napoleon-Haus während
einer angeblichen "Party" genehmigt hatte. Für Lucy war es wieder
einmal der Anfang einer langen Nacht, die nicht sonderlich anders sein würde,
als alle anderen, an die sie sich in der letzten Zeit erinnern konnte.
"Hey,
da drüben!" grüßte sie Tommy, der wie immer in der Bar hinter der Theke
stand.
"Hi,
Süße!" säuselte er und schenkte ihr sein typisches Macho-Grinsen mit
strahlend weißen Zähnen in einem braungebrannten Gesicht. "Das
Übliche?"
"Was
denn sonst?" gab sie zur Antwort und zog sich den Barhocker hoch, um den
Margarita entgegenzunehmen. Einen Moment später erschien Tommy auch schon
wieder mit dem Kunstwerk in der Hand. Sie nahm einen langen Schluck und seufzte
vor Zufriedenheit. Sie wusste, dass sie zu viel und zu oft trank, aber es war
eine Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen. Eine Möglichkeit, die Schuldgefühle
zu ignorieren, die sie in den letzten Tagen fühlte. Lucy hatte sich in den
Monaten, seit sie von Los Angeles zurückgekehrt war, in ihrer immer größer
werdenden Verzweiflung ihren Süchten hingegeben. Sie war Autorin von Beruf und
hatte zwei Romane und ein Buch mit Kurzgeschichten herausgebracht. Aber in
letzter Zeit hatten sich ihre guten Ideen rar gemacht und ein Autor ohne eine
Geschichte war wertlos, hatte sie sich von ihrem Manager sagen lassen, als er
ihren Vertrag gekündigt hatte.
Lucy
nahm einen weiteren Schluck und blickte sich in dem Restaurant um. Es war schon
spät und das Mr. B's war gut besucht: Touristen und
ein paar Anwohner, die immer wieder wegen der besten Novelle Cuisine herkamen, das New Orleans zu bieten hatte. Eine
Vielzahl verschiedener Menschen umringte sie. Sie betrachtete jeden einzelnen
genau, machte sich ein Bild von ihm und setzte sie alle ihrer strengen
Musterung aus.
Sie
bemerkte das Pärchen in der Ecke, weil es ihr irgendwie besonders erschien. Sie
strahlten etwas aus, das sie in den letzten Wochen in menschlicher Gesellschaft
noch nicht gesehen hatte. Es war, als ob sie völlig allein wären, obwohl der
Raum angefüllt war mit hunderten von Menschen. Der Mann hatte seinen Arm um die
Schultern der Frau gelegt und hielt sie nahe bei sich. Etwas an seiner Umarmung
ließ in Lucy wieder Gefühle aufkommen, von denen sie gedacht hatte, dass sie
sie längst vergessen hätte. Der Mann sagte etwas zu der Frau, worauf sie lachte
und näher an ihn heran rückte. Es schien, als ob es zwischen ihnen eine tiefe
Verbindung gab, eine Verbindung, die Lucys Neugier weckte.
Tommys
warnenden Blick ignorierend, bestellte sich Lucy noch einen Drink, nachdem sie
ihr Glas leer vor sich vorfand. Sie hatte nur Augen für das Pärchen, das an dem
kleinen Tisch im hinteren Ende des Raumes völlig ineinander vertieft war.
"Hast
du etwa noch nie frisch Verheiratete in den Flitterwochen hier gesehen?"
spottete Tommy, als er ihr das Glas reichte. "Was ist an denen so
besonders?"
"Gar
nichts", lächelte Lucy. "Ich beobachte nur. Du weißt, wie das
ist."
"Ja,
das weiß ich in der Tat", grinste Tommy sie an.
Lucy
antwortete nicht, als der Mann aufstand und die Hand der Frau drückte. Sie beobachtete, als er sich seinen Weg zu
den Toiletten im hinteren Ende des Restaurants bahnte. Er verschwand aus ihrem
Blickfeld und ihre Augen fielen wieder auf die Frau, die nun allein an dem
Tisch saß. Erst jetzt bemerkte Lucy, was das zärtliche Beisammensein der Beiden
verdeckt hatte: die Frau war blind, ihre Augen leer und ausdruckslos. Sie blieb
geduldig sitzen und wartete auf die Rückkehr ihres Gefährten. Das ist nicht ein
gewöhnliches Pärchen in den Flitterwochen, dachte Lucy, und sie fühlte
plötzlich den altbekannten Eifer, der sie erfasste, wenn sich eine neue Idee in
ihrem Kopf formte.
"Hey,
Tommy", rief sie, "gib mir noch ein paar von denen, ja?"
"Püppchen",
kam die Antwort, "glaubst du nicht, dass du dich ein wenig bremsen
solltest?"
"Laber
nicht‘", nörgelte sie. "Ich stelle hier gerade ein kleines Geschenk
zusammen."
Tommy
sagte nichts weiter und einen Moment später tauchten zwei volle Gläser vor ihr
auf. Sie ließ ihren eigenen halbvollen Drink stehen und ging mit den zwei
Gläsern zu dem Tisch, an dem die Frau saß.
Scully
wartete auf Mulder und versuchte, den Lärm um sie herum zu deuten. Wie Mulder vorausgesagt hatte, war das
Restaurant voller Leute, die ihren Feierabend genießen wollten. Die laute
Musik, eine Mischung zwischen Blues und Jazz, kam von einer Live-Band, die
nicht weit von ihrem Platz stehen musste. Der Duft von gebratenem Fisch und
wohlriechendem Kaffee stieg ihr in die Nase. Der Raum wirkte fast erdrückend in
seiner Lebhaftigkeit und Intensität, aber Scully konnte sich nicht daran
erinnern, wann sie das letzte Mal so glücklich gewesen war. Es war schöner, als
sie erwartet hatte, raus aus ihrem Apartment und inmitten von Leben zu sein,
anstatt es allein oben auf dem Dach zu erleben.
Sie
hörte unbekannte Schritte näherkommen und wurde unsicher. Einen Moment später
verriet eine Stimme den Besucher.
"Margaritas",
sagte die Stimme, in einem süßen und femininen südlichen Akzent. "Die
Spezialität des Hauses."
Scully
hielt für eine Sekunde inne. "Wir haben nichts bestellt", sagte sie
und senkte ihren Kopf, um nicht auf ihre Blindheit aufmerksam zu machen.
"Betrachten
Sie es als ein Geschenk", kam die Antwort, und Scully hörte das Klicken,
als die Gläser auf ihren Tisch gestellt wurden. Sie roch das reiche Aroma von Tequilla und Salz und war plötzlich versucht, das Angebot
anzunehmen. "Ein wenig südstaatliche Gastfreundschaft."
"Danke
sehr", sagte sie und tastete vorsichtig nach einem Glas. Sie fand eines,
nahm es fest in die Hand und versuchte, nichts zu verschütten, als sie es zu
ihrem Mund führte. Sie nahm einen kleinen Schluck und bemerkte, dass ihre
Gönnerin auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen hatte. Der Margarita war stark
und kühl und wohltuend, als er ihr den Hals herunterrann, und sie nahm noch
einen Schluck, bevor sie das Glas wieder abstellte.
"Gut,
was?" Scully meinte, ein Grinsen in der Stimme zu hören und schenkte ihrer
unbekannten Gefährtin ein Lächeln.
"Ja,
sehr gut", stimmte sie zu. "Arbeiten Sie hier?"
"Nee,
obwohl Tommy es gerne so hätte."
"Tommy?"
fragte Scully sichtlich durcheinander.
"Der
Barkeeper. Ein guter alter Junge. Er bringt mich zum Lachen von Zeit zu Zeit."
Scully
nickte. Ihr war plötzlich bewusst, dass eine Unterhaltung mit Fremden nicht
unbedingt ein weiser Schachzug ist. Aber doch lag etwas in dieser vollen,
beständigen Stimme dieser Frau, das ihr sagte, dass es ungefährlich war.
"Wenn
Sie nicht hier arbeiten", fuhr sie fort, "warum bringen Sie mir dann
die Getränke?"
"Ehrlich
gesagt", hörte sie die Frau sagen, "aus Neugier. Ich konnte einfach
nicht anders. Ich liebe es, Leute kennenzulernen—einige nennen mich vorwitzig.
Ich bevorzuge eher den Ausdruck auf natürliche Weise wissbegierig. Das klingt
doch gleich viel besser, oder?"
Scully
musste lachen. Die Frau war ein wenig seltsam, aber es war schwer, ihrem Charme
zu widerstehen. "Ja, viel besser", stimmte sie zu.
In
dem Moment unterbrach eine Stimme von anderen Ende des Raumes ihre
Unterhaltung. "Lucy? Belästigst du wieder meine Gäste?"
Scully
hatte keine Gelegenheit zu widersprechen, als Lucy rief: "Locker bleiben,
Tommy-Boy. Es macht dieser Lady hier überhaupt nichts aus. Hab ich recht,
Schätzchen?"
Eine
Welle von Erleichterung überfiel Scully, als ob die Anwesenheit der Frau durch
die Kenntnisnahme des Barkeepers genehmigt würde. "Nein, es macht mir
nichts aus", bekräftigte sie. "Und danke für die Drinks."
"Ist
doch Ehrensache", kam Tommys Antwort. "Sagen Sie nur Bescheid, wenn
Sie noch einen möchten."
Scully
fühlte sich jetzt viel lockerer und nippte abermals an ihrem Glas. Sie hörte, wie die Frau ihr gegenüber
kicherte. "Ja ja, der gute alte Tommy. Den
schickt der liebe Gott. Er mischt die besten Drinks." Nach einem
Augenblick fragte sie. "Sie kommen nicht aus dieser Gegend, oder?"
"Nein",
antwortete Scully. "Wir besuchen hier nur jemanden."
"Hmmm..."
machte die Frau. "Das ist eine schöne Gegend hier. Flitterwochen?"
Scully
fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und senkte den Kopf, um ihre
plötzlicher Verlegenheit zu verbergen. "Wie man's nimmt."
Mulder
näherte sich mit wachsender Besorgnis, als er sah, dass Scully nicht mehr
alleine dort saß, wie er sie zuvor verlassen hatte. Eine Frau in einem dunklen
Sweatshirt, langem schwarzen Kleid und etlichen Anhängern an einer langen
silbernen Kette saß ihr gegenüber. Die Frau starrte Scully mit einer Intensität
an, dass Mulders Unbehagen zunehmend vergrößerte, als er die letzten paar Schritte
zu ihr ging.
"Lisa?"
fragte er, als er neben ihr Platz nahm. "Alles in Ordnung?"
Sie
nickte und nahm noch einen Schluck von ihrem Drink. "Ja", antwortete
sie und legte versichernd eine Hand auf sein Knie. "Kostenloser
Margarita", grinste sie und reichte ihm das Glas. "Schmeckt gut.
Probier mal."
Die
Frau ihnen gegenüber sah zu, wie er das Glas wieder zurück auf den Tisch
stellte. "Für mich nicht", sagte er.
"Nicht?"
Die Frau sah überrascht aus. "Dann ist wohl mehr für mich übrig."
Sie
griff nach dem anderen Glas und nahm zufrieden einen kräftigen Schluck.
"Und
Sie sind?" Mulder versuchte, seine Gereiztheit aus seiner Stimme
herauszuhalten.
"Lucy
Anne", stellte sich die Frau vor, warf ihre langen dunklen Haare über ihre
Schulter und streckte ihm ihre dünne Hand entgegen. "Lucy für gute Freunde
und neue Bekanntschaften."
Mulder
nahm die angebotene Hand und schüttelte sie, wobei er Scully aus dem
Augenwinkel beobachtete. Sie schien völlig ruhig, zu seiner großen Freude sogar
erleichtert. "Rick", stellte er sich vor.
"Schön
Sie kennenzulernen, Rick." Die Frau lächelte ihn an und Mulder musste
zugeben, dass ihr Lächeln etwas Anziehendes hatte. Sie hatte etwas Warmes und
Freundliches und Ehrliches an sich, das seine strikten Vorbehalte zu
durchbrechen schien. "Ich habe mich gerade mit Ihrer Frau hier
unterhalten."
Mulder
warf wieder einen Blick zu Scully und bemerkte, wie sie rot wurde. Unter dem
Tisch nahm er ihre Hand und drückte sie leicht, aber er sagte nichts.
"Sind
Sie schon lange verheiratet?"
"Nein",
antwortete Mulder, weil die Frau wohl eine Antwort erwartete. "Noch nicht
sehr lange."
"Hab'
ich mir gedacht", sagte die Frau und musterte ihn mit einem wissenden
Blick, als ob sie ahnte, dass er log.
Scully
unterbrach die betretene Stille, die daraufhin folgte. "Lucy? Essen Sie
öfters hier?"
"Ich
würde sagen, zu oft für meinen Geschmack", stöhnte Lucy. "Aber
irgendwann wird das Kochen langweilig. Ich empfehle den Fisch, der ist hier
ziemlich gut."
Scully
lächelte ein wenig und nickte in Lucys Richtung, und Mulder merkte, dass sie
die Gesellschaft genoss. Er nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich um
ihretwillen zu entspannen.
Als
Lucy Scully die Speisekarte vorlas, nahm Mulder die Gelegenheit dazu wahr, sie
sich genauer anzuschauen. Sie war eine zierliche Frau, nicht viel größer als
Scully, soweit er das beurteilen konnte. Sie hatte dunkles Haar, das locker auf
ihre Schultern fiel und blassblaue Augen, die vor Energie und Intelligenz
funkelten. In ihrem Gesicht waren leichte Falten, was ihr Alter auf etwa vierzig
schätzen ließ, aber sie benahm sich fast wie eine Zwanzigjährige. Sie hatte
eine gewisses Feingefühl und Sanftheit an sich, wenn sie mit Scully redete, das
Mulder trotz der ungeschickten Umstände ihres Treffens sympathisch war.
"Bitte
entschuldigen Sie meine Neugierde", sagte Lucy und riss ihn aus seinen
Gedanken. "Ich bin Autorin und wie ich vorhin schon zu Lisa sagte, von
Natur aus neugierig. Man trifft hier nicht viele wie Sie."
"Viele
wie uns?" Scully fasste seine Frage in Worte.
"Ja",
sagte Lucy mit forschendem Unterton. "Sie sind irgendwie anders."
Mulder rutschte unbehaglich auf seinem Platz und sie beeilte sich fortzufahren.
"Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag anders."
Scully
lachte abermals und wieder war Mulder davon beeindruckt, wie glücklich sie
schien. "Gut", sagte sie. "Hatten Sie schon Abendessen,
Lucy?"
"Jetzt,
wo Sie es erwähnen, nein, hatte ich nicht", antwortete Lucy. "Es sei
denn, Sie betrachten Margaritas als Abendessen."
Mulder
ging auf Scullys Hinweis ein, obwohl er nicht genau wusste warum. "Möchten Sie mit uns essen?" fragte
er und hoffte, dass die Frau ablehnen würde.
"Ich
würde mich sehr freuen", sagte sie und er fand sich mit ihrer Gesellschaft
ab.
Das
Essen war gut, aber das war es eigentlich immer. Deswegen ging Lucy sooft es
ging ins Mr. B's. Hier fand sie immer einen guten
Anfang für die langen Nächte mit Margaritas, die stets folgten. Das Pärchen ihr
gegenüber hatte sein Essen mit Heißhunger genossen, so dass sie selbst an
frühere Zeiten erinnert wurde, in denen ihr Leben noch aus Eindrücken,
Sehnsüchten und Verlangen bestand, anstatt aus Bedürfnissen, Verantwortungen
und Schulden.
Die
beiden Menschen vor ihr weckten Leidenschaften in ihr, von denen sie gedacht
hatte, sie nie mehr zu empfinden. Der Mann ging so zärtlich mit der Frau um, er
war so umsichtig mit ihrer Blindheit. Lucy war darauf bedacht, nichts darüber
zu sagen, denn es schien ihr angebracht, dieses Thema nicht anzusprechen,
obwohl es schwer war, die Tatsache einfach zu ignorieren. Die Frau hatte
unglaublich schöne blaue Augen, und es war fast beängstigend, kein Leben darin
zu sehen.
Der
Kellner brachte Kaffee und Lucy nahm einen langen Schluck. Sie sah es schon
kommen, dass sie trotz des Koffeins noch etliche Drinks haben würde, bevor sie
sich auf den Heimweg machte. Aber für einen Moment genoss sie den vollen
Geschmack des Kaffees. Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche und
griff nach den Streichhölzern auf dem Tisch.
"Stört
es Sie, wenn ich rauche?" fragte sie, als sie das Streichholz anzündete.
Sie schüttelten gleichzeitig ihre Köpfe, und sie musste lächeln. Manchmal war ihre Synchronie fast komödiant. Trotz ihrer Versuche hatte sie während des
Essens nicht allzu viel aus den beiden herausbekommen. Um ehrlich zu sein, war
sie es gewesen, die die ganze Zeit erzählt hatte, inspiriert durch den Alkohol
und ihrem angeborenem Redefluss. Sie waren beide recht ausweichend gewesen und
hatten die meisten ihrer Fragen mit Gegenfragen beantwortet. Es wird Zeit,
dachte sie, als sie einen langen Zug an ihrer Zigarette nahm, dass wir Nägel
mit Köpfen machen.
"Sie
sind wohl gerade auf einer langen Reise, oder?" fing sie das Gespräch an.
"Woher
diese Annahme?" fragte Scully.
"Oh,
ich kenne sowas", antwortete Lucy. "Sie stecken so voller Energie.
Man muss so etwas nur spüren können. Im Grunde bin ich recht geübt, was
Weissagung und Prophezeiung angehen."
"Prophezeiung?"
fragte der Mann mit einem skeptischen Ausdruck. Lucy fühlte die Herausforderung
und griff in die Tasche an ihrer Seite. "Tarot", sagte sie
geheimnisvoll und holte den abgegriffenen Stapel Karten hervor. "Möchten Sie eine Lesung?"
"Nein,
danke", entgegnete der Mann, als die Frau anfing zu kichern.
"Warum
denn nicht... Rick?" fragte sie, das Lächeln auf ihrem Gesicht. "Hat
dir die Begegnung mit Mr. Bruckman den Rest
gegeben?"
Der
Mann antwortete nicht, sondern nahm nur einen weiteren Schluck von seinem
Kaffee. Als die Frau keine Antwort von ihm hörte, sprach sie weiter.
"Lucy",
sagte sie. "Ich hätte gerne eine Lesung. Ich glaube, das kann ganz lustig
werden."
Lucy
lächelte die Frau an, obwohl sie wusste, dass sie es nicht sehen konnte. "Worauf Sie sich verlassen können,
Schätzchen", sagte sie und begann, die Karten zu mischen. Dann nahm sie
die Karten und legte sie in die Hände der Frau. "Halten Sie sie für eine
Minute, um ihre Essenz aufzunehmen." Scully nickte und mischte sie
ebenfalls.
Mulder
trank seinen Kaffee, als er beobachtete, wie geschickt Scully die Karten
mischte, ohne sie sehen zu können. Übung, nahm er an und dachte an die langen
Flüge und Überwachungen, die offensichtlich ihre Spuren hinterlassen haben.
Nach
einigen Minuten stoppte Lucy Scullys Hände mit einem sanften Druck an ihren
Handgelenken. "Das wird reichen", sagte sie und nahm die Karten
wieder an sich. Sie drückte ihre Zigarette aus, mischte die Karten noch einmal
durch und teilte den Stapel in zwei Hälften, bevor sie sie wieder in Scullys
Reichweite legte.
"Jetzt",
erklärte Lucy, als sie die Karten mit dem Bild nach unten in einer Reihe auf
den Tisch legte, "suchen Sie sich zehn dieser Karten aus. Tippen Sie
einfach die an, die Sie möchten."
Scully
nickte und fuhr mit den Händen langsam über die Karten. Von Zeit zu Zeit
berührte sie einige davon. Sie biss sich konzentriert auf die Unterlippe und
Mulders Mund verzog sich zu einem Lächeln, weil sie es so ernst nahm. Lucy war
ebenso konzentriert und plötzlich fühlte sich Mulder an Scullys Schwester
Melissa erinnert. Sie hatte an Tarot und Astrologie geglaubt und an all das
andere Harmonie-Zeug, das Mulder für kompletten Unsinn hielt. Ihm war auf
einmal klar, warum Scully diese Lesung haben wollte.
Als
Scully sich zehn Karten ausgesucht hatte, hob Lucy sie auf und legte sie
beiseite, bevor sie den Rest wieder zusammenlegte.
"Da
Sie mich nichts Bestimmtes gefragt haben, werde ich die Methode des Keltischen
Kreuzes anwenden. Ich werde Ihnen eine allgemeine Lesung von Ihrer Zukunft
geben."
Sobald
die Karten zu Lucys Zufriedenheit arrangiert waren, begann Lucy, sie zu
studieren. Um ihren Gedanken auf die Sprünge zu helfen, zündete sie sich eine
weitere Zigarette an.
"Was
macht sie gerade?" flüsterte Scully ungeduldig Mulder zu.
"Sie
liest die Karten", antwortete Mulder ihr und bewunderte die handgemalten
Zeichnungen auf den Karten.
"Shhh..." warnte Lucy und warf Mulder einen strengen
Blick zu, bevor sie sich wieder den Karten zuwandte. "Ich brauche eine
Minute."
Die
Minute ging vorbei, genau wie noch einige weitere, bevor Lucy sprach.
"Wir
haben hier ein paar sehr interessante Dinge."
"Gute
oder schlechte Dinge?" fragte Scully und beugte sich vor, um ihre Antwort
besser zu verstehen. "Sagen Sie es mir. Wann haben Sie Geburtstag?"
fragte Lucy.
Scully
zögerte für eine Sekunde. "Dreiundzwanzigster Februar."
"Ja,
das ergibt einen Sinn." Lucy tippte auf die Karten. "Das hier sind
Sie... Die Königin der Kelche. Eine mysteriöse Frau, die dazu neigt, viele
ihrer Gedanken und Gefühle zu verbergen." Sie hob eine Augenbraue und
blickte zu Mulder. "Stimmt das?"
"Definitiv",
sagte er und Scully boxte ihm in den Arm.
"Gar
nicht wahr", stritt sie mit einem Grinsen ab. "Lesen Sie weiter,
Lucy."
"Das
ist aber nicht alles, was wir von Ihnen wissen. Diese Karte hier, der
Streitwagen, das ist die Stellung der Persönlichkeit. Sie sagt mir, dass Sie
einen starken Sinn für Ziele haben... Sie wissen, was Sie wollen und wie Sie es
erreichen. Sie haben die Geschicklichkeit, den Mut, die Entschlossenheit und
den Willen, die Hindernisse auf Ihrem Weg zu überwinden."
Nichts
wahrer als das, dachte Mulder, legte einen Arm um Scully und küsste sie auf die
Stirn, als sie näher an ihn heranrückte.
Lucy
berührte die nächsten beiden Karten. "Die Kehrseite des Königs der Kelche
steht für die Hindernisse und die nächste Karte, die Kehrseite des Hierophanten
repräsentiert die Einflüsse in der Vergangenheit. Und beide zusammen... hm, der
König steht für einen Mann, vielleicht ein Geschäftspartner, dem man nicht
trauen sollte. Jemand, der seine Privilegien und seine Intelligenz zu seinem
eigenen skrupellosen Vorteil missbraucht." Sie schüttelte den Kopf. "Sie
müssen sich vor ihm in acht nehmen. Konventionelle Mittel werden Ihnen auch
nicht helfen, mit dieser Situation fertig zu werden."
Mulder
blickte zu Scully. Sie nickte und legte ihre Stirn in Falten, als sie Lucy
aufmerksam zuhörte.
"Jetzt...
der Zauberstab..." Lucy blickte zu Scully und Mulder und sah einen Funken
von Verständnis in ihren Augen. "Dinge, die schon eine Weile her sind. Sie
haben viel durchstehen müssen, um an diesen Punkt zu gelangen. Viele Probleme,
viele Hindernisse und sehr große Gefahren. Und Sie werden all Ihren Mut
brauchen, um weiterzumachen. Sie befinden sich momentan in einer sicheren Lage,
aber Sie sollten sich vor weiteren Gefahren in acht nehmen. Seien Sie wachsam,
und lernen Sie aus Ihren Fehlern."
Auf
einmal war sich Scully gar nicht mehr so sicher, dass sie die Lesung weiter
hören wollte. Obwohl sie Tarot nicht sonderlich viel Glauben schenkte, waren
Lucys Aussagen geradezu unheimlich in ihrer Präzision. Vor allem, weil sie und
Mulder während des Essens so wenig über sich verraten haben, oder nicht erwähnt
haben, was sie nach New Orleans geführt hatte.
Scully wollte schnell zum Ende kommen und fragte: "Wie viele Karten
sind noch übrig?"
"Fünf",
sagte Lucy in einem nicht mehr ganz so dunklen Ton. "Diese beiden jetzt...
die sind besser."
Mulder
sprach als nächstes. "Der Ritter der Schwerter, Zwei der Kelche", las
er. "Was bedeuten sie?"
Scully
hörte, wie Lucy kicherte. "Witzig, dass Sie das fragen", sagte sie
langsam. "Der Ritter ist ein Mann in Lisas Leben... das könnten Sie sein,
aber die Stellung der Karte weist auf zukünftige Ereignisse hin, also ist es
nicht sicher. Jemand, der intelligent ist, mutig und fähig, der Probleme
schnell und effektiv löst. Jemand, der ihr enger Verbündeter sein wird auf der
langen Strecke, die vor Ihnen liegt."
"Ich
glaube nicht, dass du das bist, Rick", neckte Scully. Sie war froh, dass
die dunkle Stimmung vorbei war. "Das klingt überhaupt nicht nach
dir."
Sie
hörte ihn lachen, als Lucy fortfuhr. "Auch egal", sagte sie.
"Diese hier steht ohne Zweifel für Sie beide. Zwei Kelche stehen für eine
enge und helfende Partnerschaft, eine Beziehung von zwei Gleichgestellten, die
auf Vertrauen und gegenseitigen Verlass aufgebaut ist."
Scully
lächelte und fand Mulders Hand unter dem Tisch. Sie nahm sie in ihre und genoss
die Wärme seiner Berührung.
"Die
letzten drei", kündigte Lucy an, und ihre Stimme wurde wieder dunkler.
"Die Kehrseite der zehn Schwerter, in einer zukünftigen Stellung. Das
heißt, dass eine schlimme Situation sich noch weiter verschlechtern kann. Der Krisenpunkt wurde noch nicht erreicht,
also müssen Sie auf weitere Schwierigkeiten gefasst sein."
"Was
für Schwierigkeiten?" fragte Scully und fühlte einen Wall von Aufregung.
"Das
verraten mir die Karten nicht. Es ist leider nur eine allgemeine Lesung."
Scully hörte, wie Lucy eine Karte über die Tischoberfläche auf sie zuschob.
"Aber diese Karte—Gerechtigkeit. In freiem Raum steht sie für Ihre
Hoffnungen und Ängste. Das wollen Sie erreichen, oder?"
Nach
einem Moment nickte Scully, aber sagte nichts weiter.
"Sie
versuchen, etwas Falsches wieder zu berichtigen. Keine leichte Aufgabe."
Scully meinte, einen Hauch von Bewunderung in Lucys Stimme zu hören, als sie
fortfuhr. "Es scheint aber, dass Sie ihr Ziel erreichen werden. Die letzte
Karte, die sechs Schwerter. Es heißt, dass sie der Gefahr entkommen. Es wird
einige Zeit in Anspruch nehmen und nicht alle Ihre Probleme werden auf einmal
gelöst, aber die Möglichkeit besteht für bessere Umstände und letztendlich
Erfolg."
Es
folgte eine lange Stille, die Lucy nach einiger Zeit brach. "Haben Sie
irgendwelche Fragen?"
"Nein",
sagte Scully langsam. "Ich glaube nicht."
Sie
hörte, wie Lucy die Karten wieder in einen Stapel zusammenlegte. "Vergessen Sie nur nicht", riet
sie, "die Auslegung kann Ihnen nur allgemeine Hinweise geben. Den Rest
müssen Sie selber interpretieren."
Nach
einem Moment hörte Scully das Kratzen des Stuhls auf dem Holzboden, als Lucy
aufstand. "Gehen Sie jetzt nach Hause. Es ist spät und ich habe Sie lange
genug aufgehalten."
"Wir
brauchen noch die Rechnung", sagte Mulder mit einem Gähnen.
"Vergessen
Sie die", widersprach Lucy. "Südstaatliche Gastfreundlichkeit, wissen
Sie noch?" Sie lachte. "Außerdem bin ich hier Stammkundin, die schon
einiges angeschrieben hat."
"Lucy—"
begann Scully ihren Einwurf, aber Lucy unterbrach sie durch einen festen Griff
an ihrem Handgelenk.
"Ich
bestehe darauf", sagte sie mit fester Stimme, die keine Widerrede duldete.
"Gehen Sie jetzt, und passen Sie auf sich auf." Scully fühlte einen
kurzen warmen Kuss auf ihrer Wange. Dann war Lucy verschwunden.
X-5
X-5
IM BLAUEN
HOTEL (6/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Scully
war während der ganzen Zeit, seit sie das Restaurant verlassen hatten,
ungewöhnlich still gewesen und hatte auf seine Fragen nur mit einem Nicken oder
mit einsilbigen Worten geantwortet. Mulder respektierte ihre Verschlossenheit,
denn er wusste, dass sie über die Lucys Tarot-Lesung nachdachte. Sie dachte
darüber nach, was sie hinter sich hatten und was ihnen noch bevor stand. Er saß
in dem Taxi ruhig neben ihr, hielt ihre Hand und beobachtete, wie die Straßen
an ihnen vorbei sausten.
Sie
waren schon die halbe Strecke gefahren, als Scully sprach. "Rick... wir
haben noch nie darüber gesprochen, was du heute in der Bibliothek gefunden
hast."
"Ach,
im Grunde gar nichts", erwiderte er. "Immer wieder derselbe alte
Kram. Wir können morgen darüber reden."
Sie
zuckte die Schultern und legte ihren Kopf an seine Schulter. "Nichts,
worüber man jetzt sprechen könnte?"
Ihre
Worte waren ruhig und bedacht, aber er spürte eine Ungeduld darin, einen
Versuch, von diesem Thema abzulenken." Er verstand ihre stille Forderung,
holte sein Notizbuch aus der Tasche hervor und begann zu blättern. Flüsternd,
um nicht den Fahrer mithören zu lassen, las er ihr die Liste vor, die er neu
erstellt hatte.
Scully
hörte ihm zu, wie er einen Namen nach dem anderen las. "Doraphen, Doxidan, Doxycycline, Doxylin." Sie
schüttelte nach jedem den Kopf, denn weder die Namen noch die jeweiligen
Abkürzungen erinnerten an das Mittel im Labor.
"Bist
du sicher, dass du das jetzt durchgehen möchtest?" fragte er sorgenvoll.
Er konnte ihr ansehen, wie müde sie war.
"Was
du heute kannst besorgen...." Also fuhr er fort.
"D-penamin,
Dramocan, Dronabinol, Droperidol, Droxomin, D-thyroxamin,..."
"Warte
mal", unterbrach sie leise. "Noch mal zurück. Was waren die letzten
paar?"
Er
wiederholte die Namen, etwas langsamer diesmal. "Dronabinol, Droperidol,..."
"Droperidol",
echote sie. "Droperidol... was ist die Abkürzung?"
Mulder
runzelte die Stirn und sah nach. "Hier steht keine", sagte er.
"Ich habe nur den Typ des Opiums aufgeschrieben."
Scully
nickte gedankenverloren. Als sie wieder sprach, waren ihre Worte bedacht. "Die
Abkürzung *könnte* doch DPD sein, oder?"
"Ist
es das, woran du dich erinnerst?" Er konnte die Aufregung kaum aus seiner
Stimme verbergen.
"Ich
bin mir nicht ganz sicher..." sie beendete den Satz nicht. "Aber...
morgen solltest du dem weiter nachgehen."
Er
nickte und antwortete, "Auf jeden Fall."
Sie
saßen schweigend nebeneinander, als das Taxi sich seinen Weg durch die vollen
Straßen bahnte. Bald erreichten sie die Pension. Mulder half Scully aus dem
Wagen und bezahlte die Fahrt. Er führte sie durch die Türe und die Treppen
hoch, die zu ihrer Wohnung führten. Scully hielt die ganze Zeit an seinem Arm
fest, als sie durch den Korridor gingen, nur als Mulder die Tür zu ihrem
Apartment öffnete, löste sie ihren Griff ein wenig.
Sobald
die Tür offen war, ging Scully voran. Jetzt, da sie sich wieder in den
gewohnten Zimmern befand, war sie sich viel sicherer. Doch bereits auf der
Türschwelle hielt sie inne und rümpfte die Nase, als sie einen tiefen Atemzug
nahm.
"Mulder",
fragte sie, "was ist das für ein Geruch?"
Er
zog die Tür hinter sich zu und schnupperte ebenfalls. Alles, was er riechen
konnte, war der volle Duft der Gardenien, die er zuvor in eine Vase auf den
Küchentisch gestellt hatte. "Die Blumen", sagte er. "Weißt du
nicht mehr?"
Scully
schüttelte den Kopf, als sie weiter den Raum betrat. "Nein... nicht das.
Es riecht irgendwie... würzig. Wie... wie irgendein billiges Aftershave."
Sie
machte ein todernstes Gesicht, und sie schien sich absolut sicher zu sein. Er
roch noch einmal. Immer noch nahm er nur den Geruch der Blumen wahr. "Ich
rieche nichts, Scully", sagte er.
Er
hatte Durst und ging in die Küche, als sie ins Wohnzimmer ging. Auf einmal
ertönte ein lautes Krachen und er hörte Scully leise fluchen. Wie der Blitz war
er im Wohnzimmer und sah sie neben dem Kaffeetischchen knien. Er lief zu ihr und hockte sich neben sie.
"Scully! Alles in Ordnung?" sprudelte er hervor.
"Ja,
alles klar", antwortete sie und ließ sich von Mulder aufhelfen. Ihre
nächsten Worte waren nicht lauter als ein Flüstern. "Mulder... der Tisch
stand noch nicht hier, als wir gegangen sind. Jemand ist hier drin
gewesen." Etwas in ihrer Stimme ließ ihn glauben, was sie behauptete,
obwohl er nicht fand, dass das Zimmer auf irgendeine Weise anders war als
zuvor. "Warte hier", flüsterte Mulder und nahm seine Waffe aus dem
Holster an seiner Hüfte. Sie nickte und er stand auf. Vorsichtig inspizierte er
das Apartment. Er sah in allen Zimmern nach, sogar im Wandschrank und hinter
jeder Türe. Er bemerkte nichts, das ihm anders oder ungewöhnlich erschien. Nichts, das auf die Anwesenheit eines
Eindringlings weisen würde.
Er
ging wieder zu Scully, die immer noch auf dem Boden neben der Couch saß und
legte seinen Arm um ihre Schultern. "Es ist niemand hier", sagte er
versichernd. "Ich habe überall nachgesehen."
Scully
zögerte. "Hast du sie?"
Mulders
Hand fuhr automatisch in seine Hemdtasche, trotzdem er schon alleine durch das
Gewicht der kleinen Diskette wusste, dass sie da war. "Ja", sagte er.
"Ich hatte sie die ganze Zeit bei mir."
"Gut",
seufzte sie und entspannte sich. "Aber es *war* jemand hier." Sie
ließ sich nicht beirren. "Ich weiß es."
Das beunruhigte Mulder. In
den letzten drei Jahren hatte er niemand anderem außer ihr vertraut. Und wenn
sie behauptete, dass jemand in dem Zimmer gewesen war, glaubte er ihr.
"Wir checken gleich morgen früh aus", war alles, was er sagte.
Scully
lag im Bett, als Mulder die Dusche abstellte. Gleich darauf hörte sie, wie er
aus dem Badezimmer kam und die Tür hinter sich zuknallte. Seine Schritte
führten ins Schlafzimmer und sie hörte, wie er in der Schublade nach einem
geeigneten Schlafanzug suchte. Sie hatte immer noch Herzklopfen wegen ihrem
Verdacht, dass sich jemand bei ihnen eingeschlichen hatte. Es hatte sie mehr
aus der Ruhe gebracht, als sie zugeben wollte. Und doch wollte ein Teil von ihr
sich dieser Furcht nicht unterwerfen, jetzt, wo sie so nahe dran waren,
zumindest einen Teil der Antwort zu bekommen auf die Frage, die sie quälte.
"Mulder",
begann sie. "Vielleicht sollten wir morgen früh doch noch nicht
fahren."
Er
wartete eine Sekunde ab, bevor er antwortete. "Scully... wenn jemand hier
drin gewesen ist, wie du behauptest, sollten wir nicht länger hierbleiben als
nötig."
"Aber
du hast nichts bemerkt, als du nachgesehen hast", widersprach sie.
"Und
hast du nicht immer gesagt, dass es besser ist, bei Nacht zu fahren?"
Sie
hörte, wie die Schublade zuknallte. "Ja. Dann sind nicht so viele Leute
draußen und die Chance, erkannt zu werden, ist geringer."
"Also
sollten wir doch besser warten." Scully wählte ihre nächsten Worte mit
Bedacht aus. "Du könntest morgen wieder in die Bibliothek gehen und nach
Informationen über Droperidol suchen. Und vielleicht
noch wegen den anderen Mitteln nachgucken. Und dann können wir morgen Abend
fahren."
Es
war so still, dass sie ihn atmen hören konnte. Er dachte nach. "Ich weiß
nicht, ob es das Risiko wert ist."
"Mulder,
hör zu", argumentierte sie. "*Wenn* jemand hier gewesen ist, hat er
bestimmt schon alles durchsucht und nichts gefunden. Er kommt bestimmt nicht
mehr zurück."
Sie
hörte, wie er näher ans Bett trat und eine plötzliche Aufregung überkam sie,
die nichts mit einem möglichen Eindringling zu tun hatte. Durch seine Nähe
begann ihr Herz wieder wie wild zu schlagen, so dass sie kaum seine Antwort
wahrnahm. "Lass uns darüber schlafen", sagte er. "Morgen sehen
wir weiter."
Scully
schwieg und nickte. Innerlich ärgerte sie sich über ihre alberne Nervosität. Es
war ja nicht so, dass er in den letzten Wochen nicht jede Nacht neben ihr im
Bett verbracht hatte. Aber heute war etwas anders. Etwas, das sie innerlich
vollkommen aufwühlte.
Sie
hörte das Klicken des Schalters, als er das Licht löschte und fühlte dann, wie
er die Decke hochhob, um neben sie zu schlüpfen. Er blieb jedoch am äußersten
Rande des Bettes. Scully lag still, atemlos, und versuchte, sich zu entspannen.
Aber sie konnte es nicht.
Nach
einem Moment fühlte sie, wie er näher rückte. Sie hörte ein leises Rascheln,
als er seien Arm unter ihr Kopfkissen schob und merkte, wie Panik und Aufregung
zugleich in ihr aufstiegen.
"Ist
das... okay?" fragte er und ein Zittern in seiner Simmer verriet, dass er
genauso nervös war wie sie.
"Ja",
sagte sie mit einem leisen Lachen.
"Was
ist denn so lustig?" fragte er und rückte unmerklich noch näher.
"Gar
nichts", erwiderte sie und fühlte seine Wärme. "Es ist nur... ungewohnt, das ist alles."
Er
seufzte und legte seinen Arm um ihre Schulter. Sanft zog er sie näher an sich
heran und ihre Wange strich gegen sein T-Shirt. "Man muss sich erst daran
gewöhnen... oder?"
Sie
antwortete nicht, sondern atmete tief durch und genoss es, wie sein Geruch sie
erfüllte. Leise fügte er hinzu: "Das ist in Ordnung. Wir haben eine Menge
Zeit."
Der
Ton seiner Stimme verriet bereits seine Absicht, noch bevor sie seine Finger an
ihrem Kinn spürte und er ihren Kopf anhob. Sie fühlte, wie sich seine Lippen
über ihren schlossen und erzitterte. Sie merkte, dass ein Teil von ihr bereits
den ganzen Abend auf seine Berührung gewartet hatte, und sie erwiderte seinen
Kuss leidenschaftlich. Sie schmeckte seine Zunge, als er ihren Mund erkundete
und sog vollends das Versprechen in sich auf, das sein Kuss trug—
<
alleswirdgutichbinhierbeidirandeinerseiteegalwaspassiert
>
ein
Versprechen, auf das sie mit einem leisen Stöhnen antwortete und sich näher an
ihn schmiegte.
Viel
zu früh hörte er auf und strich sanft über ihre Stirn, als er sie in seine Arme
schloss. "Gute Nacht, Dana", murmelte er, seine Worte ein flüsterndes
Kitzeln in ihrem Ohr.
"Gute
Nacht", sagte sie. Sie presste ihre Wange an seine Brust und ließ sich von
dem rhythmischen Schlagen seines Herzens in den Schlaf lullen.
Mulder
betrat die Bibliothek und stieg die Treppen von dem kleinen Foyer zu der Lobby
des Gebäudes hoch. Nachdem er den Metalldetektor passiert hatte, bahnte er sich
einen Weg durch die Gruppe Menschen, die wartend an der Ausleihtheke standen,
zu der Reihe der Räume, in denen die Bücher standen, die er brauchte. Mit jedem
Schritt fragte er sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.
Während
des Frühstücks hatten sie alle Möglichkeiten noch einmal durchgesprochen. Er
hatte ein paar Rühreier und eine Kanne Kaffee gemacht, die sie unter sich
aufgeteilt hatten, als sie darüber redeten. Die Nacht war ohne Zwischenfälle
vergangen, was Scullys Behauptung, es sei alles in Ordnung, bekräftigte. Scully
war sich nicht mehr so sicher, was ihre Ahnung am Abend zuvor betraf und sie
meinte nun selbst, sich geirrt zu haben. Er empfand es nicht so nach dem
Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen, als sie am Tag zuvor die Wohnung
betreten hatten. Aber auf der anderen Seite hatte er keinerlei Anzeichen eines
Eindringlings ausmachen können, nichts, was in irgendeiner Weise verdächtig
schien. Die Schlösser an Türen und Fenstern waren in optimaler Verfassung und
wiesen keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf.
Und
irgendwann, zwischen der zweiten und dritten Tasse Kaffee, hatte er nachgegeben
und ihrem Vorschlag zugestimmt, erst am Abend zu fahren. Sie hatten den
Vormittag damit verbracht, ihre wenigen Sachen zu packen und in dem
Straßenatlas, den er kürzlich erst gekauft hatte, nach einem geeigneten Ort und
Weg zu suchen.
"Sollten
wir uns einen anderen Wagen zulegen?" fragte sie und setzte sich aufs
Bett, als er damit beschäftigt war, ein paar Hemden zu falten.
"Nein",
gab er zur Antwort. "Dafür haben wir keine Zeit. Außerdem haben wir im
Moment nicht das Geld dafür. Die Einsamen Schützen würden zu lange brauchen, um
uns etwas zuzuschleusen."
Sie
hatte nur genickt und war in Gedanken versunken. Nach einer Weile musste sie
die Frage stellen, die sie schon seit einiger Zeit beschäftigte, doch sie
konnte nur schwer die passenden Worte dafür finden. "Mulder... woher
nehmen sie das Geld? Unsere Konten sind doch stillgelegt. Ist es... gestohlen?"
Er
wollte es ihr eigentlich nicht sagen und ihrer Frage wie sooft ausweichen, aber
sie hatte auf eine Antwort bestanden, also hatte er mit einem Seufzen
nachgegeben.
"Als...
mein Vater gestorben ist... hat er mir eine gewisse Geldmenge hinterlassen. Ich
habe es auf einem Nummernkonto unter anderem Namen." Er hatte gezögert,
bevor er weitere Worte fand. "Ich habe es gespart... für Samantha.
Byres... kennt den Zugang."
Mit
diesen wenigen Sätzen hatte er sein Geheimnis preisgegeben. Aus irgendeinem
Grund wollte er es ihr nicht sagen, aber jetzt wusste sie Bescheid.
Sie
hatte nicht geantwortet und war dann aufgestanden und im Nebenzimmer
verschwunden. Für eine Sekunde wollte er ihr nachgehen, aber etwas hielt ihn
zurück und so fuhr er fort, ihre Sachen zusammenzulegen.
Als
alles im Schlafzimmer fertig gepackt war, wollte er schon ins Badezimmer, um
dort die Sachen einzusammeln, doch ein Blick auf die Uhr stoppte ihn.
Stattdessen ging er ins Wohnzimmer, wo er sie auf der Couch sitzen sah, die
Beine ausgestreckt auf dem Tisch vor ihr.
"Ich
sollte mich langsam auf den Weg machen", hatte er gesagt, worauf sie
nickte. "Es wird nicht länger als zwei Stunden dauern, denke ich. Wenn ich
wiederkomme, packe ich noch den Rest zusammen, und wir verschwinden von
hier."
"Okay",
hatte sie geantwortet. "Ich warte dann hier."
Er
hatte sie schnell in die Arme genommen, um sie ein wenig aufzumuntern, aber
ohne Erfolg. "Sei vorsichtig", hatte sie gesagt, und er strich ihr
mit der Hand durch das Haar.
"Das
werde ich", hatte er ihr versichert und ging. Kurz bevor er die Türe
hinter sich geschlossen hatte, hatte er leise ihre Stimme gehört.
"Danke,
Mulder."
Er
hatte beim besten Willen nicht gewusst, was er ihr antworten sollte, also hatte
er sich für etwas Einfaches, wenn auch Unangebrachtes entschieden.
"Keine
Ursache."
In
diesen Gedanken verloren lief Mulder glatt an den Regalen vorbei, in denen die
Bücher standen, die er brauchte, also musste er den Weg noch einmal
zurückgehen. Er durchsuchte etliche Regale und wurde schließlich fündig. Er zog
das Buch aus dem Regal und verzog das Gesicht, als er merkte, wie dick und
schwer es war. Mit seinem Fund unter dem Arm ging er zu der Tischgruppe am
anderen Ende des Raumes. Er fand einen leeren Tisch und als er den Stuhl
zurückschob, um sich hinzusetzen, bemerkte er die rothaarige Bibliothekarin,
die wieder an der Ausgabetheke am Eingang saß.
Als sie ihn freundlich anlächelte nickte er ihr kurz zu.
Scully
saß mit gekreuzten Beinen auf dem Dach und ließ den Wind durch ihr Haar wehen.
Sie war müde. Nicht gerade schwach, aber doch irgendwie erschöpft. Wie ein
Stück elastisches Band, das man weiter auseinandergezogen hatte, als es
eigentlich aushielt. Sie atmete lang und tief durch und versuchte, wieder
Klarheit in ihre wirren Gedanken zu bringen.
Ein
Teil von ihr wünschte sich sehnlichst, eine Möglichkeit zu finden, diesen
Wahnsinn zu beenden. Sich zu stellen und einen Weg zu finden, die Verbrechen,
für die sie beschuldigt wurde, zu erklären und nichtig zu machen. Um Mulder von
dem zu befreien, von dem sie fürchtete, dass es seine ewige Verpflichtung für
ihn werden würde. Doch ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass es ihr
ohne handfeste Beweise nie gelingen würde, ihren Namen reinzuwaschen und alle
Beteiligten ihre missliche Lage vergessen zu lassen. Ohne Beweise gab es keine
Gerechtigkeit. Sie würde keine Möglichkeit haben, dem engen Netz derer zu
entfliehen, von denen sie nicht einmal die Namen kannte. Und tief in ihrem
Innern wusste sie, dass selbst wenn sie letztendlich die Wahrheit finden würde,
die sie suchte, es vielleicht nicht genug sein würde. Sie war immerhin schon
einmal sehr nahe dran gewesen, aber nicht nahe genug, um andere davon zu
überzeugen.
Scullys
Gedanken wanderten zurück zu Mulder. Er war ihr Freud, ihr Partner, ihr engster
Verbündeter. Und jetzt vielleicht noch etwas mehr. Sie war sich schon lange der
engen und vertrauensvollen Verbindung bewusst, die sie zwischen sich aufgebaut
hatten. Eine Verbindung, von der sie sich einmal nicht hatte vorstellen können,
dass es sie geben könnte. Während der letzten drei Jahre hatte sie sich auf
seinen Instinkt und seine Klugheit verlassen, auf seine Führung und auf seine
Ratschläge, als sie versuchten, das Unmögliche zu erreichen auf einem Weg zu
einem unbekannten Ziel. Sie vertraute ihm bedingungslos auf einer Ebene, die
nicht mehr mit Worten auszudrücken war.
Aber
nun war alles anders. Ihr beider Leben hatte sich verändert, es würde
vielleicht nie mehr wieder dasselbe sein. Ihr Leben hatte sich durch sie
verändert, durch das, was sie getan und gesagt hatte. Es gab keinen Weg mehr,
etwas daran zu ändern. Und keine Möglichkeit wieder das gut zu machen, wovon
sie meinte, dass sie es ihm schuldig war.
Für
ein paar Sekunden hörte sie laute Musik, als ein Auto unten auf der Straße
vorbeifuhr, und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Das Lied kam ihr bekannt
vor, und ihr Gesicht erhellte sich für einen Augenblick, als sie daran dachte,
wann sie es zum letzten Mal gehört hatte. Es erinnerte sie an zu Hause und sie
verspürte einen plötzlichen, dumpfen Schmerz, als sie sich zurück versetzt
fühlte in das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte.
Von
diesem Leben war ihr nichts mehr geblieben. Nichts und niemand außer Mulder.
Der einzige Mensch, der diese Fremde verstand, die sie empfand, weil er ihre
Einsamkeit mit ihr teilte. Der Schmerz wich langsam von ihr, als sie an ihn
dachte, an die Stärke und den Mut, den er ihr jedes Mal verlieh, wenn er ihre
Hand nahm. Sie beneidete seine Ausdauer und sein Durchhaltevermögen und verfluchte
ihre Hilflosigkeit und diese neue Unsicherheit, die sie zutiefst verachtete. So
sehr wie sie ihn brauchte, so sehr wie sie bei ihm sein wollte, so sehr hatte
sie auch Angst. Angst, dass wenn sie bei ihm blieb, er langsam aber sicher
seine letzte Kraft verbrauchen würde. Angst, dass sie ihm nichts für seine
Hingabe geben könnte.
Die
Stimme des Jungen schreckte Scully auf. "Lisa? Sind Sie da oben?"
"Ja",
rief sie zurück, froh über die Unterbrechung. Sie hörte das Scheppern seiner
Schritte auf der Feuerleiter und dann das leisere Geräusch seiner Schritte, als
er über das Dach näher kam.
"Hallo",
grüßte er. "Ich habe heute einen neuen Korb für mein Fahrrad
bekommen."
"Wirklich?"
Scully lächelte in seine Richtung. "Wie groß ist er?"
Der
Junge ließ sich neben sie fallen und seufzte. "Es geht einiges rein. In
dem Laden war ein noch größerer, aber er hat zwanzig Dollar gekostet, und ich
hatte nur vierzehn."
"Größer
ist nicht unbedingt besser", sagte Scully langsam.
Sie
hörte, wie er grinste, als er antwortet. "Finde ich auch."
Sie
unterhielten sich für eine Weile über einige Sachen und fielen dann in
angenehmes Schweigen, das sie letztendlich mit einer Frage unterbrach. "Charlie, weißt du, wie spät es
ist?"
"Klar",
sagte er und sie hörte das Rascheln seiner Jacke, als er den Ärmel hochschob.
"Ähhmm... es ist fast vier." Er seufzte
abermals, diesmal reuevoll. "Ich glaube, ich sollte langsam gehen. Ich
muss noch die Hausarbeit erledigen."
"Also
dann", sagte sie und hörte, wie er aufstand.
"Wir
sehen uns morgen", sagte er, doch Scully schüttelte den Kopf.
"Nein",
sagte sie. "Ich werde morgen nicht hier sein."
Der
Junge schwieg für einen Moment und seine Enttäuschung war fast offenkundig.
"Hmm", sagte er schließlich. "Ich
hatte mir schon gedacht, dass Sie irgendwann gehen müssen."
"Auf
Wiedersehen, Charlie", sagte Scully und streckte ihre Hand aus. Er nahm
sie und schüttelte sie leicht. Dann beugte er sich herunter und überraschte
sie, indem er seine Arme um ihren Hals legte und sie mit seinem festen
Kindergriff umarmte. Sie roch den schwachen Duft von Erdnussbutter und
lächelte. Seine Umarmung war auf ihre Weise zärtlich und sie umarmte ihn
ebenfalls.
Dann
löste er sich von ihr und sagte leise. "Ich bin froh, dass ich Sie
getroffen habe, Lisa."
"Ich
bin auch froh, dass ich dich getroffen habe", antwortete sie und lauschte
seien leiser werdenden Schritten.
X-6
X-6
Auf
geht's in die zweite Halbzeit! Danke an alle, die es bis jetzt mit mir ertragen
haben... :) Jeder, der mich kennt, weiß,
dass ich ein großer Fan von Filmen bin, und zwei meiner
Lieblingsschauspielerinnen sind Les Dames
Hepburn—Kate und Audrey. Ich habe Kate noch keine Geschichte gewidmet
geschrieben, aber das hier ist meine zweite Hommage an Audrey. Zwar sind die
Worte und die Handlungen ihn dieser Geschichte =ganz und gar= meine Kreation,
aber ich muss Frederick Knott für das Drehbuch und Terence Young für die
Direktion des Films danken, der mich hierzu inspiriert hat. Doch das größte
Dankeschön geht an Audrey selbst, die einzig und alleinige "World Champion
Blind Lady"... :)
IM BLAUEN
HOTEL (7/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Mulder
blätterte die Seite in der Zeitschrift um und überflog rasch die Wörter vor
seinen Augen. Er hatte seine Nachforschung damit begonnen, unter dem Stichwort Droperidol nachzuschlagen, dem Mittel, das Scullys
Interesse am Abend zuvor geweckt hatte. Aber er hatte nichts darüber hinaus
gefunden, was er bereits schon wusste. Es war ein nicht allzu seltenes
Beruhigungsmittel. Er hatte weiter unter anderen Namen auf seiner relativ
kurzen Liste nachgeschlagen, und hatte wieder feststellen müssen, dass nichts,
was er las, sonderlich relevant war.
Er
hatte ein weiteres Buch aus dem Regal geholt, ein dickeres und detaillierteres,
und hatte von vorne angefangen. In diesem Buch hatte er den Verweis auf diese
Zeitschrift gefunden, in der der Artikel stand, den er nun gierig verschlang.
"Das
Opiat Droperidol ist dem Morphin ähnlich, aber es hat
eine weitaus stärkere Wirkung. Während des Vietnamkrieges wurde es dazu
verwendet, Gefangene ruhig zu halten, und wahrscheinlich auch während der
Nazi-Experimente im zweiten Weltkrieg." Mulder übersprang einige Absätze,
bevor er eine weitere Notiz auf seinen Block kritzelte.
"Bei
Verabreichung einer gewissen Menge fällt der Körper in ein komatöses Stadium,
das ohne Probleme durch nachträgliche Injektionen aufrecht erhalten werden
kann. Anders als andere Beruhigungsmittel, die in kleinen Dosen verabreicht
werden, ist Droperidol fast überhaupt nicht im Blut
nachzuweisen, wenn nicht spezielle Tests durchgeführt werden. Der Körper kann
auf unbestimmte Zeit in diesem Zustand gehalten werden, wenn er an
lebenserhaltenden Systeme angeschlossen ist. Die Gefahr hierbei liegt in der
genauen Dosierung, die stark genug ist, um das komatöse Stadium
aufrechtzuerhalten, aber nicht stark genug, um zu töten."
Mulder
ließ den Stift auf den Tisch fallen, unachtsam dessen, dass er auf den Boden
rollte. Übelkeit überkam ihn und er hielt sich den Bauch. Ihn überkam die
schockierende Gewissheit, dass diese Droge ein Bestandteil des Mittels war, das
Scully in dem Labor gesehen hatte.
Ein
Teil des Mittels, das sie ihr gegeben haben, als sie sie entführt hatten.
Ein
Teil des Mittels, das sie fast in den Tod getrieben hatte.
Das
Mittel, das sie ihr nicht mehr gegeben haben, als sie sie in der
Intensivstation des George Washington Krankenhauses gebracht hatten, nachdem
die Tests, oder was immer es auch war, beendet waren.
Wut
begann in ihm aufzusteigen und er erneuerte seinen Schwur, die Wahrheit zu
finden, herauszufinden, wer für all das verantwortlich war, so dass sie
bezahlen mussten.
Mulder
fuhr mit dem Finger die Spalten herunter bis zu der Liste der Verweise am Ende
des Artikels. Er hob den Stift wieder auf und schrieb alle auf. Dann stand er
auf und lief zu der Bibliothekarin an der Ausgabetheke.
"Ich
brauche sofort Kopien von diesen Artikeln", verlangte er und verschwendete
keine Zeit mit Höflichkeiten. Die rothaarige Frau schien ein wenig erschrocken
und er verbesserte seinen Tonfall. "Es ist wichtig... bitte."
"Kein
Problem", antwortete sie und nahm seinen Notizzettel entgegen. "Ich
bin gleich zurück."
Mulder
nickte und sie verschwand im Hinterzimmer. Er stützte seine Ellbogen auf die
Theke und vergrub sein Gesicht in seinen Händen, als er versuchte, die Energie
seiner Wut in etwas Produktives umzulenken. Er wollte sie nicht seine
Selbstkontrolle zerstören lassen.
Als
die Frau mit einem Stapel Blätter zurückkam, hatte er sich wieder gefasst und
dankte ihr mit einem kleinen Lächeln.
Scully
zog die Tür des Treppenhauses hinter sich zu und überzeugte sich von dem
klickenden Einrasten, dass sie auch wirklich geschlossen war, bevor sie
vorsichtig wieder zurück in den Korridor ging. Ihre Finger strichen an der Wand
entlang, um die Wohnungstüren zählen zu können. An der zweiten machte sie halt
und kramte in der Hosentasche nach dem Schlüssel. Sie zog ihn heraus und musste ein wenig
herumprobieren, bis sie das Schlüsselloch fand. Ihre empfindlicher gewordenen
Ohren achteten auf das Geräusch des Riegels, als er sich zurückschob. Mit einem
erleichterten Seufzen öffnete sie die Tür. Wieder zu Hause, in einem Stück!
Als
sie in das Apartment trat, tastete Scully nach der Tür, die sie hinter sich
zudrückte. Sie war nur zwei Schritte gegangen, als sie es roch.
Diesen
würzige Geruch, den sie auch am Abend zuvor gerochen hatte.
Ein
Geruch, der sie an ein billiges Rasierwasser erinnerte.
Scully
war zu Tode erschrocken. Sie fühlte, wie ihr Herz plötzlich anfing, mit
rasender Geschwindigkeit zu hämmern. Sie zitterte.
Jemand
war wieder in ihrer Wohnung gewesen.
Jemand,
der immer noch hier sein könnte.
So
leise wie möglich trat Scully zurück und tastete nach dem Türgriff. Nach
einigen Versuchen fand sie ihn mit zitternden Händen. Sie öffnete die Tür und
trat zurück in den Korridor. Dann schloss sie sie wieder, blieb stehen und
versuchte, ihre Nerven soweit zu beruhigen, um nachzudenken.
Vier
Uhr. Charlie hatte gesagt, dass es fast vier Uhr sei. Mulder war kurz nach drei
gegangen. Das heißt, er würde noch mindestens eine Stunde weg sein. Sie wollte
auf keinen Fall wieder in die Wohnung gehen, aus Angst, dass wer immer auch
diesen Hauch von Cologne hinterlassen hatte, immer noch da sein könnte.
Scully
versuchte, die Welle von Panik, die sie zu übermannen drohte, zu unterdrücken
und ging zu dem nächsten Apartment auf der Etage. Sie klopfte einige Male,
lautes, energisches Hämmern, das Antwort erwartete. Aber sie erhielt keine
Antwort. Langsam ging sie wieder den Gang hinunter und stieg die Treppen
herunter. Unten klopfte sie an die beiden Apartments, doch wieder blieb alles
still. Niemand antwortete auf ihr drängendes Hämmern. Soweit sie wusste, war nichts als Stille
hinter allen Türen.
Telefon!, schoss es ihr durch den Kopf. Finde ein Telefon und ruf
ihn an, rufe nach Hilfe. Sie verfluchte die Tatsache, dass es in ihrer Wohnung
kein Telefon gab. Sie wollten das Risiko des Papierkrams nicht eingehen, der
bei der Installation eines solchen unvermeidlich war. Scully ging zur Vordertür
des Hauses, die auf die Straße führte und hielt an, als sie das Glas der Türe
glatt und kühl an ihren Händen spürte. Sie drückte sie auf, doch zögerte. Im
ersten Moment war sie wie überfallen von dem Lärm auf der Straße. Es schien
ihr, als ob die Straße nur so von Leuten in lebhafte Gespräche versunken
wimmelte und sie konnte nicht weit von ihr den Verkehr hören.
Scully
debattierte einen langen quälenden Moment darüber, geradewegs in die
Menschenmenge zu gehen und versuchen, ein Telefon zu finden. Aber die Geräusche
um sie herum machten sie fast taub, und ohne Mulder an ihrer Seite, waren sie
geradezu angsteinflößend. Was, wenn der Mann mit dem Cologne jetzt draußen
steht und auf sie wartet? Was, wenn er nicht allein war, wenn er in der großen
anonymen Masse noch Komplizen hatte?
Plötzliche
Furcht überkam sie und sie schlug die Glastür vor sich zu. Sie lehnte sich
gegen die Wand und versuchte ihren Atmen wieder zu beruhigen.
Denk
nach, verdammt, denk nach, schrie die Stimme in ihrem Kopf. Einen Moment später
fiel ihr etwas ein, und mit plötzlicher Klarheit, ging sie wieder zurück die
Treppen hinauf, vorsichtig auf jeden ihrer Schritte achtend, um nicht das
Gleichgewicht zu verlieren
Charlie
fuhr mit der Harke durch das Laub und amüsierte sich über das Muster, das er
damit geschaffen hatte. Er wusste, dass er trödelte, aber er genoss die
beruhigenden, langen Züge, mit denen er die Blätter durchkämmte, obwohl sie ihn
eigentlich nur aufhielten. Die Blätter raschelten unter dem Druck des Gerätes,
und er beschloss, später aufzuschreiben, dass der Herbst definitiv seine
Lieblingsjahreszeit war.
Nachdem
er einen zufriedenstellenden Blätterberg an einem Ende zusammengehakt hatte,
begab sich Charlie zu dem anderen Ende und arbeitete sich langsam quer über den
Hof. Er war schon halbfertig mit der zweiten Seite, als er hörte, wie jemand
ihn von dem Dach des Nachbarhauses rief.
"Charlie!
Charlie, bist du da unten?"
"Ja,
hier!" rief er ein wenig überrascht zurück. Sie hatte ihr noch nie
gerufen. Vielleicht musste sie ja gar nicht fort, fiel es ihm ein und ein
Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
"Kannst
du hier heraufkommen?" Es lag etwas Drängendes in ihrer Stimme, das eine
schnelle Antwort verlangte.
"Klar",
rief Charlie zurück, ließ die Harke fallen und lief zu dem Zaun. Er kletterte
mit Hilfe der Vorsprünge in dem Holz hinauf und ließ sich auf der anderen Seite
fallen. Mit dem Hebel an der Wand zog er die Feuerleiter herunter und schwang
sich auf die erste Sprosse. Schnell kletterte er nach oben.
Sie
wartete auf dem Dach auf ihn mit einem Gesichtsausdruck, der überhaupt nicht
der ruhigen Gelassenheit entsprach, die er immer mit ihr assoziierte. "Charlie... ich brauche deine
Hilfe."
"Sicher",
sagte er und fühlte sich geschmeichelt. "Haben Sie wieder ihren Schlüssel
verloren?"
"Nein."
Sie schüttelte energisch den Kopf. "Erinnerst du dich an den Mann, mit dem
ich hierhergekommen bin?"
Er
nickte und merkte dann, dass sie seine Antwort gar nicht sehen konnte.
"Ja,
der Mann mit dem Bart."
"Ja",
sagte sie. "Du musst ihn finden. Du musst ihn herbringen."
Charlie
dachte eine Sekunde lang nach. "Ja, okay. Wo ist er?"
Sie
nahm einen tiefen Atemzug und ihre nächsten Worte waren leiser. "In der
Bibliothek... die Bibliothek der Tulane
Universität." Sie legte die Stirn in Falten und sah besorgt aus.
"Weiß du, wo das ist?"
"Natürlich",
sagte Charlie stolz. "Ich war schon ein paar Mal auf dem Campus."
"Gut."
Sie nickte und er war froh über ihre Erleichterung. "Wie weit ist
es?"
Charlie
überlegte. "Ähhmm... mit der Straßenbahn etwa
eine halbe Stunde. Aber mit dem Fahrrad schaffe ich es vielleicht in einer
Viertelstunde."
Die
Frau nickte abermals und kniete sich neben ihn. Sie tastete nach seinen
Schultern und hielt ihn fest. "Es ist *sehr* wichtig für mich, verstehst
du?"
Ihr
leerer Blick, der auf einen Punkt irgendwo über seiner Schulter gerichtet war,
brachte Charlie ein wenig durcheinander, aber er zwang sich zur Konzentration.
"Ja", war alles, was er sagte.
"Sein
Name ist Rick. Rick Wilder. Du musst ihn finden und du musst ihn hierher
schicken. Schnell."
Charlie
zögerte. Er wollte ihr helfen, aber er musste an seinen Vater denken. Niemand
konnte seinen Vater dazu bringen, etwas zu tun, mit dem er nicht einverstanden
war. "Was ist, wenn er nicht mitkommen will?" Er hielt inne.
"Ich meine, er kennt mich nicht einmal. Was ist, wenn es mir nicht glaubt,
dass es wichtig ist?"
"Es
wird es dir glauben..." sagte sie und er konnte ihr ansehen, dass sie auch
darüber nachdachte. Dann griff sie unter ihr Hemd und holte ein kleines goldenes
Kreuz an einer Kette hervor. Sie tastete nach dem Verschluss und öffnete ihn.
Sie fand Charlies Hand und gab ihm die Kette.
"Gib ihm das, und er wird wissen, dass du die Wahrheit sagst."
"Okay."
Mit einem Male fühlte sich Charlie sehr wichtig. Er hatte noch nie so
empfunden. Er nahm die Kette und steckte sie vorsichtig in seine Hosentasche.
"Ich schaffe es schon, das verspreche ich."
"Gut",
sagte sie. "Ich verlasse mich auf dich." Geschwind umarmte sie ihn,
worauf er vor Freude rot anlief. Sie brauchte ihn, sie hatte ihn ausgewählt,
und er würde sie nicht im Stich lassen.
"Ich
bin bald zurück", sagte er und rannte zu der Feuerleiter. Er nahm immer
zwei Stufen auf einmal, und als er unten angekommen war, machte er sich nicht
die Mühe, die Leiter wieder hochzustecken. Er lief in die Garage, zog sein
Fahrrad heraus und bewunderte seinen neuen Korb, als er aufsprang und sich auf
den Weg zur Universität machte.
Karen
blätterte die Seite in ihrem Buch um und seufzte. Das Kapitel über kognitive
Dissonanz hatte so interessant begonnen, als sie es vor einer Stunde anfing zu
lesen. Doch jetzt war es todlangweilig. Sie blickte wieder auf die Uhr. Es war
nicht einmal viertel nach vier. Noch fast drei Stunden bis zum Ende ihrer
Schicht, bis sie hier raus konnte und sich endlich das Bier gönnen konnte, auf
das sie sich schon seit dem Mittag freute.
Sie
seufzte abermals und zwang ihre Augen dazu, sich wieder dem Text zuzuwenden.
Aber einen Moment später wanderten sie wieder zu dem Mann an dem Tisch in der
hinteren Ecke. Sie hatte sich gefreut, dass er heute wieder gekommen war und
hoffte sogar, dass sie ihn überreden könnte, mit ihr zusammen das Bier trinken
zu gehen. Aber er war viel zu unfreundlich zu ihr gewesen, als er an den
Empfang gekommen war, so dass sie sich nicht getraut hatte, mit ihm zu flirten.
Was auch immer er gerade las, er war so im Banne davon, dass sie ihn die ganze
Zeit offen anstarren konnte, ohne fürchten zu müssen, dass er es bemerkte.
Das
Klingeln des Telefons riss sie aus den Gedanken und sie hob vor lauter
Schrecken erst nach dem zweiten Klingeln ab. "Bibliothek", meldete
sich Karen. Es war ein kurzer Anruf, der lediglich eine kurze Antwort
ihrerseits erwartete, doch er brachte Karen erheblich aus der Fassung. Sie
notierte die Nachricht wie ihr geheißen und legte verärgert den Hörer wieder
auf die Gabel.
Ich
hätte es wissen müssen, dachte Karen, als sie um die Theke ging und auf den
Mann zu, der alle möglichen Artikel vor sich auf dem Tisch herumliegen hatte.
Wieder ein Beispiel des Maxims, das sie inzwischen als Tatsache akzeptiert
hatte: alle interessanten Männer waren entweder verheiratet oder schwul.
"Entschuldigung."
In Achtung der Bibliotheksregeln und um ihn nicht aus seiner Konzentration zu
reißen, sprach sie leise. "Sind Sie Rick Wilder?"
Der
Mann sah auf und sie konnte sehen, dass sich seine Augen mit plötzlicher Unruhe
füllten. Sie bereute sofort ihre seltsame Eifersucht, die sie zuvor überkommen
hatte. Er zögerte einen Moment und antwortete dann. "Ja... warum?"
"Ich
habe eine Nachricht für Sie", teilte sie ihm mit und sah auf den Zettel in
ihrer Hand. "Der Vermieter ihres Hauses... ein Mr. Fontaine? ... hat gerade angerufen. Er sagte, dass es einen
Unfall gegeben hat. Ihre Frau wurde in ein Krankenhaus eingeliefert."
Der
Mann sprang auf und riss dabei den Stuhl um. "In welches Krankenhaus?
Wo?" rief er laut und seine Stimme veranlasste einige der Studenten dazu,
verärgert aufzuschauen. Der Ausdruck in seinen Augen erschreckte Karen. Er war
dunkel und angsterfüllt, doch Karen nahm darunter noch ein erschreckendes Maß
an Schuldgefühlen wahr.
"Das
Baptist Krankenhaus", beeilte sie sich auf sein Drängen hin zu antworten.
Er griff nach ihrem Arm und hielt ihn fest. "St. John's", brachte sie
hervor.
"Wo
ist das? Wie weit?"
Karen
bemühte sich nachzudenken und konsultierte ihren inneren Stadtplan.
"Am
Fluss", antwortete sie. "Mit dem Taxi vielleicht zehn Minuten."
Der
Mann nickte, griff nach seinem Notizblock und steckte ihn in die Hosentasche.
Das Durcheinander der Blätter, die er mit umgerissen hatte, zu seinen Füßen
beachtete er gar nicht. "Was ist passiert? Hat er was gesagt?"
"Nein",
antwortete sie und wünschte sich plötzlich ihm mehr sagen zu können. "Er
hat nur gesagt, dass sie in die Notaufnahme gebracht worden ist."
"Danke",
sagte er, das Wort nicht mehr als ein Ausatmen, als er an ihr vorbei auf die
Tür zu rannte und dabei einen Studenten umriss, dessen Bücher auf den Boden
fielen. Doch der Mann hielt nicht an und war einen Moment später verschwunden.
X-7
X-7
IM BLAUEN
HOTEL (8/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Scully
legte beide Hände an die Wand zu ihrer Rechten und ging langsam die Treppen vom
Dach herunter. Irgendwie kam sie sich lächerlich vor, einem kleinen Jungen so
eine Aufgabe zuzutrauen, aber er schien klug zu sein und ihr Instinkt ließ sie
ihm vertrauen. Außerdem, dachte sie, hatte sie im Moment niemand anders, dem
sie vertrauen könnte. Für einen Moment dachte sie daran, ob es nicht besser
gewesen wäre, wenn sie ihn nicht einfach gebeten hätte, die Polizei zu rufen.
Aber sie hatte Angst, erkannt zu werden und fürchtete die schrecklichen
Konsequenzen, die es mit sich bringen würde.
Sie
kam wieder in den Hausflur und zögerte unsicher. Wenn der Junge Recht gehabt
hatte, würde Mulder nicht vor einer halben Stunde zurückkommen. Scully fühlte sich unwohl in diesem Korridor,
aber sie war sich nicht sicher, ob sie es riskieren konnte, wieder zurück in
das Apartment zu gehen. Wie eine Ente auf dem Präsentierteller, dachte sie und eine
Welle von Furcht überkam sie.
Geh
wieder zurück in die Wohnung, sagte sie zu sich, geh zurück und hole die
Pistole. Letztendlich entschied sie sich dafür. Sie wusste, wo Mulder sie
gelassen hatte - auf dem Küchentisch - und obwohl sie wahrscheinlich nicht den
Mut haben würde zu schießen, könnte sie es wenigstens als eine Bedrohung
benutzen. Sie atmete tief durch und ging weiter den Gang entlang, bis sie ihre
Wohnungstüre fand.
Scully
wiederholte die lästige Prozedur, den Schlüssel ins Loch zu stecken und betrat
das Apartment so leise wie möglich. Der Geruch war noch da, vermischt mit dem
Duft der Blumen, und sie schauderte. Sie blieb stehen und lauschte. Lauschte
auf irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche, auf das Atmen eines Eindringlings.
Einige Momente vergingen und sie hörte immer noch nichts.
Das
Apartment war völlig ruhig.
Vorsichtig
ging sie durch das Wohnzimmer in die Küche und tastete auf dem Tisch nach der
Waffe. Sie fühlte die Stelle, an der Mulder gewöhnlich die Waffe ließ, doch sie
war nicht da. Scully suchte weiter, fühlte jedes Objekt, das sie erreichte,
erfolglos. Ein grausamer Gedanke kam ihr und ihr wurde ganz kalt vor Angst.
Jemand
ist hier gewesen und hat die Waffe genommen.
Jemand,
der noch in der Wohnung sein könnte.
Scully
versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen und lauschte wieder.
Die
Wohnung war völlig still.
Hat
Mulder die Waffe bereits mit eingepackt oder sie mitgenommen? Tausend Fragen
schossen ihr durch den Kopf und sie versuchte sich an ihre letzte Unterhaltung
zu erinnern. Vielleicht hat Mulder sie nach dem Vorfall ja mitgenommen. Sie
hatte ihm gesagt, er solle vorsichtig sein; vielleicht hatte er endlich einmal
auf sie gehört und sie irgendwo versteckt, bevor er durch den Detektor der
Bibliothek gegangen ist.
Scully
beschloss, wieder zurück nach unten zu gehen und im Hausflur hinter der Glastür
zu warten. Wenn sie von vielen Leuten draußen gesehen werden könnte, würde ihr
das einen gewissen Schutz gewähren. Es war unwahrscheinlich, dass sie jemand
angreifen würde, wenn es so viele Zeugen gab. Dann fiel ihr ihre eigene Waffe
ein. Sie hatte aufgehört, sie zu tragen, aber Mulder hatte sie trotzdem als
Sicherheit behalten. Sie war sich absolut sicher, dass er sie am Morgen unter
ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte. Sie war im Schlafzimmer, immer noch
geladen und leicht zu finden.
Mit
einem Hauch von Erleichterung ging sie so schnell sie es wagte ins Schlafzimmer
und fand den Rucksack, den er auf dem Bett hinterlassen hatte. Scully machte den Reißverschluss auf und
verzog bei dem überraschend lauten Geräusch das Gesicht. Sie wühlte durch die
Kleider, die Mulder so sorgfältig zusammengelegt hatte und fand die Pistole wie
erwartet fast ganz oben in der Tasche. Sie nahm sie und fühlte sich durch das
gewohnte Gewicht in ihrer Hand nun etwas sicherer. Mit der Waffe in der Hand
ging sie wieder zurück ins Wohnzimmer.
Sie
war schon halb durch die Tür, als ihr etwas anderes einfiel. Sie öffnete den
Magazinverschluss und ließ das Magazin in ihre Hand gleiten. Sie musste mit
Schrecken feststellen, dass es leer war.
"Suchst
du das hier?"
Die
Stimme hallte durch die Dunkelheit und versetzte Scully einen Schlag in die
Brust. Es folgte ein Geräusch, als ob jemand eine Handvoll Murmeln prasselnd zu
Boden fallen ließ.
"Silvertrip Hollow Zehn-Millimeter-Patronen.
Genau, verlässlich und kontrollierbar, wirkungsvoller und mit besserer
Mannstopp-Wirkung als die Standard-Neun-Millimeter. Gute Wahl."
Scully
blieb wo sie war. Sie war gelähmt vor Schreck. Die Stimme war leise und
bedrohlich, die Stimme eines Mannes, und der unterschwellige Ton darin hatte
sogar noch einen schlimmeren Effekt.
"Ich
nehme an, dass dein Partner dieselbe Waffe hat", fuhr die Stimme
fort. "Aber natürlich hat er nicht
so viel geladen, wie hier." Scully konnte eine der Kugeln auf dem Boden
rollen hören. Ein plötzlicher Knall stoppte dieses Geräusch. Scully schrie auf
und machte einen Satz rückwärts, bevor sie erkannte, dass der Eindringling nur
seinen Fuß auf den Boden geknallt hatte.
"Aber
sogar eine einzige Kugel ist mehr als du gerade in deiner Waffe hast. Warum legst du sie also nicht beiseite und
kommst hier 'rüber. Wir habe eine Menge zu bereden, du und ich."
Scully
blieb stehen. Durch den Adrenalinstoß nahm sie die Stimme des Mannes kaum wahr.
In ihrem Kopf wirbelte es. Sie versuchte, die Entfernung bis zur Tür
abzuschätzen und ihre Chance, es wieder zurück in den Flur zu schaffen.
Doch
dann hörte sie das beunruhigenden Klicken seiner Waffe
und erkannte, dass er sie auf sie gerichtet hatte. "Denk nicht einmal
daran. Mit einer Smith & Wesson kann man einen
Schuss nach dem anderen ohne auch nur eine Sekunde dazwischen abfeuern. Das
heißt, ich schieße dreimal bevor du überhaupt die Tür gefunden hast." Der
Mann verstummte und als er wieder sprach, hatte seine Stimme den Plauderton
verloren. "Ich werde es dir nicht zweimal sagen", befahl er.
"Leg die Knarre hin und komm her."
Scully
zwang sich zur Beherrschung und beugt sich mit zitternden Knien hinunter, um
die Waffe auf den Boden zu legen. Sie richtete sich wieder auf, doch blieb
immer noch stehen.
"Kommst
du jetzt *endlich* hier her?" zischte die Stimme. "Bring mich nicht
dazu, dich zu holen."
Scully
schickte ein Stoßgebet zum Himmel und trat vorsichtig einen Schritt vor.
Mulder
saß am Rande des Sitzes und hielt nervös den Türgriff des Taxis fest. Es kam
ihm vor, als ob sich das Gefährt im Schneckentempo durch eine zähe Masse von
Morast kämpfte. "Wie weit ist es noch?" rief er laut, damit der
Fahrer ihn hinter dem Plexiglas verstehen konnte.
"Wir
wären schon längst da, wenn kein Stau wäre", antwortete der Fahrer.
Mulder
seufzte und versuchte, eine Ruhe vorzutäuschen, die er nicht besaß. Sein Herz
raste und ihm war schlecht, sein ganzer Körper verkrampfte sich vor Sorge. Er
verfluchte seine Dummheit, seinem Instinkt nicht vertraut zu haben und Scully
am Morgen nicht aus der Stadt gebracht zu haben. Es war eine dumme Entscheidung
gewesen, eine, die die Informationen nicht wert war, die er bekommen hatte.
Wenn ihr irgendetwas passieren würde...
Er
versuchte, seine schrecklichen Gedanken zu verdrängen und sich auf die Wagen zu
konzentrieren, die mit einer Geschwindigkeit an ihnen vorbeifuhren, die man
glatt als Zeitlupe beschreiben könnte. Scully... war alles, woran er denken
konnte. Ihre Gedanken waren Eins, jeder ihrer Atemzüge schien einer von seinen
zu sein. Und er wusste, konnte es ganz tief in sich fühlen, dass sie in
Schwierigkeiten war. Dass sie ihn brauchte. Und wieder war er einen Schritt zu
langsam.
Mulder
seufzte zitternd vor Angst und Reue. Obwohl sie das Gegenteil behauptete, gab
er sich die Schuld an ihre Lage. Wenn er nur schneller, schlauer und fähiger
gewesen wäre, wären sie jetzt nicht in dieser Situation. Und jetzt... obwohl er
es kaum für möglich gehalten hätte, schlug sein Herz sogar noch schneller, und
sein heftiges Keuchen hallte in seinen Ohren.
Er
war kein Mann, der leicht Freunde fand. Aber Dana Scully hatte etwas, das ihn
dazu gebracht hat, sich ihr vollends zu öffnen, ihr zu vertrauen wie er außer
Samantha noch nie jemandem in seinem Leben vertraut hatte. Während ihres ersten Falles hatte er ihr
Dinge gesagt, die er noch nie jemandem verraten hatte und sie hatte ihn nie
verraten. Stattdessen hatte sie ihn bei seiner Suche unterstützt und ihr Leben
aufs Spiel gesetzt, um die Antworten zu finden, die er suchte.
Und
sie war dabei fast ums Leben gekommen.
Dieser
Gedanke ließ ihn zusammenzucken und er schloss die Augen in einem kurzen Moment
der Qual. Sie war nun ein Teil von ihm, ein Teil, den er nicht verlieren konnte.
Ein Teil, ohne den er nie sein könnte.
Mulder
öffnete die Augen und hämmerte gegen das Glas, das ihn von dem Fahrer trennte.
"Wie weit noch?" wiederholte er, und seine Stimme verriet seine
Panik.
"Vielleicht
noch eine halbe Meile. Etwas weiter diese Straße herunter." Der Fahrer
blickte in den Rückspiegel und Mulder sah seinen verwirrten Ausdruck.
"Keine Sorge, ich bringe Sie da schon hin."
Das
Taxi zog an einer roten Ampel hinter einen Sedan und
Mulder griff plötzlich nach seiner Brieftasche. Er zog eine Zwanzigdollar-Note
heraus und steckte ihn in das Ausschubfach in der Trennwand. "Danke",
rief er, als er die Türe öffnete. "Ich finde es von hier schon."
Mulder
sprang heraus in den Verkehr und lief über die Straße, als grün wurde. Ein
Wagen hupte, als er auswich, um ihn nicht zu erfassen, doch Mulder sah sich
nicht um und begann zu rennen. Er bahnte sich den Weg durch die Masse der
Fußgänger und ignorierte die ärgerlichen Kommentare. Er hatte nur ein Ziel vor
den Augen.
"Nein",
lachte Karen am Telefon und versuchte, leise zu sein. "Das ist *nicht*,
was ich gesagt habe. Keine Sorge, ich werde da sein. Halt mir nur einen Platz
frei." Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel. Sie fühlte sich ein wenig
schuldig, Privatgespräche in ihrer Schicht zu führen. Nennt mich ruhig
Sündiger, dachte sie, als sie ihr Lesezeichen zur Hand nahm und sich wieder
ihrem Lehrbuch zuwandte.
Ein
paar Sekunden später sah sie auf, und erblickte einen kleinen Jungen, der
zwischen den Tischen und Stühlen hin und her ging und die Studenten
betrachtete. In einer Hand hielt er ein Notizbuch und er schien ein wenig
verloren, als er verwirrt auf jeden der Tische blickte.
"Kann
ich dir helfen?" fragte Karen mit ihrer besten Bibliothekarin-Stimme. Der
Junge drehte sich um und kam auf sie zu. Er hatte Jeans an mit einem Loch am
Knie und eine Windjacke über seinem T-Shirt, auf dem Power Rangers stand, wovon
ihre jüngeren Cousins große Fans waren. Er hatte zerzauste blonde Haare und
keuchte außer Atem.
"Ja,
vielleicht", antwortete der Junge, als er näher kam. Er war kaum groß
genug, um über den Rand sehen zu können. Er stellte sich auf die Zehenspitzen
und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. "Ich suche hier jemanden."
Der
Junge blickte so ernst drein, dass Karen lächeln musste. "Ok, dann sag mir
doch, wen du suchst und ich schaue mal, was ich tun kann."
"Ich
suche einen Mann namens..." Der Junge verstummte und sah auf die
zerknitterte Seite in seinem Notizbuch. "Ein Mann namens Rick Wilder. Ist
er hier?"
Karen
hob vor Überraschung die Augenbrauen, als sie den Namen wieder hörte.
"Er
war hier", sagte sie. "Aber er ist schon weg. Ist er dein
Vater?"
"Nein",
antwortete der Junge mit weiten und ernst dreinblickenden Augen.
"Aber
ich muss ihn finden. Wissen Sie, wo er hingegangen ist?"
Karen
zögerte für einen Moment. Sie war sich nicht sicher, ob sie dem Kind die
Wahrheit sagen sollte. Aber er hatte diesen Gesichtsausdruck, der eine Antwort
verlangte. "Es ist ins Krankenhaus gefahren. St. John Baptist. Seine Frau hatte einen Unfall."
Der
Junge runzelte die Stirn. "Wer hat das gesagt?"
"Warum?"
Karen war jetzt wirklich neugierig.
"Weil
es nicht stimmt, darum", antwortete der Junge. Er drehte sich um, doch
dann fiel ihm sein gutes Benehmen wieder ein. "Danke sehr", sagte er
und rannte mit einer Geschwindigkeit, die Karen überraschte, aus der Bücherei.
Fremde,
dachte Karen. Es war wieder an der Zeit, sich einen neuen Job zu suchen. Sie
nahm ihr Lesezeichen und stürzte sich wieder in die Kognitive Dissonanz. Aber
sie konnte weder den Jungen noch den Mann, den er suchte, vergessen.
Scully
war nur ein paar Schritte in den Raum gegangen, als sie fühlte, wie eine Hand
ihren Oberarm ergriff. Sie zuckte. Sie hörte ein Kratzen auf dem Boden und
wurde dann von der Hand zurück geschubst. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel
auf den Stuhl, der sich plötzlich hinter ihr befand.
"Setzen
Sie sich, Agent Scully, so dass wir uns bekannt machen können." Der Mann
kicherte und ihr lief es kalt über den Rücken. "Vielleicht sollte ich dich
Dana nennen. Du bist ja immerhin keine Agentin mehr, oder?"
Scully
schwieg und widerstand seinem Spotten. Sie wollte sein Spiel nicht spielen. Sie
hörte in der Stille die lauten Schritte des Mannes, als er um ihren Stuhl herum
ging. Er sagte nichts mehr und für einen Moment war alles ruhig.
"Hast
du deine Zunge verschluckt? Du bist blind, nicht stumm. Und du kannst mich
wunderbar hören."
Sie
sagte immer noch nichts und konzentrierte sich auf ruhiges Atmen. Sie
konzentrierte sich auf ihn und versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Er hatte einen leichten Akzent, aber es war
kein südlicher. Es klang eher nach der Ostküste. New York vielleicht oder New
Jersey.
Scully
brach die Stille erst, als sie zu bedrückend wurde. "Wer sind Sie?"
Sie war erleichtert, dass sie drei Worte sprechen konnte, die sich einigermaßen
normal anhörten.
"Tja",
sagte der Mann, "das ist nicht wichtig. Lass es uns mal so sagen: wir
beide haben gemeinsame Bekannte."
"Sie
sind kein Polizist." Obwohl Scully die Antwort kannte, stellte sie die
Frage trotzdem, in der Hoffnung, dass der Mann mehr verraten würde. Etwas, das
sie gegen ihn verwenden könnte.
"Nein",
lachte er wieder. "Ganz bestimmt nicht. Du kannst mich als Beschaffer
bezeichnen, wenn du Spaß daran hast. Ich hole die Dinge zurück, die andere
verloren haben. Deswegen musst du mir helfen. Wirst du mir helfen, Dana?"
Scully
antwortete nicht. Sie dachte angestrengt nach und schätzte die Zeit ab. Es sind
mindestens fünf Minuten vergangen, seit Charlie gegangen war, fünfzehn Minuten
noch, bis Mulder zurückkam.
Es
war fast, als ob der Mann ihre Gedanken lesen könnte. "Wenn du so still
bist, weil du auf deinen Partner wartest, kannst du lange warten."
Scully
stockte der Atem bei dieser getarnten Drohung, aber sie verbarg es und blieb
weiter still.
"Ich
wollte, dass wir ein wenig Zeit miteinander haben, also habe ich Mr. Mulder auf
eine kleine Reise geschickt."
Furcht
überkam sie und dieses Mal konnte sie sich nicht zurückhalten. "Was soll
das heißen? Was haben Sie ihm angetan?" Scullys Stimme verriet ihre Sorge
und sie ärgerte sich deswegen.
"Ich
habe ihm nichts *angetan*... noch nicht." Der Mann lachte und Scully war
plötzlich wütend. Das war auch gut so, denn die Wut ersetzte etwas von dem
Schock und sie versuchte, sich daran festzuhalten. "Ich habe ihn nur auf
einen kleinen Umweg geschickt. Ins Krankenhaus, um genau zu sein. Er denkt, du
hättest einen schlimmen Unfall gehabt."
Scully
dachte einen Moment an Mulder. An die Angst und Sorge, die er durchstehen
musste und sie wünschte sich, bei ihm zu sein zu können und ihm zu versichern,
dass es ihr gut ging. Wieder wallte ihre Wut auf den Unbekannten in ihr auf,
doch sie zwang sich zu konzentrieren.
"Was
wollen Sie?"
"Oh,
Dana, ich bin mir sicher, dass du weißt, was ich will." Scully merkte, wie
der Mann sich neben sie hinhockte und einen Moment später fühlte sie, wie er
mit den Fingern über ihr Wange strich. Sie drehte ihren Kopf weg, und er lachte
hämisch. "Die Diskette, Dana. Deswegen bin ich hier."
Wieder
hoffte sie, dass ihre Stimme fest sein würde. "Ich weiß nicht, wovon Sie
reden."
Scully
hörte den Schlag, bevor sie ihn fühlte, einen pfeifenden Luftzug. Dann schlug
seine Handfläche ihr ins Gesicht. Es tat mehr weh, als sie sich je vorstellen
konnte und sie konnte ein Stöhnen vor Schmerzen nicht unterdrücken, als sie
Blut schmeckte.
"Falsche
Antwort", sagte der Mann, sein Ton so gesprächig wie vorher auch.
"Lass es uns noch einmal versuchen. Ich suche die Diskette, die du aus dem
Labor gestohlen hast. Ich weiß, dass du sie hast, also her damit."
Sie
verhielt sich wieder absolut still und umklammerte die Ränder des Stuhls, auf
dem sie saß. Als sie keine Antwort gab, bekam sie noch einen Schlag ins Gesicht,
diesmal auf die andere Seite.
"Es
ist gar nicht so schwer, Dana", sagte der Mann. "Gib mir, was ich
will, und ich verschwinde."
Ein
Profi, dachte sie und versuchte, den stechenden Schmerz zu ignorieren. Der Typ war ein Profi, nicht einer von diesen
Regierungs-Heinis, die sie und Mulder immer antrafen. Es war viel zu viel
Befriedigung in seiner Stimme, er genoss seinen Job. Ihr wurde ganz kalt. Sie
erkannte, dass das hier ein Gegner war, den sie unmöglich austricksen konnte.
Sie
wusste, dass er eine Antwort erwartete und gab ihm die beste, die ihr einfiel.
"Sie ist nicht hier."
"Nicht?"
fragte er ironisch und fuhr wieder mit der Hand über ihre Wange bis zu ihrem
Kinn. Er hob ihren Kopf. Linke Hand, linke Hand, schrie eine Stimme in ihrem
Kopf. Sie nahm an, dass die Waffe noch in seiner rechten Hand sein müsste und
sie behielt es im Hinterkopf. "Wo ist sie dann?"
"Mulder
hat sie", antwortete sie nicht lauter als ein Flüstern. "Er hat sie
mitgenommen."
"Wirklich?"
Der Mann hielt inne und bedachte ihr Statement. Sie nickte langsam. Er nahm
seine Hand von ihrem Kinn und sie entspannte sich ein wenig.
Ohne
Vorwarnung fühlte sie noch einen Luftzug und einen kalten, stechenden Schlag an
ihrer rechten Schläfe. Wahnsinnige Schmerzen durchschossen ihren Kopf und sie verlor
das Gleichgewicht. Sie merkte wie sie fiel, als ein Sog von Benommenheit sie
ergriff. Dann fühlte sie gar nichts mehr.
X-8
X-8
IM BLAUEN
HOTEL (9/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Mulder
rannte in die Notaufnahme des Krankenhauses. Sein Atem kam in heftigen Stößen
und er verlangsamte seinen Schritt zu etwas, was normalem Gehen einigermaßen
ähnlich war. Weiter vorne sah er den Empfang und er ging zu der grauhaarigen
Schwester, die gerade ein Telefongespräch beendete.
"Ich
muss zu einer Patientin", stieß er hervor, als sie auflegte.
"Name?"
fragte sie unbeeindruckt von seinem panischen Auftritt. So wie sie aussah,
hatte sie diese Frage schon dreißig Jahre lang stellen müssen, und würde ganz
sicher nicht durch sein Drängen beeindruckt.
"Wilder",
sagte er. "Lisa Wilder."
Die
Schwester sah mit einer nervenaufreibenden Langsamkeit in den Unterlagen nach.
Als sie alles durchblättert hatte, sah sie wieder gelangweilt zu ihm auf.
"Niemand
ist hier unter diesem Namen eingeliefert worden, Sir."
Mulder
stockte. Für einen Moment dachte er daran, dass Scully hier unter ihrem eignen
Namen eingeliefert worden ist. Aber sobald ihm dieser Gedanke kam, verwarf er
ihn auch schon wieder. Wenn es nicht so schlimm war, dass sie dem Vermieter
nicht sagen konnte, dass er ihn in der Bibliothek anrufen solle, wäre sie
dieses Risiko nie eingegangen. "Sind Sie sicher?" fragte er,
überzeugt davon, dass sie etwas übersehen hatte. "Ich habe einen Anruf
bekommen."
"Vom
Krankenhaus?" fragte die Schwester geradezu gelangweilt in ihrer Routine.
"Nein.
Von... oh, vergessen Sie's. Könnten Sie bitte noch einmal nachsehen?"
Wieder
schälte sie sich durch die Blätter. "Nein, hier steht niemand mit diesem
Namen."
Er
ließ die Luft aus seinen Lungen. "Okay... ist irgendjemand Unbekanntes
eingeliefert worden? Irgendwelche Jane Does?"
Doch
er hoffte stark, dass die Antwort nein sein würde, dass Scully nicht in einem
so schlimmen Zustand eingeliefert wurde, dass sie unfähig war, sich zu
identifizieren. Mulder wartete, als die Frau schon wieder nachsah.
"Nein,
Sir, es tut mir Leid. Sind Sie sicher, dass sie heute Nachmittag eingeliefert
worden ist?"
"Ja!"
Mulder merkte, dass er fast schrie und zwang sich zur Ruhe. "Ja, ich habe
gerade die Nachricht bekommen."
Die
Schwester blickte ihn besorgt an, was fast herablassend wirkte. "Sind Sie
sicher, dass sie das richtige Krankenhaus haben?"
"Ja,
ich bin mir sicher!" Mulder verlor den Kampf gegen die Selbstbeherrschung
und geriet in Panik. "Ich will mit ihrem Vorgesetzten sprechen. Jetzt
sofort!"
Die
Schwester sah ihn verärgert an und drehte sich dann zu ihrer jüngeren Kollegin,
die hinter ihr am Tisch saß. "Bitte rufen Sie Schwester Bishop."
Die
junge Schwester sprang bei dem todernsten Ton ihrer älteren Kollegin aus ihrem
Sitz und verschwand. "Bitte warten Sie einen Moment, Sir", sagte sie
zu ihm und Mulder nickte.
"Danke",
sagte er, als er von dem Empfang zurücktrat. Seine Gedanken wirbelten
durcheinander, als er nervös hin und her wanderte.
Vincent
starrte die Frau an, die bewusstlos auf dem Boden neben dem Stuhl lag. Sie war
klein, viel kleiner als er sich vorgestellt hatte. Er fragte sich, ob das FBI
wohl eine Mindestgröße für seine Agenten hatte. Sogar mit intaktem Augenlicht
konnte er sich kaum vorstellen, dass sie einmal für die Bundesregierung
gearbeitet hatte. Aber andererseits konnte Vincent es sich kaum vorstellen,
dass eine Frau überhaupt zu einer solchen Arbeit in der Lage war. Er hielt
nicht viel von Organisationen, die einer Frau so viel Verantwortung übergaben.
Er
betrachtete ihre bewusstlose Gestalt mit einem befriedigten Grinsen. Er hatte
es genossen, ihr mit der Pistole eine überzuziehen. Das Gefühl hatte ihn erregt
und er dachte daran, wie befriedigend sein Beruf doch war. Christophes Worte
fielen ihm wieder ein: Freie Wahl oder Bestätigung, da gab es keinen
Unterschied. Es waren magische Worte für Vincent. Bestätigung hieß, dass eine
Leiche gefunden werden musste, dass sie identifiziert werden musste, weswegen
sie mit einer gewissen Erkennbarkeit zu erledigen war. Freie Wahl war eine
völlig andere Sache. Da keine Leiche jemals gefunden werden musste, war es ihm
überlassen, was er mit ihr machte.
Vincent
hockte sich neben sie und wartete darauf, dass sie wieder zu Bewusstsein kam.
Er blickte über ihren kleinen Körper. Sie trug eine graue Strickjacke, ein
weißes T-Shirt und Jeans. Diese Sachen zusammen mit den Tennisschuhen ließen
sie eher wie eine College-Studentin aussehen, als eine FBI-Agentin. Und sie war
hübsch, viel netter anzusehen, als er erwartet hatte. Normalerweise fand er
Frauen, die für die Regierung arbeiteten eher statisch und trocken, geradezu
maskulin in ihrem Auftreten. Aber diese Frau hatte eine zerbrechliche Schönheit
an sich, die das Blut in seinen Unterleib schießen ließ. Ja, er war definitiv
zufrieden mit seinem Auftrag.
Aber
eigentlich war Vincent immer zufrieden mit seiner Arbeit. Es war eine Ehre, von
Christophe ausgewählt worden zu sein und zu seinen Leuten zu zählen. Christophe
nahm immer nur die besten. Männer, die ihren Job eher als eine Kunst
betrachteten als einen Beruf. Vincent wurde schon oft vorgeworfen, in einigen
Fällen zu weit gegangen zu sein und eine Situation so zu behandeln, dass sie
seinen persönlichen Hunger stillte. Aber er hatte es nie so weit getrieben,
dass Christophe wütend wurde. Ganz im Gegenteil. Vincent war einer von
Christophes wertvollsten Angestellten. Er kam nie mit leeren Händen zurück und
er machte keine halben Sachen. Und dieses Mal würde es nicht anders sein.
Nach
einer halben Ewigkeit, so schien es Vincent, regte sich die Frau. Sie tastete
mit den Händen um sich, um sich wieder zu fassen. Sie saß auf, ihre Hände immer
noch flach auf dem Boden, um das Gleichgewicht zu halten. Vincent wartete auf den passenden Moment für
seine nächste Attacke.
Er
streckte seine Hand aus und fasste nach ihren Haaren, die über ihre Schultern
fielen und genoss es, als sie vor Schreck zusammenzuckte. Der Schlag mit der
Pistole hatte ihr eine große Wunde an ihrer rechten Wange zugefügt, die bereits
anfing anzuschwellen. Sein Herz begann schneller zu schlagen.
"Willkommen
zurück", sagte Vincent und spielte mit ihren dunklen Locken. Sie war still, nur ihr heftiges Keuchen
verrieten ihre innere Unruhe. Er war fasziniert davon, wie sie sich unter
Kontrolle hatte. Er hatte die Pistole immer noch in seiner rechten Hand und
spielte mit der Sicherung. Er klickte sie ein und wieder aus und grinste bei
dem Geräusch. "Willst du es jetzt noch mal versuchen und diesmal ein wenig
mehr Sinn ergeben?" Vielleicht können wir dann ja eine zivilisierte
Unterhaltung führen. Wir wissen doch beide, dass Mulder die Diskette nicht hat.
Genauso wenig wie seine Knarre, weil er sie nicht durch den Metalldetektor in
der Bücherei bringen kann."
Die
Frau blieb immer noch absolut still, und ihre Ruhe hatte etwas Frustrierendes
an sich, das Vincent irgendwie erotisch fand. Ihre Augen waren auf einen Punkt
genau hinter ihm gerichtet, und ihr Blick war vollkommen leer. Er konnte nicht
die Angst darin sehen, an der er sich normalerweise so erfreute und es machte
ihn wütend.
"Dana?
Ich werde dir jetzt einmal etwas sagen. Ich habe keine Lust, dieses
Warte-Spielchen mit dir hier zu treiben." Er ruckte harsch an den feinen
Strähnen in seiner Hand und riss so ihren Kopf zur Seite. Ein leises Wimmern
der Hilflosigkeit entkam ihren Lippen und er fühlte sich sehr mächtig. Sie
versuchte, sich mit einer Hand von seinem Griff zu befreien. Er schlug sie mit
seiner Waffe weg. "Nix da", schimpfte er. "Ich rede jetzt und du
hörst gefälligst zu."
Vincent
konnte sich nicht daran erinnern, wann ihn das letzte Mal ein Auftrag so
berührt hatte. Er hatte kaum Kontakt zu Frauen bei seiner Arbeit. Die meisten
auf Christophes Liste waren Männer, die jeder gut für eine Herausforderung
waren. Die paar Frauen, mit denen er es zu tun gehabt hatte, waren alle völlig
anders gewesen. Sie hatten alle bei dem ersten harschen Wort angefangen zu
heulen. Aber diese Frau hier... ihre mutige Sturheit machte ihm Spaß und er
freute sich schon auf den Moment, in dem er sie brechen würde.
"Wir
haben nicht mehr viel Zeit miteinander, also müssen wir voran machen." Die
Strickjacke der Frau war aufgeknöpft und unter dem weißen T-Shirt konnte
Vincent die Umrisse ihrer Unterwäsche sehen. Ein Grinsen breitete sich auf
seinem Gesicht aus, als er den Griff der Pistole nahm und sie an ihr
Schlüsselbein legte. "Es ist ganz deine Entscheidung. Du kannst es einfach
haben, du kannst es aber auch auf die harte Tour haben. Es steht dir völlig
frei." Während er sprach strich er mit der Pistole langsam über ihren
Körper und fuhr an den Linien ihres BHs entlang. Sie sagte immer noch nichts
und er könnte schwören, dass sie aufgehört hatte zu atmen, als er kein Heben
und Senken ihrer Brust wahr nahm. Sein Puls ging schneller und er zwang sich
zur Konzentration.
Vincent
senkte seine Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern und sprach weiter. "Du
bist doch Ärztin, also weißt du ja, dass ein Bauchschuss die schmerzhafteste
aller Verletzungen ist." Er unterstrich seine Worte, indem er mit der Waffe
bis hinunter zu ihrem Bauch fuhr und drückte. "Im Durchschnitt dauert es
eine Dreiviertelstunde oder sogar eine ganze Stunde, bis man verblutet. In
einigen Fällen haben Leute ganze drei Stunden überlebt, aber das kommt wirklich
selten vor. Hab ich Recht, Dana? Hab ich Recht?" Wieder riss er an ihren
Haaren und hörte eine leises Murmeln ihrerseits.
"Ja..."
"Ich
*könnte* dir jetzt einfach in den Bauch schießen und wir könnten hier zusammen
auf Mr. Mulder warten. Ich bin sicher, dass er mir alles geben wird, was ich
will, um dich so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu bringen."
Vincent
setzte sich anders hin und nahm die Waffe von ihrem Körper, aber er hielt immer
noch an ihrem Haar fest. "Aber das würde weder für mich noch für dich
lustig sein. Anders als du vielleicht denkst, finde ich eine solche Sauerei
überhaupt nicht gut."
Die
Frau schloss für einen Moment die Augen und Vincent wusste, dass sie
nachdachte. Er sagte nichts und beobachtete sie nur entzückt und wartete, was
sie als nächstes tun würde. Dann öffnete sie ihre Augen wieder, doch machte
keinen Laut und Vincents Geduld begann zu schwinden.
"Das
Spiel ist vorbei, Dana. Ich habe keine Lust mehr, mich an der Nase herumführen
zu lassen und ich werde dich nicht noch einmal fragen. Wenn du mir also die
Diskette geben willst, sag es jetzt. Wenn nicht, habe ich keine andere Wahl,
als dich zu erschießen."
Wieder
eine lange Pause und Vincent genoss die Intensität des Momentes. Er wartete
gespannt auf den Ausgang ihres stillen Duells, was immer das auch sein würde.
"In
Ordnung", sagte die Frau letztendlich mit einem verschwindend leisen
Flüstern der Zustimmung.
"Was
hast du gesagt?" Vincent brachte seine Lippen an ihr Ohr. "Ich kann
dich nicht hören."
Sie
drehte sich ein wenig, um von ihm weg zu kommen, aber ohne Erfolg. "Ich
gebe Ihnen die Diskette."
"Ah",
machte Vincent und freute sich über seinen Sieg. "Gut. Aber du musst bitte
sagen." Er legte die Waffe wieder an ihren Bauch, um sie noch mehr zu
quälen und wartete auf ihre Antwort. Wenigstens erhielt er ein leises Flehen.
"...
bitte..."
Vincent
wusste, dass er die Grenze erreicht hatte, aber er war ein Jäger, der nie müde
wurde, sein Opfer zu hetzen. "Nein", spottete er, "das ist nicht
ganz richtig. Sag 'Bitte, lassen Sie mich Ihnen die Diskette geben'." Er
konnte ihr deutlich ansehen, was in ihr vorging, trotz ihrer Versuche, es zu
verbergen—Hass vermischte sich mit Schrecken und Angst und mit etwas, das ganz
nach Abscheu aussah. Vincents zufriedenes Grinsen wurde breiter.
Unwillig,
noch einen Moment länger zu warten, ruckte er wieder an ihren Haaren und riss
ihren Kopf nach hinten, so dass ihr Hals frei lag. Er fuhr mit der Pistole über
ihre Haut und hörte, wie sie den Atem anhielt, als ob sie gleich weinen würde.
Sein Herz machte einen Hüpfer.
Sie
ließ ihre Tränen nicht fallen, aber er konnte sie deutlich in ihrer Stimme
ausmachen, als sie mit zusammengebissenen Zähnen die Worte aus sich heraus
zwang. "Bitte... lassen Sie mich... Ihnen... die Diskette geben."
"Also
schön, Dana", lachte Vincent, "dieses Angebot kann ich natürlich
nicht ablehnen." Endlich ließ er ihre Haare los, nur um sie beim Arm zu
packen und sie mit sich hochzuziehen. "Auf geht's."
Charlie
drückte die Tür auf und betrat vorsichtig das Krankenhaus. Die schwirrenden
Aktivitäten um ihn herum überwältigten ihn. Das letzte Mal, an dem er in einem
Krankenhaus gewesen war, war, als er seine kranke Großmutter besucht hatte.
Augenblicklich sah er sie wieder vor seinem inneren Auge, wie sie ausgesehen
hat, so klein und zerbrechlich unter den Laken. Die Erinnerung machte ihm Angst
und er zwang sich zu Gedanken, als er noch klein war und sie ihn immer gehalten
hatte. Sie hatte ihn immer lieb gehabt und ihn immerzu ermutigt, wie niemand
anderes. Dieser Gedanke gab ihm Mut und er ging durch den Korridor auf der
Suche nach dem Mann.
Charlie
hörte ihn bevor er ihn sah. Er war laut und klang sehr ärgerlich. Charlie
folgte einfach dem Geschrei. Der Mann stand neben dem Empfang und stritt sich
mit einer braunhaarigen Schwester, die ihn an seine Mutter erinnerte, weil sie
sich nicht unterkriegen ließ. Der Mann gestikulierte wie wild vor lauter Wut,
aber die Schwester blieb ruhig und antwortete ihm mit gemäßigter Stimme. Es
hatte aber keine Wirkung. Charlie blieb etwas weiter entfernt stehen und sah
aus Angst zu unterbrechen bloß zu.
Dann
wandte sich die Schwester zu einer anderen, etwas älteren Schwester hinter dem
Empfang und sagte etwas zu ihr, was Charlie nicht richtig verstehen konnte. Die
beiden Frauen wechselten einige Worte und drehten sich dann um und gingen den
Korridor hinunter. Eine junge Frau blieb hinter dem Tisch zurück, die den Mann
hilflos anstarrte. Der sah zu, wie sie fortgingen, blickte auf seine Armbanduhr
und haute mit der Faust auf den Tisch. Er trat einen Schritt zurück und lehnte
sich gegen die Wand. Er schloss die Augen und ließ die Luft aus seinen Lungen.
Charlie
atmete ebenfalls tief durch und ging auf ihn zu. Er stand bereits fast neben
ihm, als der Mann seine Augen öffnete und ihn grimmig ansah.
Er
sagte nichts zu ihm, sondern starrte ihn bloß wild an und für einen Moment fand
Charlie keine Worte. Er öffnete seinen Mund einige Male, und beim dritten
Versuch fand er seine Stimme wieder. "Entschuldigung."
"Was?"
Der Mann hatte etwas von seinem Vater, wenn er wieder in miserabler Stimmung
war, aber Charlie dachte an das Versprechen, das er der Frau auf dem Dach
gegeben hatte und zwang sich dazu fortzufahren.
"Ich...
ich bin auf der Suche nach Ihnen." Charlie sah den Mann aus Angst vor
seiner Wut geradeheraus an, aber der Mann bewegte nicht einen Muskel, also
redete er weiter. "Ich habe eine Nachricht für Sie."
"Was
für eine Nachricht? Von wem?" Jetzt schien es Charlie, als ob der Mann
skeptisch wurde.
"Von
Lisa", antwortete er. "Der Lady... auf dem Dach."
Der
Mann kam auf ihn zu und Charlie trat einen Schritt rückwärts. Doch der Mann
kniete sich bloß vor ihn, um auf einer Höhe mit ihm zu sein. "Das
Dach..." murmelte er, als ob er durcheinander wäre.
"Wer bist du? Woher kennst du Lisa?"
"Ich
heiße Charlie", antwortete er, erleichtert, dass der Mann ihm zuhörte.
"Ich
wohne nebenan. Und Lisa... sie hat mich geschickt, um Sie zu finden. Sie hat
mir gesagt, dass Sie ganz schnell nach Hause müssen."
Der
Mann schwieg und musterte Charlie, als ob er Beweise suchte. Charlie fiel ein,
dass er es ja beweisen konnte und er griff in seine Hosentasche, um die Kette
herauszuholen, die Lisa ihm gegeben hatte. "Ich lüge nicht", sagte
er. "Sie hat mir das hier gegeben, und sie hat gesagt, dass ich Sie nach
Hause schicken soll."
Charlie
hielt ihm die Kette hin und der Mann nahm das goldene Kreuz in seine Hand. Er
starrte es an und umschloss es dann fest. Als er Charlie wieder ansah, standen
Tränen in seinen Augen. "Danke", flüsterte er. Charlie hatte kaum Zeit zu nicken, als der
Mann auf die Füße sprang, den Gang hinunter rannte und die Eingangstür hinter
ihm mit einem Knall in die Angel fiel.
X-9
X-9
IM BLAUEN
HOTEL (9/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
"Wo
ist sie?"
"Im
Badezimmer." Scully brachte die Worte trotz ihrer Angst und Wut heraus.
Die Hand des Mannes war wie ein Eisengriff an ihrem Arm, und sie zuckte
zusammen, als er sie mit sich zog.
In
ihrem Kopf drehten sich die Gedanken in einem unzusammenhängenden Karussell,
und sie bemühte sich, einen klaren Kopf zu bewahren und einen Plan zu fassen.
Scully wusste ohne Zweifel, dass der Mann sie umbringen würde. Er würde auch
Mulder umbringen, sobald er bekam, was er suchte. Und sie war sich bewusst,
dass sie fast nichts dagegen tun konnte. Nicht Mulder, nicht Mulder, schrie
eine Stimme in ihrem Kopf. *Sie* hatte all dies verursacht—es war alles ihre
Schuld, nicht Mulders, und Scully schwor, dass sie es nicht zulassen würde,
dass er wegen ihrem Vergehen leiden musste.
Wenn sie sich selbst dafür opfern musste, um ihn zu retten, dann sollte
es sein. Aber sie würde ihn nie für ihre Entscheidung mit dem Leben bezahlen
lassen.
Bekräftigt
durch diesen Entschluss ließ Scully sich mit ins Badezimmer zerren. Er ließ sie
los und sie stolperte und griff nach dem Waschbecken, um nicht zu fallen.
"Okay, Dana, wir sind hier. Wo ist sie?"
Scully
spürte, wie rasend er unter seinen kontrollierten Worten war und antwortete so
schnell sie konnte. "Der Arzneischrank", sagte sie. "Zwischen
dem Spiegel und dem Rahmen."
Scully
lehnte sich gegen das Becken und hörte, wie er den Schrank öffnete. Er streifte
gegen sie, als er versuchte, das Glas vom Rahmen zu lösen und sie rückte zur
Seite, um von ihm weg zu kommen. Ihre Hände stießen gegen etwas Kaltes und
Glattes und als sie es näher betastete erkannte sie, dass es Mulders
Rasierklinge war. Klinge... das Wort hallte in ihrem Kopf, als ihr bewusst
wurde, was dieses kleine Objekt bewirken könnte. Vielleicht könnte sie...
Sie
wusste nicht, ob der Mann sie beobachtete, also konzentrierte sie sich auf die
Geräusche, des Arzneischranks. Sie bewegte sich kaum, als sie mit einer Hand
über den Rand des Beckens glitt und ein Objekt nach dem anderen ertastete.
Zahnbürste, Zahnpasta, Kamm... endlich fand sie, was sie gesucht hatte. Sie
berührte eine Pappschachtel und fummelte nach der Öffnung, in der Hoffnung,
dass der Mann nichts bemerken würde. Sie fand die Öffnung und griff in die
Schachtel. Drei oder vier Rasierklingen waren darin.
Scully
hielt den Atem an und holte vorsichtig eine der Klingeln aus der Schachtel. Sie
hoffte, dass sie sie nicht fallen lassen oder die Schachtel umstoßen würde.
Doch demzufolge, was sie hörte, schien der Mann seine Aufmerksamkeit völlig auf
die Diskette gerichtet zu haben. Doch sie war sich nicht sicher und betete
weiter, dass er ihre langsamen Bewegungen nicht wahrnahm. Sie nahm eine der
Klingen fest zwischen zwei Finger und fasste sie dann in einen sicheren Griff,
so dass sie flach in ihrer Hand lag. Sie umschloss ihre Finger darum und
krempelte mit der anderen Hand ihren Ärmel herunter, als ob sie lediglich den
Stoff ihrer Jacke halten würde und nicht die Klinge darunter.
Eine
Sekunde später hörte sie, wie das Glas aus dem Rahmen gezogen wurde und wie der
Mann zufrieden seufzte. "Also *deswegen* das ganze Theater hier",
sagte er und ihr Herz setzte einen Schlag aus, obwohl sie nie daran gezweifelt
hatte, dass er die Diskette finden würde. "Das sieht mir aber glatt nach
nichts aus."
Scully
hörte ein Rascheln und sie nahm an, dass der Mann die Diskette in seine Tasche
gesteckt hatte. Dann war alles still und Scully zitterte. Ihr wurde klar, dass
er sie anstarrte. Sie umfasste die Klinge enger und versuchte, Trotz in ihre
Stimme zu legen. "Sie haben die Diskette. Jetzt raus hier."
Der
Mann lachte ein eiskaltes Lachen. "Oh, das denke ich nicht. Wir sollten
wirklich warten, bis Mr. Mulder zurückkommt."
Noch
bevor sie irgendetwas sagen konnte, merkte Scully mit Schrecken, dass der Mann
sie wieder beim Arm griff und sie aus dem Badezimmer ins Schlafzimmer schubste.
Sie hatte keine andere Wahl, als es mit sich geschehen zu lassen. Der Mann zog
sie in die Mitte des Schlafzimmers und warf sie dann so brutal hin, dass sie
fiel und ihr Oberschenkel gegen etwas Hartes stieß. Sie erkannte, dass sie
gegen das Bett geknallt war.
"Was
soll das denn jetzt?" fragte sie hasserfüllt.
"Wir
müssen ein wenig Zeit totschlagen", kam die Antwort. Scully hörte ein
lautes Poltern neben dem Bett, als der Mann etwas darauf legte. Etwas Schweres,
wovon sie annahm, dass es die Waffe war. Noch mehr Rascheln folgte und sie
merkte, dass er sich die Jacke auszog. "Und ich habe eine sehr gute Idee,
wie wir das machen können."
Blanker
Horror durchlief Scullys ganzen Körper. Sie sprang auf und versuchte, an ihm
vorbei an die Tür zu kommen. Doch er ergriff sie von hinten und hielt ihren
schwächlichen, stolpernden Fluchtversuch mit seinen groben Händen auf. Obwohl
sie wusste, dass es nutzlos war, kämpfte sie verzweifelt in seinem eisenharten
Griff.
"Lass
mich los!" schrie sie, doch er lachte nur. Er hob sie in einer
schwungvollen Bewegung auf und Scully fühlte keinen Boden mehr unter den Füßen.
Sie zappelte, als er sie in hohem Bogen durch die Luft wirbelte und wieder aufs
Bett warf.
Scully
war während ihrer Zeit beim FBI in sehr vielen gefährlichen Situationen
gewesen, und hatte jede mit einer Kraft gemeistert, die sie selbst manchmal
überraschte. Aber sie hatte noch nie in ihrem Leben eine solche Angst gehabt.
Sie fühlte sich plötzlich erschreckend verletzlich, hilflos und allein. Sie
schrie, als sie gegen ihn ankämpfte, trat und kratzte und versuchte, sich ihn
vom Leibe zu halten und dabei nicht die Klinge aus der Hand zu verlieren.
"Neiiiiinnn!!" Ihre Schreie waren laut und schrill in ihren
eigenen Ohren. Verzweifelt schrie sie so
laut sie konnte und hoffte, dass jemand, irgendjemand, sie hören würde. Scully
fühlte, wie er sie bei den Oberarmen packte und wie er sie hochhob. Ehe sie
wusste, was wie ihr geschah, knallte sie mit dem Kopf und dem Rücken gegen das
Kopfende des Bettes. Der Aufprall raubte ihr den Atem und sie schnappte nach
Luft.
Scully
fiel rückwärts auf das Bett und bemerkte kaum die weichen Decken unter sich.
Sie fühlte sich schwach und war benommen und sie wusste, dass sie kurz davor
war, das Bewusstsein zu verlieren. Ein schweres Gewicht drückte sie auf die
Matratze und sie nahm wahr, dass er jetzt auf ihr lag. Er drückte ihr Mund und
Nase zu und zwang sie zum Keuchen. Seine Stimme war ein einziges heiseres
Flüstern an ihrem Ohr, das sich meilenweit entfernt anhörte, obwohl sie seinen
stinkenden Atem an ihrem Hals fühlen konnte.
"Du
musst eines verstehen", zischte er. "Ich mag kein Gerede dabei."
Die
Worte erreichten ihr Gehirn und Scully versuchte, einen Sinn daraus zu machen.
Aber es fiel ihr ungewohnt schwer herauszufinden, was er meinte. Dann nahm der Mann seine Hand von ihrem
Gesicht und sie zog dankbar in langen Zügen die Luft ein. Er richtete sich auf
ihr auf, so dass er jetzt auf ihren Schenkeln saß und seine Knie sich in ihre
Hüften vergruben. Scully versuchte, sich
unter ihm zu bewegen, doch es hatte keinen Sinn. Durch sein Gewicht wurden ihre Beine ganz
gefühllos. Wieder musste sie seine Hände ertragen, als der Mann an den Knöpfen
ihres Pullovers zog. Er zerrte ihn ihr halb vom Leibe und wandte sich dann
ihrem T-Shirt zu. Scully meinte, ein lautes Ratschen zu vernehmen, dann wurde
ihre nackte Haut von der kalten Luft erfasst.
Der
Mann atmete aus, ein leises pfeifendes Geräusch und Scully fühlte, wie er mit
seinen kalten Fingern an dem Verschluss ihres Büstenhalters spielte. Sie versuchte, ihre Arme zu heben, ihn
wegzustoßen, aber ihre schwachen Versuche wurden augenblicklich nichtig
gemacht. Der Mann nahm ihre beiden Handgelenke in eine Hand und drückte sie über
ihrem Kopf in die Kissen. Sie hatte immer noch die Klinge in der Hand, ihre
Faust fest um ihre scharfen Ränder geballt, doch sie war im Moment nutzlos.
Scully
fühlte, wie ihr die Tränen kamen, aber sie schwor sich, dass sie ihm nicht die
Genugtuung geben würde zu weinen. Ihr Hals brannte von den Schreien, die sie
zurückhielt. Die Furcht vor dem Mann zwang sie, die Worte zu verschlucken, die
in ihrem Kopf hämmerten—
Scully
befand sich wie in einem Alptraum ohne Ausweg. Ihre Welt bestand jetzt nur aus
diesem Mann: sein eisenharter Griff an ihren Handgelenken, seine Berührung wie
Eis an ihrer Haut, sein Körper ein erstickendes Gewicht auf ihr, sein
röchelndes Hecheln laut in der Stille des Zimmers. Es kam ihr wie eine Ewigkeit
vor, als sie so unter ihm lag, bis er endlich seinen Griff löste und mit beiden
Händen ihren Körper hinunter strich. Sie fühlte, wie er an dem Reißverschluss
ihrer Jeans fummelte.
Ein
panischer Adrenalinstoß durchfuhr sie und Scully handelte ohne zu denken,
angetrieben durch puren Horror und dem Instinkt des nackten Überlebens. Als er
mit beiden Händen an ihrer Hüfte beschäftigt war, griff sie mit ihrer Linken
nach oben und fand sein Gesicht. Sie hörte sein überraschtes Grunzen, als ihre
rechte Hand mit der Klinge zwischen ihren Fingern hochschoss und soweit es ging
auf sein Gesicht zielte. Sie fühlte den Widerstand als das Eisen sein Gesicht
traf und zog es mit zusammengebissenen Zähnen durch. Die Klinge rutschte ihr
aus der Hand, als sein Blut über ihre Finger floss.
Der
Mann schrie auf, ein kreischender Schrei voll Schmerz und Wut und Scully
fühlte, wie er sich etwas von ihr hob. Ohne zu Zögern stieß sie ihn von sich,
hob schreiend ihre Knie und trat ihn mit voller Wucht. Mit einem Mal spürte sie
sein Gewicht nicht mehr und sie hörte ein lautes Krachen und Klirren, das sich
sehr nach brechendem Glas anhörte.
Dann
war alles still.
Scully
blieb wo sie war, überrumpelt durch die plötzliche Wendung der Ereignisse und
bemühte sich Luft zu bekommen. Es war das Atmen des Mannes, das sie aus ihrer
Starre herausriss. Sein Atem ging unregelmäßig und nicht sehr laut, und sie
erkannte, dass er zwar bewusstlos, aber immer noch am Leben war. Sie saß auf
und versuchte instinktiv, sich wieder zu bedecken. Ihr T-Shirt war wertlos,
also zog sie den Pullover darüber, ohne sich damit aufzuhalten, es auszuziehen.
Sie schaffte es, ihre Jeans wieder zuzuknöpfen, stand vom Bett auf und trat
zwei vorsichtige Schritte vorwärts.
Rasch
fand sie den bewusstlosen Mann an der Stelle, an der er neben das Bett gefallen
war. Sie tastete um ihn herum und fand Holzsplitter, von denen sie annahm, dass
es die Überreste des Nachttisches waren. Der Mann musste genau gegen den Tisch
gefallen sein, vielleicht sogar mit dem Kopf dagegen geknallt sein. Sie tastete
um den Tisch herum und suchte nach der Waffe, doch sie fand nichts. Sie fühlte,
wie sie zitterte und zwang sich zur Konzentration. Ihre Zeit war knapp. Sie
fasste Mut und suchte seinen ganzen Körper nach der Diskette ab. Doch als sie
wieder nichts fand, begann sie in Panik zu geraten, bis ihr einfiel, dass er
seine Jacke ausgezogen hatte.
Sie
trat über ihn und stolperte zu der Kommode, auf der sie den rauen Stoff seiner
Jacke fand. Sie fuhr mit den Händen darüber und fand die Diskette in einer
Tasche. Sie nahm sie an sich und steckte sie erleichtert in ihre hintere
Hosentasche. Raus hier, raus hier, raus hier, schrie die Stimme in ihrem Kopf
und sie brachte ihre Beine dazu, sich zu bewegen. Doch dann zögerte sie, dachte
daran, seine Waffe zu suchen. Aber sie hatte zu viel Angst davor, was passieren
würde, wenn der Mann sein Bewusstsein wiedererlangte und sie noch im Zimmer
war.
So
schnell sie konnte ging Scully aus dem Schlafzimmer, quer durchs Wohnzimmer bis
zur Wohnungstür. Sie zog sie hinter sich zu und lief den Hausflur entlang zur
Treppe, nur auf ihre Flucht konzentriert. Das Gebäude schien seltsam ruhig, und
obwohl sie an jede Wohnungstür hämmerte, erwartete sie keine Antwort. Sie bekam
auch keine.
Nach
einer halben Ewigkeit erreichte Scully die Glastür. Sie suchte den Griff, fest
entschlossen, auf die Straße zu kommen und dort nach Hilfe zu suchen, doch die
Tür ging nicht auf. Scully tastete weiter und fand ein ungewohntes, großes
Stück Metall. Ein Schloss, kam es ihr in den Sinn und ihr Hals wurde ganz trocken
mit der Erkenntnis, dass der Fremde sie völlig in diesem Haus eingeschlossen
hatte. Es war jetzt nur eine Frage der Zeit, bevor er aufwachte...
Scully
verlor sich schon fast völlig in ihrer Panik, als ihr Charlie einfiel. Das
Dach, die Feuerleiter! Keuchend kletterte sie wieder die Treppen hinauf, ihre
Hände an der Wand, um das Gleichgewicht zu behalten, bis sie schließlich die
Tür erreichte, die aufs Dach führte. Sie riss sie auf und stieg so schnell sie
konnte weiter hoch, bis sie ihr Ziel erreichte und ihr die frische Luft
entgegen blies.
Sie
knallte ungeachtet des Lärms die Türe hinter sich zu. Sie wollte so viele
Hindernisse wie nur irgend möglich zwischen sich und dem Mann bringen. Scully
taumelte über das Dach und suchte in dem ungewohnten Bereich weiter hinten, wo
sie die Geräusche der Feuerleiter immer gehört hatte. Dann fand sie das Metall,
von dem sie nur annehmen konnte, dass es der Anfang der Treppe war. Voller
Schreck aber fest entschlossen fasste sie es und schwang ihre Beine über den
Rand des Daches, unglaublich erleichtert, als sie eine Stufe unter sich spürte
anstatt hohle Luft.
Scully
stieg die Stufen trotz ihrer Unfähigkeit zu sehen, wo sie hintrat, mit
erstaunlicher Schnelligkeit herunter. Sie bewegte sich wie ein Roboter. Sie
hatte größere Angst vor dem Mann als vor einem Sturz von der Leiter. Sie war
nur einige Schritte weit gekommen, als sie hörte, wie die Tür auf dem Dach
aufgestoßen wurde mit einem Knall, der ihr durch Mark und Glieder fuhr.
<neinneinneinbitteGottnichtschonwiedernichtschonwiedernichtschonwiederbittebitte>
Die
Schritte des Mannes waren ohrenbetäubend laut auf dem Teerbelag des Daches und
Scully fühlte, wie die Feuerleiter wackelte, als er sich darauf schwang. Sie
kletterte weiter abwärts und hoffte, dass sie den Boden erreichen würde, bevor
er sie zu fassen bekam, und fliehen konnte. Es kam ihr vor, als hätte die
Leiter gar kein Ende, doch in dem Moment trat sie mit dem linken Fuß auf die
letzte Stufe, danach traf sie nur Luft. Spring, spring,
spring, schoss es ihr durch den Kopf und sie tat genau das.
Scully
traf hart auf den Boden auf und schrie auf, als ein stechender Schmerz ihren
Knöchel durchfuhr. Obwohl sie nicht weit gefallen war, war sie schlecht
gelandet. Sie ignorierte den Schmerz und kam auf die Füße. Sie hatte keine
Ahnung, wohin sie lief, doch alles, woran sie denken konnte war, so weit wie
möglich von den krachenden Geräuschen wegzukommen, die von der Feuertreppe
hinter ihr kamen.
Sie
war nur ein paar Dutzend Schritte weit gekommen, als sie hörte, wie der Mann
näher kam. Sie schrie laut auf vor Angst und Wut und Hilflosigkeit, als er sie
erreichte und zu Boden warf. Ihr Schrei erstickte in ihrem Hals, als er sich
auf sie warf und ihr die Diskette aus der Tasche riss.
"Dämliche
Schlampe", fluchte er. Die Worte schnitten scharf in ihr Bewusstsein.
"Du solltest lernen, dass man nichts anfangen soll, was man nicht zu Ende
bringen kann."
X-10
X-10
IM BLAUEN
HOTEL (11/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Mulder
warf sich zum dritten Mal gegen das bruchsichere Glas der Haustür, als er den
Schrei hörte.
Ihren
Schrei hörte.
Die
Angst, den Schmerz, die Qualen hörte.
Und
hörte, wie der Schrei abrupt abriss.
Ihm
blieb das Herz im Hals stecken, als er an dem älteren Ehepaar vorbeilief und
gerade noch wahrnahm, wie die Frau kreischte: "Stanley, ruf die Polizei!
Stanley..."
Mulder
war augenblicklich um das Gebäude herum gerannt und warf sich gegen den
Holzzaun, der ihm den Weg versperrte. Der spröde Zaun gab leicht seinem Gewicht
nach und Mulder stob über den leeren Hof auf die Hinterseite des Hauses zu.
"Stehenbleiben,
keinen Schritt weiter!"
Mulder
blieb stehen, doch nicht wegen dem Befehl, sondern wegen dem Anblick, der sich
ihm bot. Das erste, was er sah, war Blut und er brauchte einige kostbare
Sekunden, bevor er darüber hinaus sehen konnte.
Da
war ein Mann. Ein Mann, den Mulder noch nie in seinem Leben gesehen hatte, doch
in dem Moment war es ihm egal, wer er war. Seine Augen waren auf Scully
fixiert, die er mit einem Arm fest an sich gepresst hielt, so dass sie fast auf
den Zehenspitzen stand. In der anderen Hand hielt er eine Waffe, von der Mulder
rasch erkannte, dass sie seine eigene war. Der Lauf der Pistole war auf Scullys
Kinn gerichtet und zwang ihren Kopf nach oben in einem grausamen Winkel.
Und
das Blut... überall. Auf ihrem Gesicht, ihren Wangen, auf ihren Händen, die den
Arm umschlossen, der sie festhielt, als ob sie sich stützen müsste. Mulder
brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass das Blut von einer Wunde in seinem
Gesicht kam, ein riesiger Riss, der fortwährend blutete.
Die
Augen des Mannes waren pechschwarz, kalter Stahl. Er war groß und gut gebaut.
Er hielt Scully an sich, als ob sie überhaupt nichts wiegen würde. Er verhielt sich alarmierend ruhig, als ob er
die Situation völlig unter Kontrolle hatte. Seine Hand hielt die Waffe eisern
an Scullys Hals und als er Mulder anstarrte, drückte er sie sogar noch weiter
warnend in ihr Genick.
Mulders
fotografisches Gedächtnis nahm das alles in Sekundenschnelle auf, doch der
Großteil seiner Aufmerksamkeit galt Scully. Ihr Pullover war falsch geknöpft
und ihr T-Shirt hing erschreckend seltsam an ihr. Mulder traf es wie ein
Blitzschlag. Er sah einen riesigen Striemen auf ihrer Wange, einen dunklen
Bluterguss und ihr kreideblasses Gesicht. In ihren Augen stand die nackte
Angst. In all der Zeit, in der sie zusammengearbeitet hatten, hatte er nie
einen solchen Ausdruck an ihr gesehen und er betete zu Gott, dass er ihn nie
wieder sehen müsste.
Mulder
wollte sie beruhigen und hob seine Hände. Er sprach so ruhig wie er nur konnte.
"Immer mit der Ruhe", sagte er und sah mit einer Spur von
Erleichterung, wie Scully beim Klang seiner Stimme den Kopf hob. "Ich bin
unbewaffnet. Tun Sie nichts, was Sie später bereuen könnten."
Der
Mann starrte ihn lediglich weiter an. Die nächsten Worte waren Scullys. Ihre
Stimme war erstickt und heiser, als sie leise seinen Namen flüsterte.
"Mulder...
er hat die Diskette."
Ihre
Worte machten den Mann wütend und er quetschte sie noch enger, so dass sie nach
Luft schnappen musste. "Du hast hier gar nichts zu sagen", zischte er
böswillig.
Mulder
konnte nur hilflos zusehen, wie der Mann seinen Griff an ihr lockerte, aus
Angst etwas zu tun, was sie noch mehr in Gefahr bringen könnte. Er zwang sich
zu ruhigen, festen Worten und fragte, "Sie haben die Diskette. Was wollen
Sie noch?"
Der
Mann verzog den Mund zu einem Grinsen. "Antworten, Mr. Mulder. Was ich
will, sind Antworten."
"Okay",
sagte Mulder und versuchte, die Situation abzuschätzen und einen Ausweg zu
finden. "Wir können über alles reden, was Sie wollen, solange Sie sie
gehen lassen." Er trat einen kleinen Schritt auf ihn zu, doch seine
Bewegung blieb nicht unbemerkt. Der Mann trat seinerseits einen Schritt zurück
und zog Scully mit schleifenden Füßen mit sich.
Der
Mann lachte und Mulder lief es kalt über den Rücken. "So einfach ist das
nicht, FBI-Agent. Ich weiß, wie der Hase läuft."
Mulder
nickte und ballte seine Hände zu Fäusten. Er wusste, dass es verhängnisvoll
sein könnte, jetzt dem Impuls nachzugeben, das Leben aus diesem Mann
herauszuquetschen. "Dann fragen Sie."
"Wem
haben Sie und Dana noch von der Diskette erzählt? Wer weiß noch davon?"
"Niemand",
sagte Mulder fest. "Wir haben niemandem etwas von der Diskette
gesagt." Bei dieser Lüge fühlte er sich einigermaßen sicher, denn er würde
nie im Leben diesem Typen auf die Nase binden, dass die Einsamen Schützen auch
davon wussten, geschweige denn würde er etwas über seinen Kontakt zu ihnen
verraten.
"Warum
sollte ich das glauben?" fragte der Mann und stieß Scully mit der Waffe.
"Weil
Sie alle Karten in der Hand halten, und das wissen Sie", antwortete Mulder
und starrte den Mann an. "Ich hätte nichts davon, wenn ich lügen
würde."
Einige
Sekunden verstrichen, die Mulder wie Stunden vorkamen,
in denen er auf eine Antwort wartete. Dann nickte der Mann langsam und grinste
breiter. "Ich muss zugeben, ich
glaube Ihnen, FBI."
"Dann
lassen Sie sie gehen."
"Nein",
sagte er und schüttelte fast reuevoll den Kopf. "Tut mir leid, das geht
nicht. Dana und ich haben noch etwas zu erledigen, stimmt's Dana?"
Mulders
Augen glitten zu Scully, die stocksteif stehenblieb, wo sie war. Nur ihre Unterlippe zitterte. Er wünschte
sich mehr als zuvor, dass sie ihn sehen könnte, dass er mit Augenkontakt mit
ihr kommunizieren könnte, wie sie es schon so oft getan haben.
"Aber
zuerst...", sprach der Mann weiter. "Es tut
mir leid, aber Ihre Dienste werden hier nicht mehr verlangt, Mr. Mulder."
"Was
wollen Sie machen? Mich hier im Hof erschießen?" Mulder versuchte eine
Zuversicht in seine Stimme zu legen, die er nicht hatte. "Die Nachbarn
haben bereits die Polizei gerufen."
Wieder
lachte der Mann. "Wenn die Bullen hier ankommen, sind Dana und ich schon
längst verschwunden." Er richtete die Waffe an Scullys Ohr. "Außerdem
könnte ich dich jetzt erschießen, auf die Bullen warten und trotzdem hinterher
noch als freier Mann gehen."
Seine
Worte hielten eine dunkle Wahrheit, die in Mulders Ohren widerhallten.
Er hatte keine Ahnung, wer er war oder welche Interessen er genau verfolgte,
aber irgendetwas sagte ihm, dass er nicht bluffte, dass er sich nicht scheuen
würde, genau das zu tun, was er eben gesagt hatte. Mulder fielen hundert Strategien ein, was er
tun könnte, aber er verwarf jede einzelne von ihnen, weil das Risiko für Scully
einfach zu hoch war. Aber er wollte
verdammt sein, wenn er sich so einfach ergeben musste und ihm Scully überlassen
musste.
"Ich
bin sicher, es gibt einen Weg, wie wir das aushandeln können...", sagte
Mulder.
"Mr.
Mulder", der Mann schnitt ihm das Wort ab, "es wurde bereits
ausgehandelt."
In
diesem Moment brach Scully in dem Armen des Mannes mit einem Stöhnen zusammen.
Ihr Kopf fiel auf eine Seite und ihre Knie gaben nach. Mulders Herz machte
einen Sprung und er trat zwei Schritte vorwärts, als der Mann Scully ansah und
die Waffe von ihrem Kopf rutschte, als er seinen Griff erneuern wollte.
Dann
passierte alles wie in Zeitlupe—
Scully
biss in den Arm, der sie festhielt—
Der
Mann schrie auf, als er sie losließ—
Ein
Schuss löste sich in einer ohrenbetäubenden Explosion—
Scully
fiel auf den Boden, machte sich klein und rollte weg von ihm—
Ohne
an die Folgen zu denken, ergriff Mulder die Chance, die Scully ihm gegeben
hatte und schnellte auf den Mann zu. Ungeachtet seiner Waffe krachte Mulder in
ihn hinein.
Sie
fielen beide zu Boden und Mulder verzog das Gesicht. Er hörte ein lautes
Scheppern und sah, dass der Mann seine Waffe fallengelassen hatte. Mulder vergeudete keine Zeit, mit aller Kraft
auf den Mann einzuschlagen. Der Mann
widersetzte sich mit der Intensität eines Tigers, wehrte Mulders Faustschläge
ab und schlug seinerseits auf ihn ein. Aus dem Augenwinkel sah Mulder, wie
Scully auf Händen und Füßen von ihnen weg auf die Hauswand zu kroch.
"Lauf!"
schrie er, erleichtert, dass sie nicht getroffen war. Er wollte, dass sie so
schnell wie möglich floh. "Lauf weg!" Er verlor sie aus den Augen,
als er das erste Mal getroffen wurde und er schmeckte Blut im Mund. Als er das
nächste Mal zu ihr hinsehen konnte, war sie verschwunden und Mulder fühlte wie
ihm ein Stein vom Herzen fiel.
Der
Mann katapultierte sein Knie in Mulders Unterleib und er stöhnte auf. Seine Schläge hämmerten wie die eines
professionellen Boxers auf ihn ein und bald konnte Mulder nur versuchen, ihnen
auszuweichen. Seine brutalen Schläge regneten ungehalten auf ihn ein und
Mulders Kopf begann sich zu drehen. Er schaffte es, einen gezielten Schlag zu
treffen und hörte das brechen von Knochen unter seine Faust, doch es hatte kaum
einen Effekt auf den Mann.
Mulder
fühlte, wie sein Widerstand schwächer wurde, zerstört von der Kraft der
Angriffe. Er konnte die Waffe sehen, doch sie lag zu weit entfernt. Ein
weiterer Schlag traf seinen Kopf und er ächzte, als ein wahnsinniger Schmerz
durch sein Gehirn stach. Der Mann schlug rastlos auf ihn ein und Mulder wurde
schwächer und schwächer. Er wusste, dass er schnell das Bewusstsein verlieren
würde, alles war verschwommen und seine Kraft verließ ihn wie Sand in einer
Sanduhr. Ein einziger Gedanke ergriff ihn, und ließ ihn nicht mehr los—
<DanaDanaDanaDanaDanaDanaDanaDana>
und
er biss die Zähne zusammen aus Angst um sie. Er betete für die Kraft, die er
brauchte, um seinen Gegner zu bezwingen.
Scully
sank mit hämmerndem Herzen an der Wand auf der anderen Seite des Hauses
zusammen. Ihr Hals war wie zugeschnürt von den Tränen, die sie nicht vergießen
wollte, mit den Schreien, die sie nicht schreien wollte. Sie wusste, dass sie
zitterte, ihr Körper geschüttelt von der Erkenntnis der Unschlüssigkeit. Sie
wusste nicht, was sie tun sollte, wie sie Mulder helfen konnte, aber sie
wusste, dass sie ihn nicht alleine lassen konnte. Sie würde ihn nicht allein
lassen, koste es, was es wolle.
Sie
hörte den Lärm des Kampfes, der um die Ecke ausgetragen wurde und hörte Mulders
Ächzen und Stöhnen, das ununterbrochen an ihre Ohren drangen. Scully hatte
keine Ahnung, wer in dem Kampf die Oberhand hatte und die Verzweiflung stieg in
ihr auf. Mulder hatte große Schmerzen, sie konnte es hören, und sie war wütend
auf ihre eigene Unfähigkeit mehr zu tun, als nur zu hören und zu warten.
Dann
zerriss ein Schuss die Luft und raubte ihr den Atem, als sie schrie—
<
neinneinneinneinneinneinneinnein >
Ein
weiterer Schuss folgte gleich darauf. Dann fiel Stille über den Hof.
Scully
erstarrte kreidebleich und lauschte verzweifelt...nach irgendetwas.
<
ohMulderneinneinneinestutmirsoleidestutmirsoleid >
Nach
einigen Sekunden hörte sie Schritte näher kommen, die auf dem Kiesel auf dem
Hof knirschten. Mit zitternden Fingern fand Scully etwas Großes und Schweres
neben sich. Einen großen Stein. Sie umklammerte ihn und hob ihn hoch, obwohl
sie wusste, dass sie gegen eine Waffe nie ankommen könnte. Doch ihre Wut auf
den Mann hatte eine solche Intensität erreicht, dass sie völlig von ihrem Hass
geleitete wurde, sie hielt nur an ihrer Rache fest. Sie wusste, dass sie nur
eine Chance hatte und wartete auf das Unausweichliche.
Mulder
kam um die Ecke und erblickte Scully. Sie atmete genauso schwer und hastig wie
er und ihre Augen waren weit aufgerissen. Er eilte zu ihr, mit einer Welle von
Erleichterung, ihren Namen zu rufen. Nicht sehr laut, aber sehr bedeutungsvoll.
"Dana!"
Sie
hatte einen Stein in der Hand, den sie in Angriffshaltung hielt, und obwohl
sich ihr Arm beim Klang seiner Stimme senkte, sagte sie nichts. Er kniete neben
sie und nahm sie in die Arme. Sie zitterte erbärmlich und er wurde von ihrem
Schütteln mitgerissen. Er hielt sie fester und versuchte, sie zu beruhigen. Er
suchte nach Worten, doch alles, was ihm einfiel, war ihr Name. "Dana...
Dana... Dana..."
Sie
erwiderte seine Umarmung nicht, sie war stocksteif. Mulder sah, dass sie immer
noch den Stein hatte und er nahm ihn ihr sanft aus der Hand. Er legte ihre Hand
an sein Gesicht und strich ihre Finger über seine Gesichtszüge. "Dana... ich bin es. Mulder. Es ist
alles in Ordnung... alles ist okay..."
Scully
entspannte sich etwas, doch sie hörte nicht auf zu zittern. Ihre Hand strich
immer noch über sein Gesicht, als sie murmelte, "Mulder... ich dachte...
ich dachte..."
"Ich
weiß", sagte er und versuchte, sie noch näher an sich heran zu ziehen. In
der Ferne konnte er lauter werdende Sirenen hörten. "Der Mann...
wo..."
"Er
ist tot", sagte Mulder. Sie nickte und legte ihren Kopf an seinen Hals. Er
hielt sie noch einen Moment und löste sich dann widerwillig von ihr. "Wir
müssen weg, Scully", sagte er. "Die Polizei wird gleich hier
sein."
Scully
nickte noch einmal und griff nach seiner Hand. Er nahm sie und zog sie mit sich
hoch. Er richtete die Waffe in seiner Jacke, um besser den Arm um sie legen zu
können und führte sie die Gasse hinunter auf den Ausgang am anderen Ende.
"Mulder?"
Ihre Stimme war leise und schwach. "Die Diskette... hast du die
Diskette?"
Mulder
sah zu ihr hinunter und musste fast lachen, weil ihr ein so vergleichsweise
unwichtiges Detail einfiel, wo sie doch gerade der Hölle entkommen waren. Aber
er war sich der Wichtigkeit des Stücks Metall wohl bewusst, das er in seiner
Begierde, zu ihr zu kommen, völlig vergessen hatte.
"Nein",
sagte er und führte sie zurück zu der Stelle, an der die Leiche lag. Scully
stand neben ihm, als er sich hinhockte und in den Taschen des Mannes nachsah.
Er fand die Diskette und steckte sie in seine eigene Tasche, bevor er sie
wieder beim Arm nahm. "Alles klar", bestätigte er.
Charlie
fuhr um die Ecke. Seine Beine taten ihm schon weh, als er immerzu in die Pedale
trat. Er war müde und außer Atem und wünschte sich, er hätte Geld, um sich
etwas zu trinken zu holen. Überrascht wegen dem Lärm hinter dem Haus
verlangsamte er seine Geschwindigkeit, als er sich seiner Straße näherte. Da
standen drei Polizeiwagen quer auf der Straße und eine große Anzahl von
Polizisten schwirrte um das Haus herum. Als er auf den Parkplatz fuhr, weiteten
sich Charlies Augen, als er sah, dass einige der Polizisten ihre Waffen gezogen
hatten.
Charlie
drückte den Ständer seines Fahrrads herunter, ließ es vor dem Haus stehen und
näherte sich soweit wie er es wagte dem Geschehen. Ein Krankenwagen stand
inmitten der Polizeiwagen, aber die Lichter waren aus und die Sirene heulte
nicht. Er sah zu, wie zwei Männer eine Trage hinter dem Haus trugen. Es war
etwas auf der Trage, aber das weiße Laken darüber deckte es völlig zu. Charlie
wusste vom Fernsehen, dass es bedeutete, dass dort eine Leiche lag. Er
erschauerte, aber er sah nicht weg. Ein Teil von ihm wünschte sich, dass das
Laken hinunterfallen würde, damit er sehen konnte, wer darunter lag, aber im
Grunde wollte er es aus Angst davor, wer es sein könnte, gar nicht wissen.
"Charles!"
Das Rufen seines Vaters veranlasste ihn, sich erschrocken von der Szene
abzuwenden. "Was machst du da draußen?" Sein Vater stand mit
wutentbranntem Gesicht auf der Schwelle seines Hauses.
"Nichts,
Papa. Ich sehe nur zu."
"Dann
komm rein, jetzt gleich. Ich werde es dir nicht zweimal sagen." Sein Vater
winkte ihn zu sich. Charlie wusste, dass er besser nicht widersprechen sollte.
Er sah ein paar Mal zurück zu der Pension, aber er konnte keine weiteren Tragen
mehr sehen. Die Türen des Krankenwagens wurden geschlossen und das Fahrzeug
schwenkte aus dem Parkplatz.
Charlie
beeilte sich nun, sein Fahrrad zu schnappen und es hinter dem Haus in die
Garage zu stellen. Achtsam schloss er die Tür und ließ das Schloss zuschnappen.
Obwohl er wusste, dass sein Vater auf ihn wartete, nahm er sich noch die Zeit,
hoch zu dem Dach gegenüber zu blicken, auf dem er sie das erste Mal vor ein
paar Tagen gesehen hatte. Der Himmel darüber verdunkelte sich bereits und er
konnte den ersten Stern des Abends schwach in dem blasser werdenden Blau sehen.
Irgendwie beruhigte ihn der Stern und er musste lächeln. "Auf Wiedersehen,
Lisa", flüsterte Charlie, bevor er sich umdrehte und die Treppen zu seiner
Küchentüre aufstieg.
Das
laute Klingeln des Telefons hallte in dem Büro, und obwohl der Mann den Anruf
bereits erwartet hatte, ließ er fast seine Zigarette fallen. "Ja?"
sagte er mit wachsender Vorfreude.
Christophes
Stimme war kalt und gelassen. "Ich habe schlechte Nachrichten."
"Schlechte
Nachrichten?" Seine Vorfreude verschwand augenblicklich, als er die Zigarette
ausdrückte und sich eine neue anzündete. "Was für schlechte Nachrichten?
Ich hatte den Eindruck, dass Sie die Lage im Griff hätten."
Einen
Moment herrschte Stille, bevor Christophe antwortete. "Den Eindruck hatte
ich auch. Die Details sind bis jetzt noch nicht völlig klar, aber wie haben
noch nicht das Objekt bekommen, das Sie suchen."
Der
Mann nahm einen langen Zug, um seinen Ärger zu zügeln. "Und der andere
Teil des Auftrags? Ist das wenigstens erledigt?"
"Nein."
Das Wort echote durch die Leitung. Der Mann sagte nichts und wägte seine
Möglichkeiten gegeneinander ab. Er wusste, dass das Scheitern dieser Mission
schwerwiegende Konsequenzen haben würde.
Christophe
schien das Verhängnis der Situation ebenfalls zu erkennen und sagte schnell:
"Ich kann Ihnen versichern, dass so etwas nicht noch einmal passieren
wird. Ich werde mich sofort persönlich mit dem Problem befassen."
"So,
werden Sie?" Ein Hauch von ironischem Grinsen umspielte die Lippen des
Mannes, als er die Luft einzog. "Und wer sagt mir, dass Sie dieses Mal
erfolgreich sein werden?"
"Es
ist jetzt auch für mich persönlich wichtig." Christophe hielt inne. "Einer meiner wertvollsten Männer ist
tot. Und sein Tod wird gerächt werden."
"Ich
verstehe", sagte der Mann, dieser Idee nicht ganz abgeneigt. "Dann
haben Sie meine Erlaubnis, es noch einmal zu versuchen."
"Danke",
antwortete Christophe und dem Mann war klar, dass er die Oberhand hatte.
Zumindest für einen Moment.
"Allerdings",
warf der Mann ein, "wenn Sie dieses Mal versagen, werde ich nicht für den
Fortgang der Situation verantwortlich sein."
"Verstanden",
gab Christophe zurück, dann war die Leitung tot.
Der
Mann hielt den Hörer noch für ein paar Sekunden und dachte über die neue
Wendung in dem immer komplizierter werdenden Spiel. Dann legte er den Hörer
wieder auf die Gabel, nahm die zerknitterte Zigarettenschachtel vom Tisch und
verließ das Büro.
Scully
saß neben Mulder auf dem Rücksitz des Taxis. Trotz Mulders warmen Körper und
seinen Armen um sie herum, war ihr kalt. Sie wusste, dass sie immer noch
zitterte, und biss die Zähne zusammen, als ob schierer Wille das Zittern
stoppen könnte. Erfolglos. Sie versuchte, an Mulder zu denken, an seine Nähe
und das gleichmäßige Heben und senken seiner Brust neben ihr, aber sie konnte
ihre Gedanken nicht von dem Mann losreißen. Sie konnte sein Blut auf ihrem
Gesicht riechen und das schreckliche Gewicht auf ihr fühlen. Die Erinnerungen waren immer noch frisch.
Wieder zitterte sie und Mulder küsste sie sanft auf den Kopf. "Wir sind
gleich da", sagte er ruhig. Sie nickte und gab eine Ruhe vor, die sie
nicht besaß.
Er
hatte Recht, was die Entfernung betraf, denn ein paar Minuten später hielt das
Taxi an. Scully fühlte, wie Mulder von ihr wegrutschte und hörte das Geräusch
der Tür, als er sie öffnete. Sie blieb sitzen, bis sie seine Hand auf ihrer
fühlte, die sie sanft über den Sitz zog. Sie trat aus dem Wagen und fühlte
Mulders Hand auf ihrem Kopf, als er sie unter dem Türrahmen hindurch führte.
Sie stellte sich neben ihm und lauschte den hektischen Geräuschen der
Menschenmenge um sich herum.
"Wie
viel?" hörte sie Mulder fragen.
"Elf-fünfundsiebzig",
antwortete der Taxifahrer.
Scully
hörte, wie Mulder in seiner Brieftasche kramte und wartete geduldig, bis er dem
Fahrer das Geld gegeben hatte. "Okay", sagte er. "Hier haben Sie
dreißig. Sie können den Rest behalten, aber Sie haben uns nie mitgenommen,
verstanden?"
"Laut
und deutlich", antwortete der Fahrer und Scully konnte ihm anhören, dass
sie nicht die ersten waren, die ihn auf diese Weise bestachen.
Das
Quietschen der Reifen war laut in Scullys Ohren, als das Taxi davonfuhr. Mulder
nahm sie wieder beim Arm. Sie folgte ihm, als sie einige Treppen hinaufstiegen.
"Alles in Ordnung?" fragte er sorgenvoll, als er sie durch die Türe
führte.
"Ja,
es geht mir gut", gab sie zur Antwort, doch er merkte, dass es nicht ganz
stimmte. "Sind wir da? Ist das hier der Bahnhof?
"Ja",
sagte Mulder. "Wir verschwinden von hier. Aber erst sollten wir uns ein
wenig frisch machen."
Scully
nickte wortlos. Sie ging mit ungewohnt vorsichtigen Schritten neben ihm her,
weil ihre Beine noch nicht aufgehört hatten zu zittern. Nach ein paar Sekunden
hielten sie an. "Wir sind jetzt bei den Waschräumen. Warte hier eine
Sekunde." Er ließ ihre Hand los und sie hörte, wie eine Tür geöffnet
wurde. Dann kam Mulder zurück und sagte, "Okay, es ist leer. Das
Waschbecken ist an der hinteren Wand und die Toilette in der rechten Ecke. Schließ hinter dir ab und mach niemandem auf
außer mir."
"Okay",
sagte Scully und ging an ihm vorbei ins den Toilettenraum. Sie zog die Tür
hinter sich zu und tastete nach dem Schloss. Sie fand es, drehte es einmal nach
links und zog daran, um zu prüfen, ob es wirklich zu war. Sie hörte, wie sich
Mulder entfernte und wieder überkam sie die gewisse Angst, die sie immer
befiel, wenn er weg war. Sie schüttelte sie ab und machte sich mit
quietschenden Sneakers auf den Weg zum Waschbecken.
Dort
angekommen stützte sie sich darauf und seufzte. Sie war müde, so müde, wie sie
seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen war. Als sie vor Charles' Geburt noch
die Jüngste gewesen war, hatte sie sich völlig verausgabt, um mit ihren älteren
Geschwistern in den Spielen mitzuhalten, deren Regeln sie nicht verstand und
die Geschicklichkeiten erforderten, die sie nicht besaß. Jetzt fühlte sie sich genauso erschlagen,
genauso unfähig, weiter zu kämpfen und sie empfand genau dieselbe Erschöpfung.
Vage konnte sie sich an einstige Worte erinnern—
<
MomdieKleinebrauchtnePauseschicksieweg >
Melissas
Worte, geprägt von kindischem Spott. Der Gedanke an ihre Schwester versetzte
Scully einen Schlag in den Magen und sie fühlte, wie ihr die Tränen in die
Augen stiegen. Nicht jetzt, nicht jetzt, betete sie und fasste den Rand des
Beckens fester, um die Kontrolle zu bewahren.
Als
sie sich wieder bewegen konnte, ohne völlig zusammenzubrechen, fand Scully den
Wasserhahn und ließ das Wasser in das Becken laufen.
X-11
X-11
IM BLAUEN
HOTEL (12/12)
von
Nicole Perry nvrgrim@aol.com
Mulder
bespritzte zum sechsten und was er hoffte letzten Mal sein Gesicht mit Wasser.
Er warf einen Blick in den Spiegel und fand, dass er so einigermaßen akzeptabel
aussah und drehte das Wasser ab. Er trocknete sein Gesicht mit
Papierhandtüchern ab, die wie Sandpapier auf seiner zerschundenen Haut wirkten
und verzog das Gesicht.
Mulder
blickte wieder in den Spiegel. Er hatte eine hässliche Wunde über einem Auge,
die nicht aufhören wollte zu bluten. Er presste er eines der Papierhandtücher
dagegen, um die Blutung zu stoppen. Seine Unterlippe war an zwei Stellen
gerissen, aber die Schnitte waren nicht so sichtbar, als wenn er glattrasiert
wäre. Der Rest seines Gesichtes, tat zwar höllisch weh, weis aber keine
weiteren Beulen auf, stellte er erleichtert fest.
Seine
Brust jedoch war eine ganz andere Geschichte. Als er sein schmutziges und
zerfetztes T-Shirt anhob, konnte er bereits die blau-schwarzen Flecken auf
seinem Brustkorb sehen. Für einen Moment hatte er befürchtet, dass einige
Rippen gebrochen sein könnten, aber das schien zum Glück nicht der Fall zu
sein. Allerdings wäre es untertrieben, wenn man sie als stark geprellt
bezeichnen würde. Er seufzte und diese kleine Bewegung tat weh.
Mulder
steckte sein T-Shirt wieder in seine Jeans zurück und schloss den Reißverschluss
der Windjacke. Die Jacke war nicht in einem so schlechten Zustand, wie er
erwartet hatte, und er schaffte es, mit noch mehr Papiertüchern und der Seife
vom Spender, den größten Dreck davon runterzubekommen. Seine Jeans war nicht in
einer so guten Verfassung und er staubte sie lediglich ab so gut er konnte.
Mulder
starrte sein Spiegelbild an und war überrascht, wie sehr er sich in den letzten
sieben Wochen verändert hatte. Der Mann, der ihn ansah, war blass und
ausgemergelt und hatte Linien unter den Augen, die Mulder noch nie bei sich
gesehen hatte. Ihm wurde plötzlich klar, dass er sich selbst fremd geworden
war.
Er
schüttelte den Gedanken ab und ging aus dem Waschraum. Er durchquerte den Gang
und klopfte an die Türe auf der Gegenseite. "Lisa? Ich bin's."
Scully
öffnete die Tür und tastete nach seiner Hand. Sie hob ihren Kopf und fragte,
"Besser?"
Mulder
sah, dass ihre Haare um ihr Gesicht vom Wasser ganz feucht waren. Scully hatte es geschafft, den Dreck aus
ihrem Gesicht zu waschen und ihre Haut war jetzt, ausgenommen von dem
hässlichen dunklen Bluterguss, wieder glatt und sauber. Sie hatte ihr T-Shirt
gleich ganz weggeworfen und jetzt nur noch die ordentlich geknöpfte Strickjacke
an. Ihre Jeans sahen genauso wie seine aus, mitgenommen und schmutzig, aber
Mulder glaubte nicht, dass es sehr auffallen würde.
"Viel
besser", versicherte er ihr und sie lächelte. Mulder strich vorsichtig
über die Wunde in ihrem Gesicht. "Wir müssen es kühlen", sagte er,
doch sie schüttelte den Kopf und wich ihm aus.
"Das
ist schon in Ordnung, Rick", sagte sie. "Lass uns bloß hier
verschwinden."
"Schon
dabei", stimmte er zu und führte sie den Gang hinunter.
Carl
lächelte, als er geduldig wartete, bis die ältere Dame auf der anderen Seite
der Glastheke ihr Geld aus der Tasche geholt hatte. Sie legte jeden Schein auf
die Theke und überprüfte seinen Wert, bevor sie wieder in ihre riesige Tasche
griff und noch mehr herausholte. Sie blickte ihn an und lächelte
entschuldigend. "Bitte entschuldigen Sie, junger Mann, es dauert nur eine
Sekunde."
"Lassen
Sie sich ruhig Zeit", antwortete Carl, und sein Grinsen wurde breiter, als
sie ihn 'junger Mann' nannte. Obwohl sie wahrscheinlich gute zwanzig Jahre
älter als er war, war es ihm mit seinen zweiundsechzig Jahren lange nicht mehr
untergekommen, so genannt zu werden. Seine Haut war zwar noch nicht sehr
faltig, doch hatten seine Haare bereits zu Zeiten Kennedys zu grauen
angefangen, und das, fand Carl, war schon ziemlich lange her.
Als
er auf die alte Dame wartete, schweiften seine Gedanken ab, wie sie es immer
taten, wenn er arbeitete. Warum hatte sie wohl diesen Zug gewählt und wo wollte
sie hin? Bestimmt die Großmutter von jemandem, dachte er, als er die
Plastikhüllen mit den Fotos in ihrem Portemonnaie sah. Vielleicht sogar eine
Ur-Großmutter, die für eine oder zwei Wochen ihre Enkelkinder besuchen wollte.
Carl schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf und war froh, dass seine eigenen
Enkelkinder noch nicht groß genug waren, um selber Kinder haben zu können.
"Also
gut", kündigte die Dame schließlich an. "Ich habe es genau passend
und meine Senioren-Karte ebenfalls." Sie schob das Geld in die silberne
Schublade unter Carls Fenster. Er zog es auf seiner Seite an sich und zählte es
noch einmal durch.
"Gut",
sagte Carl. "Hier ist Ihr Ticket." Er schob den Umschlag zu der Dame,
die ihn freundlich anlächelte und es zusammen mit den Fotos in ihre große
Tasche steckte. "Gute Reise wünsche ich Ihnen."
"Danke
sehr", antwortete die Dame mit einem Nicken. "Danke für Ihre Hilfe,
junger Mann."
Carl
grinste und winkte ihr nach, als sie weiterging. Er beobachtete, wie sie sich
auf den Weg zu den Zügen machte, und wandte er sich seinen nächsten Kunden zu.
Sein Lächeln verschwand augenblicklich, als er das Pärchen vor sich stehen sah
und er war mit einem Mal hellwach.
Es
war ein junges Pärchen, zwar älter als seine Enkelkinder, aber nicht sehr viel.
Nicht alt genug um zu rechtfertigen, warum sie so mitgenommen aussahen. Der
Mann war groß und blickte ihn ernst an. Die Frau stand dicht bei ihm und Carl merkte
mit einem Schlag von Mitgefühl, dass ihre blauen Augen leer waren. Carl
verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, die Leute, die an seine Kasse kamen
zu beobachten, und kaum etwas konnte ihm entgehen. Er bemerkte die Beulen und
Wunden an dem Paar und wie die Hand der Frau zitterte, als sie sich am Arm des
Mannes festhielt. Doch er sagte nichts außer seinem üblichen freundlichen
Grüßen. "Willkommen bei Amtrak. Was kann ich für Sie tun?"
"Wir
hätten gerne zwei Fahrscheine", sagte der Mann und Carl nickte.
"Wohin
bitte?" fragte er und sah, wie die Frau fragend aufschaute.
Der
Mann zögerte. "Los Angeles", antwortete er dann.
"Okay",
erwiderte Carl und blickte auf die Karte vor ihm. "Das wäre ein
Transkontinental-Ticket. Sie nehmen am besten den Sunset Limited."
"Der
fährt nach Los Angeles?"
"Ja,
über Texas, New Mexiko und Arizona." Carl drehte sich nach dem Plan an der
Wand an seiner Seite um. "Ein Zug ist gestern aus Florida gefahren, der
hier heute Abend um sieben Uhr zehn abfährt."
Der
Mann nickte und legte seine Hände auf die der Frau, als er antwortete.
"Den
nehmen wir."
"Welche
Fahrscheine möchten Sie gerne, Sir?" fragte Carl und der Mann zögerte
wieder.
"Einen
Schlafwagen. Etwas mit Privatsphäre."
Carl
runzelte die Stirn und sah auf der Liste nach. "Dafür muss man
normalerweise im Voraus reservieren, Sir. Ich glaube, die dürften alle
ausgebucht sein."
"Könnten
Sie nachsehen, bitte?"
Carl
nickte und tippte es in seinen Computer ein. Seine Arthritis versetzte ihm
einen Stich in seinen rechten Arm, doch er ignorierte ihn wie immer. Er konnte
hören, wie die Frau dem Mann etwas zuflüsterte, aber er versuchte, nicht
hinzuhören.
"Rick,
wir brauchen das nicht. Wir können es uns nicht leisten."
"Keine
Sorge", antwortete der Mann gerade, als Carl gerade die gesuchte
Information auf dem Bildschirm sah.
"Sie
haben Glück, Sir. Wir haben zufällig ein Abteil frei. Es ist eines aus der
Luxusklasse, genau das Richtige für Sie beide. Es hat zwei Betten. Das untere
ist ein Doppelbett, mit einem eigenen Waschbecken, Toilette und eine
Dusche."
Der
Mann nickte zustimmend. "Wunderbar. Das nehmen wir."
"Okay,
einen Moment bitte", nuschelte Carl. Als er die Reservierung eintippte,
blickte er noch einige Male diskret zu dem Pärchen und fragte sich, wer sie waren
und wovor sie davonliefen. Er hatte fast sein halbes Leben damit verbracht,
tatkräftig für die Bahngesellschaft zu arbeiten, aber er war noch nie einem
Pärchen wie diesem begegnet. Wenigstens nicht, dass er wüsste.
"Name?"
fragte er und bemerkte, wie der Mann leicht zusammenzuckte. Er sagte nichts,
also wiederholte er die Frage. "Sir, ich brauche Ihren Namen, um die
Fahrscheine zu buchen."
"Steward",
sagte der Mann letztendlich. "Mr. und Mrs." Er nannte keine
Vornahmen, obwohl Carl einen Augenblick abwartete, ob er sie nennen würde,
bevor er fortfuhr.
"Haben
Sie irgendwelches Gepäck dabei, Mr. Steward?" erkundigte er sich, doch der
Mann schüttelte den Kopf.
Carl
tippte weiter, bis alles Nötige geregelt war. Er nannte ihnen die Endsumme und
sah zu, wie der Mann sein Portemonnaie aus der Hosentasche holte. Rasch zählte
er die Scheine und schob sie unter das Glasfenster. Carl nahm sie und überprüfte automatisch die
Summe. Seine Augen weiteten sich, als er zählte und blickte den Mann fragend
an.
"Sir",
begann er, "Sie haben mir viel zu viel gegeben. Es ist das Doppelte von
dem, was es kostet."
"Vergessen
Sie einfach, dass wir je hier gewesen sind", sagte der Mann ruhig und
bemessen.
Carls
Herz begann aus einem unbekannten Grund schneller zu schlagen, als ob er gerade
in etwas verwickelt würde, das über den einfachen Verkauf von zwei
Fahrausweisen hinausging. Einen Moment dachte er daran, das Angebot abzuweisen,
und vielleicht seinen Vorgesetzten zu rufen oder ihm paar Fragen zu stellen.
Aber ein Blick auf die Frau ließ ihn seine Bedenken verwerfen. Sie hatte etwas
sehr Zerbrechliches an sich und Carl fand, dass warum auch immer sie so
geheimnisvoll taten, sie hatten ihren Grund dazu. Es sollte nicht an ihm
liegen, ihnen im Weg zu stehen.
Carl
schob das überschüssige Geld wieder zurück unter das Fenster, aber der Mann
schüttelte seinen Kopf. "Behalten Sie es", sagte er und die
Intensität in seinen Augen deutete Carl, dass er es ernst meinte.
"Also...
vielen Dank, Sir", bedankte sich Carl und lächelte, als ob alles nur ein
gewöhnliches Geschäft gewesen war. "Der Zug fährt am Gleis sechs ab. Gute
Reise!"
Der
Mann antwortete nicht, sondern nickte ihm nur kurz zu, bevor er die Fahrscheine
nahm und sie in die Jackentasche steckte. Er nahm die Frau beim Arm und
manövrierte sie durch die Menschenmenge. Carl sah ihnen nach, bis sie aus
seinem Blickfeld verschwanden, erst dann steckte er das Geld in seine Tasche
und dachte auf einmal an einen Strauß Blumen für seine Frau, wenn er nach Hause
kam.
Walter
Skinner ging auf dem engen Raum hinter seinem Schreibtisch hin und her. Diese
Unruhe war völlig untypisch für ihn. Er war ein Mann, bei dem Gelassenheit von
äußerster Wichtigkeit war, aber er konnte sich unmöglich auf die Schreibarbeit
auf seinem Tisch konzentrieren. Er war an dem Punkt angelangt, an der er die
Antworten verlangte, die er suchte.
Die
Tür zu seinem Büro öffnete sich und der Mann betrat mit der gewohnten
Rauchwolke hinter ihm den Raum. "Sie wollten mich sprechen?"
"Ich
will eine Erklärung!" explodierte Skinner und er versuchte, sich zu
beherrschen. "Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat."
Der
Mann trat an Skinners Schreibtisch und blickte gelassen auf die Akten, die
darauf lagen. Dann nahm er einen weiteren Zug an seiner Zigarette und zuckte
die Schultern. "Wie ich Ihnen schon sagte, die Untersuchungen in dem Fall
laufen noch. Es gibt nichts Neues zu berichten."
"Nichts
Neues?" Skinner sah den Mann grimmig an. "Ein Schwerverbrecher mit
Kontakten zur organisierten Kriminalität wurde in New Orleans mit zwei Kugeln
einer Smith & Wesson 1076, der Standard-Waffe des
FBI, getötet. Ein blutiger Fingerabdruck auf dem Gesicht des Mannes ist der von
Dana Scully. Der Mann wurde in einer Gasse hinter einer zweistöckigen Pension
gefunden, wo sich Mr. und Mrs. Wilder, die keine Vornamen genannt hatten,
eingemietet hatten und sich dann einfach in Luft aufgelöst haben. In dem
Apartment von den beiden sind weitere Fingerabdrücke von Agent Scully und von
Fox Mulder. Und die Spitze des Eisbergs? Die Smith & Wesson-Dienstwaffe,
die auf Agent Scullys Namen eingetragen ist, befand sich noch in der Wohnung.
Von der wurden allerdings keine Schüsse abgefeuert, was zu vermuten lässt, dass
der Mann mit Mulders Waffe getötet wurde, die womöglich noch in Mulders Besitz
ist."
Skinner
verstummte und sah den Mann an, der weiterhin an seiner Zigarette paffte. Eine
Weile lang sagte niemand etwas, dann brach der Mann die Stille.
"Exzellente Wiedergabe der Tatsachen, Mr. Skinner. Ich wüsste nicht, was
ich Ihnen sagen könnte, das Sie nicht schon wussten."
"Was
Sie mir sagen *können* ist, was hier eigentlich los ist." Skinner beugte
sich ungeachtet des Qualms näher zu dem Mann. "Ich will wissen, wer der
Tote ist und was er da gemacht hat. Und was noch wichtiger ist, warum bekomme
ich diese Informationen von der örtlichen Polizei und nicht vom FBI?"
Der
Mann blickte Skinner so eisig an, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief.
Aber er hielt seinem Blick stand und wandte sich nicht ab. Sie starrten sich
einen Moment lang an, dann senkte der Mann seinen Blick und wandte sich zur
Tür. Er legte eine Hand auf die Klinke und drehte sich mit leicht erhobenen
Mundwinkeln zurück zu Skinner.
"Es
werden nur Informationen an die weitergegeben, die es wissen müssen. Und Sie,
Mr. Skinner, müssen nicht mehr als das wissen."
Skinner
blickte dem Mann nach, als er das Büro verließ und die Tür hinter sich zuzog.
Wieder alleine im Raum blickte Skinner auf die Akten, die über seinem Tisch
verstreut waren. Wutentbrannt riss er sie alle mit einem Schwung vom Tisch. Er
griff sich an die Stirn in einem Versuch, Ruhe zu bewahren, und schlug dann auf
die Taste des Intercoms. "Holly, kommen Sie hier
rein. Ich brauche hier Hilfe mit dem Papierkram."
Seit
Mulder gegangen war, ging Scully zum dritten Mal durch das schmale Abteil und
gewöhnte sich an die neue Umgebung. Der Raum war ein langes schmales Rechteck.
Die Betten waren an der hinteren Wand und wie der Mann an der Kasse versprochen
hatte, war das untere viel größer als das andere. Das Waschbecken und die
Toilette waren in der hinteren linken Ecke, über der sich ein kleines Fenster
befand. Scully drückte ihre Hände gegen das kühle Glas und konnte das Vibrieren
des Zuges fühlen. Die Dusche nahm den meisten Platz in der Ecke in Anspruch, und
Scully berührte im Vorbeigehen den Türgriff, um sich zu merken, wo sie war. An
der rechten Wand standen zwei Stühle neben einem kleinen Wandschrank, der aber
leer stand.
Scully
hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und fuhr herum. "Ist in Ordnung, Lisa", sagte
Mulder, als er die Tür öffnete, und sie entließ einen Seufzer der
Erleichterung. Sie hörte, wie die Tür hinter ihm in die Angel fiel und wie er
durch den Raum auf sie zukam.
"Wo
warst du?" fragte sie neugierig.
"Im
Speisewagen", antwortete er. Sie wusste, dass er neben dem Becken stand
und er ließ irgendetwas da rein fallen, was ein klapperndes Geräusch machte.
"Was
ist das? Was machst du?"
Mulder
antwortete nicht, ging zu ihr und nahm sie beim Arm. "Komm hier
rüber", sagte er und Scully folgte ihm zu den Stühlen an der Wand. Einer
der Stühle quietschte, als er sich setzte und sie mit auf seinen Schoß zog, so
dass sie mit dem Rücken gegen seinen linken Arm lehnte und ihre Beine am Stuhl
herunter baumelten. Sie hörte das ratternde Geräusch schon wieder, dieses Mal
gedämpfter und erschrak dann, als sie etwas Kaltes und Feuchtes an ihrer Wange
spürte.
"Mulder!"
Scully zuckte zurück, als das kühle Nass ihr Gesicht traf, doch sein Arm blieb
fest um ihre Schultern und trotz ihrer Beunruhigung fand sie etwas sehr
Tröstendes in seiner warmen Umarmung.
"Es
ist nur etwas Eis in einem Handtuch", sagte er. "Glaub mir, es wird
dir gut tun." Er legte den Eisbeutel wieder an ihre Wange.
Scully
seufzte. Sie musste ihm zustimmen, aber trotzdem kam sie sich unbeholfen dabei
vor. "Ich kann das selber machen, Mulder."
Er
schwieg für einen Moment. "Ich weiß."
Plötzlich
fiel ihr ein, dass er es vielleicht für sie tun wollte. Es wirklich für sie tun
wollte aus einem seltsamen Bedürfnis heraus. Dass er es vielleicht genauso gern
hatte, sie zu halten, wie sie es gern hatte, von ihm gehalten zu werden. Dieser
Gedanke beruhigte Scully, sie entspannte sich und legte ihre rechte
Gesichtshälfte an seine Schulter, als er das Eis an ihre Verletzung hielt.
Für
eine Weile sagten sie nichts. Mulder schien genau zu wissen, wann das Eis zu
kalt für sie wurde, denn er nahm es wieder weg, ohne sie fragen zu müssen. Das
einzige Geräusch war das Rumpeln des Zuges, als er in die Nacht hinein rollte.
Scully
kam plötzlich eine Frage in den Sinn. "Warum Steward, Mulder?"
"Warum
habe ich den Namen geändert oder warum habe ich gerade diesen Namen
genommen?"
"Beides",
sagte sie.
"Jimmy
Steward. Er ist immerhin eine amerikanische Ikone." Mulder lachte leise
und Scully musste lächeln, als sein Brustkorb von der Bewegung leicht
geschüttelt wurde. "Und wegen dem Ändern... die Polizei wird früher oder
später zwei und zwei zusammenzählen. Haben sie vielleicht schon. Und unser
Vermieter... er kennt uns unter dem Namen 'Wilder'. Also können wir den Namen
jetzt vergessen."
Scully
nickte. "Wir brauchen dann auch neue Ausweise."
"Neue
Ausweise und noch mehr Geld. Wir haben fast keines mehr." Mulder setzte
sich etwas anders hin. "Ich steige morgen bei der ersten Gelegenheit aus
und kümmere mich darum. Ich hole auch ein paar Klamotten für uns."
"Okay",
sagte sie. Dann fuhr sie leise fort. "Wir haben viele Beweise
hinterlassen."
"Also...
das heißt, die wissen, wo wir waren." Mulder sprach ebenso leise.
"Das
heißt nicht, dass die wissen, wo wir hingehen."
Scully
erwiderte nichts darauf, sie blieb nur sitzen. Mulder versuchte, sich zu
entspannen, aber seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jeden Moment
erwartete er ein Klopfen an der Türe, als ob sie trotz all ihrer Vorsicht
aufgespürt worden sind.
Doch
kein Klopfen kam, und als der Zug weiterhin an Polizei-Stationen vorbeifuhr,
glaubte Mulder, dass sie dieses Mal vielleicht doch Glück gehabt haben könnten.
Er konnte gar nicht glauben, dass es ihm vergönnt war, Scully hier sicher in
seinen Armen bei sich zu haben. Die Ereignisse an diesem Nachmittag hatten ihn
mehr mitgenommen, als er je gedacht hätte. Obwohl Scully nicht viel darüber
gesagt hatte, was in dem Apartment vorgefallen war, hatte ihre Angst ihm alles
gesagt. Nie wieder, schwor Mulder, in der Hoffnung, dass er dieses Mal sein
Versprechen halten konnte.
Das
Eis in dem Beutel war schon fast geschmolzen, als Scully die Stille brach.
"Mulder, ich bin müde."
"Ich
auch", stimmte er zu und nahm seinen Arm von ihren Schultern, um sie
aufstehen zu lassen. Er stand auch auf und warf das restliche Eis mit dem
feuchten Tuch ins Waschbecken.
Als
er sich wieder umdrehte, sah er Scully auf dem unteren Bett sitzen. Sie band
ihre Sneakers auf und glitt dann unter die Decke. Mulder wartete, bis sie es
sich zurecht gemacht hatte und knipste dann das Licht aus. Im Dunkeln
entledigte auch er sich seiner Schuhe und rutschte neben sie. Das Bett war zwar
ein Doppelbett, doch trotzdem nicht sehr breit. Mulder fand das gar nicht so
schlecht. Er schob seinen Arm unter sie und zog sie an sich heran, ihr Kopf
eingebettet an seiner Schulter.
Mulder
hatte nicht gemerkt, dass er eingeschlafen war, als er plötzlich durch ihre
Bewegungen geweckt wurde. Sie zitterte in seinen Armen. Sie zitterte stark,
aber sie gab keinen Laut von sich und er brauchte einen Moment, um zu erkennen,
dass sie weinte. Er zögerte, unsicher, in ihre Privatsphäre einzudringen, aber
ihr Schluchzen brach ihm das Herz und er konnte ihr Leiden einfach nicht
ignorieren. "Dana?" flüsterte er in ihr Ohr.
Scully
erstarrte, stocksteif neben ihm. Mulder bereute es augenblicklich, dass er sie
gestört hatte und hoffte, dass sie nicht verärgert war. Doch sie drehte sich zu
ihm um und vergrub ihr Gesicht in seiner Brust. Sie weinte offen und
ungehalten, ihr stockendes Schluchzen zerschnitt seine Seele. Mulder hielt sie
so fest er konnte und murmelte Zärtlichkeiten über Zärtlichkeiten, um sie zu
beruhigen.
Sein
Hemd war feucht von ihren Tränen, als sie sich endlich ein wenig entspannte.
Ihr Schluchzen verstummte und sie rieb sich ihre tränenfeuchten Augen. Sie
versuchte, zu Atem zu kommen, und flüsterte mit gebrochener Stimme, "Es
tut mir Leid, Mulder."
"Oh,
Dana..." Mulder streichelte die Haarsträhnen, die an seinen Fingerspitzen
lagen. "Bitte sag so etwas nicht. Du brauchst nie so etwas zu sagen."
"Ich...
ich weiß nur nicht, ob ich das noch kann... ich halte das nicht mehr aus."
"Was
hältst du nicht mehr aus?" fragte er und sie legte ihre Hand an seine
Brust.
"Das
hier... die Flucht, das Sich-Verstecken, das Untertauchen." Mulder hörte
eine Verzweiflung in ihrer Stimme, die er noch nie zuvor bei ihr erlebt hatte.
"Ich glaube nicht, dass ich das noch durchstehen kann."
Mulder
suchte verzweifelt nach Worten, doch alles, was ihm einfiel, erschien ihm
schrecklich unpassend. "Dana... du musst es nicht allein
durchstehen."
Scully
strich mit ihrer Hand an seinem Arm entlang, bis sie seine fand. Sie
verstrickte ihre Finger mit seinen und sagte, "Ich weiß. Und das... das
macht mir auch Angst. Mir macht Angst, wie sehr ich dich brauche, Mulder."
"Ich
brauche dich auch, Dana. Ich brauche dich so sehr", flüsterte er. Es waren
zwar nicht die Worte, die er ihr eigentlich sagen wollte, aber sie waren okay
fürs erste. Mulder fühlte ein sanftes Ziehen an seinem Arm, als Scully ihre
verschlossenen Hände an ihre Lippen hob und ihn in Zustimmung zu seinen Worten
sanft auf den Handrücken küsste.
Dann
seufzte sie und löste sich aus der Umarmung. Trotz der Dunkelheit in dem Abteil
konnte Mulder in dem schwachen Licht, das durch das Fenster trat, das Rot ihrer
Wangen sehen und er lächelte. Wieder einmal raubte ihre Schönheit ihm den Atem.
"Gute Nacht, Mulder", murmelte sie und rollte sich neben ihm ein.
"Gute
Nacht, Dana", erwiderte er, schloss die Augen und ließ sich durch das
sanfte Rumpeln des Zuges in den Schlaf lullen.
"...I refftest
to beliefe Thais could happen to me and you But it's
lonesome and it's hard and it's true And I hear the train sigh And idle down
below Why your love is so sweet and wild Is something I'll never know..."
- ("...ich weigere mich zu glauben,
dass es dir und mir passieren kann.
Aber
es ist einsam und schwer und wahr Und ich kann den Zug seufzen hören Und
untätig dort unten Warum deine Liebe so süß und wild ist Ist
etwas, das ich nie verstehen werde...")
Melissa
Etheridge
Und
das ist alles, was sie schrieb... ;-) Danke fürs Bleiben! Mit Ausnahme meiner
Abschlussprüfung ist das hier wohl das Längste, was ich je geschrieben habe...
*Bitte* lasst mich wissen, was Ihr darüber denkt, selbst wenn es nur "Wow,
nett getippt!" ist... Meine Adresse ist nvrgrim@aol.com
- Danke fürs Lesen!!!