(Originaltitel: Fade To Midnight)
von TexxasRose aka. Laura Casetellano
(laurita_castellano@yahoo.com)
aus dem Englischen
übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de
>
*** überarbeitet 2017 ***
Klassifikation:
Mulder/Scully verheiratet. EXTREME Mulder-Tortur. Leute, wenn Ihr das nicht
mögt, lasst diese Story sein—ich möchte nicht hören, dass Ihr es zu brutal
findet.
Disclaimer: Wenn Fox
Mulder mir gehören würde, würde ich ihn mit anderen Dingen beschäftigen als mit
dem Lösen von Fällen. Wenn Dana Scully mir gehören würde, würde ich immer mit
ihr Shopping gehen. Skinner gehört mir ebenfalls nicht. Sie gehören alle Chris
Carter, 1013, Fox Broadcasting und all den anderen glücklichen Gestalten.
Spoiler: Keine großartigen
Spoiler hier drin meiner Meinung nach. Nur ein kleiner für die Pine-Bluff
Variante.
Ein GROSSES Dankeschön an
meine schon-ewig-leidende beta-Leserin, Julie, die die Geschichten verständlich
macht.
Wertung: R für Sprache und
Gewaltbeschreibungen. Ab 16 Jahre.
Autorenbemerkung: Dies ist
eine Fortsetzung zu meinem Roman "Ahead Of Twilight". Es ist nicht
unbedingt notwendig, diesen vorher zu lesen, um zu verstehen, worum es hier
geht, aber einiges ist verständlicher, wenn man ihn liest. "Ahead Of
Twilight" könnt ihr unter diesen Adressen finden:
Englisch: www.8op.com/laurita
oder: www.annex-files.com
Deutsch: www.danadshome.de
Anmerkung der
Übersetzerin: Die Übersetzerin übernimmt keinerlei Verantwortung für die
Inhalte dieser Geschichte. Wenn diese Geschichte Euch zu grausam vorkommt oder
Ihr Euch von den Beschreibungen expliziter Foltermethoden angegriffen fühlt,
hört auf zu lesen! Ihr seid hiermit noch einmal gewarnt. Diese Geschichte wurde
als Fortsetzung des Fanfiction-Romans "Wenn Das Zwielicht Fällt" (OT:
"Ahead Of Twilight") derselben Autorin übersetzt, um die Storyline zu
vervollständigen. Geschichten und Erzählungen, die dieser in ihrer Form und
Inhalt ähneln, stehen nicht auf der Liste des bevorzugten Lesestoffs der
Übersetzerin.
Mulder zuckte, als die
schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Er wusste, dass es so enden würde. Er
hatte versucht, sie zu warnen, aber sie hatten nicht auf ihn hören wollen.
Stattdessen hatten sie töricht behauptet, dass sie ihn nie für die Tötung Zachary
Morrows verhaften würden, nachdem Mulder ihn erschossen hatte. Kaltblütig
erschossen, hämmerte es in seinem Gehirn, doch Mulder weigerte sich, seine
Gedanken soweit gehen zu lassen. Der Mann war immerhin im Begriff gewesen,
seine Frau zu vergewaltigen und sie dann womöglich beide umzubringen.
Andererseits, wenn sie es geschafft hätten, Zach noch ein paar Minuten
aufzuhalten, wäre Walter eingetroffen und vielleicht hätte niemand sterben
müssen. Vielleicht.
Sie hatten während der
Fahrt zur Wache immer wieder beteuert, dass er nicht festgenommen werden würde,
aber Mulder kannte die Wahrheit. Er wusste, wie das Rechtssystem arbeitete,
wenn man sogar nur fälschlicherweise eines Mordes überführt worden war. Jetzt
war es anders. Jetzt lag tatsächlich ein toter Mann auf dem Fußboden von
Mulders Schlafzimmer—mit einer Kugel aus Mulders Waffe im reglosen Körper. Sie
würden Scully um ihre Aussage bitten, und was könnte sie ihnen schon anderes
sagen außer der Wahrheit? Er hatte ihren Ex-Mann in den Kopf geschossen. Es sah
nicht gut für ihn aus. Egal, wie die Umstände waren, es sah einfach nicht gut
für ihn aus.
Mulder drehte seinen Kopf
und sah Scully, wie sie ihn besorgt betrachtete, bevor er—in Handfesseln—einen
langen Korridor mit Einzelzellen rechts und links hinunter geführt wurde. Bevor
sie um die Ecke bogen, erhaschte er noch einmal einen letzten Blick auf sie. Er
hatte diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht schon einmal auf ihrem hübschen Gesicht
gesehen: es war an dem Tag vor so vielen Jahren, als er das erste Mal schuldig
gesprochen worden war.
Oh ja—er war schon einmal
an diesem Punkt gewesen, oh richtig.
Jetzt wurde er—die Hände
hinter seinem Rücken gefesselt—Stück für Stück von seiner eigenen Seele weg
geführt. Ein Mensch muss verrückt sein, freiwillig seine Seele aufzugeben, und
was auch immer man Mulder vorwerfen konnte zu sein, er war in jedem Fall noch
vollkommen richtig im Kopf. Mit einer plötzlichen Bewegung, mit der er sich von
dem Wächter losriss, der seinen Oberarm festgehalten hatte, machte Mulder auf dem
Absatz kehrt. Er wollte zu ihr. Zu dem Gesicht, dem Trost, dem Leben, das ihn,
so lange er sich erinnern konnte, unterstützt hatte. Er konnte einfach nicht
noch einmal von ihr getrennt sein. Er sah, wie sie auf ihn wartete und ihre
Arme mit einem willkommenen Lächeln für ihn aufhielt, und er spürte, wie seine
Füße schneller rannten, je näher er ihr kam.
Und dann, ganz plötzlich,
wie aus dem Nichts, wurde er von—fünf? sechs?
sieben? er konnte sie nicht zählen—Wächtern gepackt und zu Boden
gebracht. Sie drehten ihn auf den Rücken und Mulder kämpfte schreiend, doch er
konnte ihren festen Griffen einfach nicht entkommen. Sie hielten ihn fest,
hielten ihn unten. Er hörte abrupt auf sich zu wehren, als er aufsah und in ein
sadistisches Augenpaar blickte. Mit rasendem Herzen erkannte er den Wächter,
der ihn im Gefängnis zusammengeschlagen hatte. Eiskalter Schock überfiel ihn
und jeglicher Widerstand entwich seinem Körper.
Erst als er den Mund
öffnete und wieder zu schreien begann, empfand er für einen winzigen Moment
große Erleichterung, weil er erkannte hatte, dass es nur ein Traum gewesen war.
Seine Augenlider flogen
auf und er sah in ein vom Mondlicht erhelltes Gesicht, das durch die
halb-geschlossenen Vorhänge in das Zimmer fiel.
"Häh?" brachte
er hervor. Er merkte, dass er zitterte und schwer atmete. "Was? Oh, Scheiße." Er konnte sich
in der nächsten Sekunde an alles erinnern und wischte sich mit den Händen über
das Gesicht, als ob er die letzten Reste des Alptraumes dadurch verbannen
könnte.
"Bist du okay?"
fragte sie und strich ihm die verschwitzten Haare aus der Stirn. "Du hast
dich herum geworfen und irgendetwas im Schlaf gesagt."
"Es geht mir gut,
Scully", antwortete er und setzte sich auf, Beine aus dem Bett, und suchte
nach seinen Boxershorts, die auf schnellem Wege von seinen Beinen auf dem Boden
gelangt waren, als sie letzte Nacht ins Bett gegangen waren. "Nur die
üblichen Träume. Nichts, um das man sich Sorgen machen müsste."
"Ich dachte, dass du
nach dem Training gestern wie ein Baby schlafen würdest", neckte sie ihn
und sah zu, wie er die Shorts anzog.
Er grinste. Das 'Training'
hatte darin bestanden, an zu vielen Tagen aufgestauten Frust herauszulassen.
Emmie hatte ein paar von ihren Freundinnen eingeladen, um das letzte
Wochenende, bevor die Schule wieder anfing, gemeinsam zu verbringen, und nach
drei Tagen mit vier fünfzehn-jährigen Mädchen war Scully einfach erledigt
gewesen. Mulder hatte andererseits genauso hart gearbeitet, um sein
Arbeitszimmer und seine Aufzeichnungen für den 'ersten Schultag' fertig zu
bekommen, und sie hatten in der letzten Woche lediglich die Energie dazu
gehabt, sich gegenseitig lustvolle Blicke zuzuwerfen. Als sie sich schließlich
nach all dem in ihr Schlafzimmer zurückziehen konnten, war die Szene schnell,
wild und immens befriedigend für beide gewesen.
"Ich hole mir einen
Schluck Wasser", sagte er. "Ich hab das Gefühl, ich vertrockne.
Schlaf einfach weiter."
Doch sie dachte gar nicht
daran sich wieder hinzulegen. Sie folgte ihm kichernd in die Küche, nachdem sie
ihren Bademantel übergestreift hatte.
Sie sah zu, wie Mulder mit zitternden Händen Eis in ein Glas tat und
schüttelte reuevoll den Kopf. Es war nun schon zehn Jahre her. Würde er für den
Rest seines Lebens unter den schrecklichen Erinnerungen leiden müssen?
Scully wartete, bis er das
Glas gefüllt hatte und setzte sich neben ihn auf den Küchenstuhl. Sie streckte
ihre Hand aus und umfasste fest seine Finger.
"Das war ein
schlimmer, hab ich Recht?" fragte sie ihn, doch er sagte nichts, trank
stattdessen das Glas in einem Zug aus. "Möchtest du darüber reden?"
"Nein", murmelte
er und lächelte sie dann an, um das Ruppige aus seiner Antwort zu nehmen.
"Es war nichts Besonderes, Scully. Nur einer meiner standardmäßigen. Er
handelte von.... dem Tag."
Scully seufzte. Selbst
jetzt, nach all den Jahren, tat sich Mulder immer noch schwer, jemanden in
Uniform zu vertrauen. Seine Angst vor Vollzugsbeamten ist fast zu einem Insider
zwischen ihren Freunden und Familien geworden. Fast ein Joke, bis etwas wie
jetzt passierte, dachte sie mit einem Anflug von Wut. Sie würde diejenige sein,
die ihn wieder aufbauen musste.
"Mulder, du hattest
schon lange keinen mehr wie diesen gehabt. Wenn du jetzt wieder regelmäßig
diese Alpträume bekommst, glaube ich wirklich, dass Jess...."
"Ich brauche Jess
nicht, Scully. Ich weiß genau, was die Träume hervorruft." Jess Coslow
Skinner war nach Mulders Entlassung seine Therapeutin gewesen, und Scullys auch
für eine Weile. Vor neun Jahren hatte sie Walter Skinner geheiratet und ist mit
der Zeit zu einer guten Freundin der Familie geworden. Mulder wusste, dass er
nur anrufen musste, wenn er Jess' Hilfe brauchte, und dafür war er ihr auch
ewig dankbar, aber dieser Traum hatte einen bestimmten Auslöser, den Mulder
ohne Zweifel identifizieren konnte.
Als Scully ihn fragend
anblickte, fuhr er verschmitzt fort, "Ich bin heute wegen zu schnellen
Fahrens angehalten worden. Ich wollte es dir nicht erzählen, aber
offensichtlich kann ich ein Geheimnis nicht für mich behalten."
Sie lachte in heiterer
Verzweiflung. "Schnell fahren! Mulder, du bist einundfünfzig Jahre alt.
Wann wirst du es endlich lernen?"
"Ich bin vielleicht
einundfünfzig, aber ich schaffe es immer noch, dich glücklich zu machen",
grinste er, und sie lachte fast laut los, bevor sie sich zusammenriss, um Emmie
nicht zu wecken.
"Ja, aber ich werde
auch alt", ärgerte sie ihn, "vielleicht braucht es nicht mehr viel,
um mich heutzutage zufrieden zu stellen."
Scully hatte nicht
bemerkt, dass sie ihm damit eine Herausforderung entgegen warf, bis er sie angenommen
hatte.
"Ich zeig dir, wer
hier alt wird", verkündete er, stand von seinem Stuhl auf und zog sie mit
einer geschmeidigen Bewegung an seine warme, nackte Brust.
Bevor Scully wusste, wie
ihr geschah, wurde sie rücklings an die nächste Wand gedrängt, dass sie
zwischen ihm und der Wand gefangen war. Sie starrte ihn mit großen, leuchtenden
Augen an, als er entschlossen mit seinen Fingern durch ihre Haare strich und
sie näher zu sich zog. Sie wusste, dass er sie küssen würde, sie wollte, dass
er sie küsste, und nach einem nervösen Blick in den Flur, wo die Schlafzimmer
lagen, ließ sie sich gehen und schmolz vor ihm hin. Er kam näher und näher,
doch anstatt sie zu küssen ärgerte er sie, indem er viele kleine Küsse über
ihre Lippen verteilte, bis sie hätte schreien können. Sie wollte mehr und
drückte ihren Unterleib gegen seinen, als er sie noch enger an die Wand
manövrierte. Sie war gefangen zwischen der harten Kühle der Wand und Mulders
festem Körper -- ein großer, schlanker Körper, der sich offensichtlich auch
nach ihr verzehrte.
Sie stöhnte und versuchte,
mit den Zähnen seine Unterlippe festzuhalten, doch Mulder war in spielerischer
Laune heute und wich ihr mit einem leisen Lachen aus.
"Geduld,
Scully", neckte er sie und fing jetzt an, ihren Hals zu quälen. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass sie
dort ganz besonders empfindlich war und sie binnen Sekunden vor Verlangen
anfing zu wimmern. "Du musst.... auf die.... besten Dinge.... warten."
Dieses Spiel können auch
zwei spielen, dachte sie und sie begann, ihre Hände langsam über seine Hüften
kreisen zu lassen. Dann glitten ihre Finger am Gummiband seiner Boxershorts
vorbei, das einzige Kleidungsstück, das er trug. Scully wusste genau, wie sie
ihren Mann kriegen konnte. Sie strich mit einem Fingernagel ganz leicht über
seinen Po und er quietschte.
"Verdammt, Kitzeln
ist nicht fair!" beschwerte er sich mit der dunklen, verführerischen
Stimme, von der sie immer eine Gänsehaut bekam. Mit einem Ruck nahm er ihre
Handgelenkte und heftete sie über ihren Kopf an die Wand. Sie wehrte sich nicht wirklich, denn sie
brachte vor lauter Lachen kaum etwas zustande. Sie würde sowieso nicht gegen
ihn ankommen. Seine freie Hand schlüpfte in ihren Bademantel und umfasste erst
die eine, dann die andere Brust, während sein Mund ihrem Hals weiterhin die
verbotensten Dinge antat—hier leckend, da beißend, erst einen sanften Kuss
setzend, dann gierig an ihrer Haut saugend, so dass sie an der Stelle
gebrandmarkt wurde.
Mulder konnte sie immer in
seiner, wie sie es nannte, "Master Mode" in einen Zustand bringen, in
dem sie glaubte, einfach so hinwegschmelzen zu können. Dann, als er endlich
nachgab und einen richtigen Kuss gewährte, hatte sich ihr Lachen längst in
Stöhnen des Verlangens gewandelt. Scully wand sich unter seinem Überfall, ließ
jeglichen Widerstand bleiben und drängte sich ihm entgegen. Sein Daumen
umkreiste ihre Brustwarze, während seine Zunge ihren Mund durchforschte und
verzweifelt nach der Süße suchte, die er immer dort fand.
"Mulder!"
keuchte sie, als er sich zurück zog, um sie zu Atem kommen zu lassen.
"Ja?" schnurrte
er, während er sie weiter an die Wand gedrückt hielt, bis Scully dachte sie
würde schreien, wenn er sie nicht jetzt und sofort nehmen würde. "Willst
du irgendetwas von diesem alten Mann?"
Er grinste an ihrem Hals.
"Ich glaube, den haben wir schon, Scully", widersprach er und fing
an, zärtlich an ihrem Schlüsselbein herum zu beißen.
"Emmie...."
".... würde eine Atombombe verschlafen, und das weißt du
auch", endete er, öffnete rasch ihren Mantel und zog ihn ihr über die
Schultern.
Sie antworte ihm mit einem
Stöhnen. Vorsichtig senkte er sie beide auf den Boden und breitete hastig den
Frotteemantel auf den Fliesen aus.
"Mulder",
unterbrach ihn Scully, die gerade etwas von ihrem Verstande zurück erlangt
hatte, als er mit dem Mantel fummelte. "Wenn wir es hier tun, liegst *du*
aber auf dem kalten Boden."
Sie schubste ihn ein wenig
zurück, und er fing sich mit einem Grinsen. Er ließ sie sich auf ihn setzten,
nachdem er sich mit Kopf und Rücken auf den Mantel gelegt hatte. Ein wenig
verspannte er sich, als die Kühle des Bodens durch den Stoff gelangte, und
Scully legte sich auf ihn, um ihn zu wärmen.
Er hob seine Hüften, damit
sie ihn leichter von seinen Shorts befreien konnte, und offenbarte ihr sein
Verlangen nach ihr. Scully betastete ihn und führte sich noch einmal jede Ecke
und Glätte auf seinem Körper vor Augen, während er da weitermachte, wo er
aufgehört hatte: sie weiter und weiter zu erregen. Ihre Lippen nippten an
seiner Haut, ihre Zunge kitzelte seinen Hals und zufrieden vernahm sie sein
scharfes Einatmen.
"Jetzt!"
verlangte sie, und Mulder, der in mehr als zehn Jahren viel Übung darin hatte,
seine Frau zu verwöhnen, lenkte augenblicklich ein. Er positionierte sie über
sich und schon bald vergaßen sie die Zeit, den Raum, die Tatsache, dass ihre
Tochter am anderen Ende des Korridors schlief.
"Komm mit mir,
Scully, jetzt!" kommandierte er leise. Scully schickte mit dem letzten
Rest ihres klaren Verstandes ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass niemand sie
jetzt sah. Dann war auch dieser Rest verschwunden und er zog sie mit sich über
die Klippe.
Weil er ihre
Angewohnheiten kannte, dämpfte Mulder ihr Schreien, als sich alle ihre Muskeln
zusammenzogen, indem er sie abermals küsste. Schon vor vielen Jahren hatte er
zu seinem größten Vergnügen festgestellt, dass Scully ziemlich geräuschvoll in
den Fängen der Leidenschaft war. Nichts gab ihm mehr Befriedigung als die
Gewissheit, seine sonst so ruhige und bemessene Frau zu solchen Äußerungen
bringen zu können.
Jetzt schaute sie selig
auf ihn hinunter, befriedigt und träge.
Widerstrebend bewegte er sie zur Seite, stand auf und half ihr auf die
Füße. Beide reckten und streckten sich und mussten dabei grinsen. Sie waren
beide älter geworden, aber sie hatten es immer noch drauf, reflektierte er
verschmitzt.
"Verdammt,
Scully", flüsterte er, "Du weißt genau, wie man solche Albträume
wieder los wird!"
Scully lächelte
selbst-zufrieden als sie den Gürtel ihres Mantels wieder zumachte. Wie viele
fünfzigjährige Männer konnten das schon zwei Mal in einer Nacht, dachte sie
stolz. Er hatte natürlich ein paar Stunden Zeit
gehabt, sich nach dem ersten Mal wieder zu erholen, aber trotzdem. Vielleicht würde sie morgen Abend sehen, ob
er die Aufgabe wieder bewältigen könnte.
Emmie stolperte
verschlafen in die Küche. Sie warf ihren Eltern einen spottenden Blick zu, weil
sie heute einen viel zu gutgelaunten Eindruck machten. Seufzend öffnete sie den
Kühlschrank und griff nach ihrem allmorgendlichen Joghurt und fettarmer Milch
für die Cornflakes. Ein Mädchen musste schließlich auf seine Linie achten
antwortete sie Fox immer, wenn er ihr vorwarf, nicht genug zu essen, und dann
spöttelte sie über seine Essensgewohnheiten, die sich mit ihren absolut nicht
vereinbaren ließen.
Sie holte ihr Frühstück
heraus und wandte sich zum Küchentisch. Plötzlich klebte etwas an ihrem Fuß.
Sie hob ihn an und sah nach.
"Was ist?"
fragte Scully, die sich fragte, warum sich ihre Tochter so komisch benahm.
"Da ist irgend so ein
klebriges Zeug auf dem Boden", sagte Emmie, während sie sich daran machte,
ihr Essen vorzubereiten. Sie angelte sich ein Papiertaschentuch und
fragte, "Hat Mrs. Hankins gestern nicht
geputzt?"
"Ich mach das
schon", sagte Scully schnell im Aufstehen und nahm Emmie das Tuch aus der
Hand. Emmie sah sie komisch an. "Du musst frühstücken, sonst verpasst du
den Bus", erklärte Scully.
Emmie setzte sich und warf
Fox einen misstrauischen Blick zu, der große Mühe hatte, sich das Lachen zu
verkneifen.
"Was ist los mit
euch?" wollte sie wissen, während sie den Deckel vom Joghurt öffnete.
"Nichts",
zwitscherte Scully und erhob sich vom Boden, wo sie gerade das 'klebrige Zeug'
weg gewischt hatte. Sie wagte es nicht Mulder anzusehen, weil sie genau wusste,
dass er, wie sie, gemerkt hatte, dass der Fleck genau die Stelle war, wo sie
sich letzte Nacht geliebt hatten.
"Was ist denn so
witzig?" wollte Emmie wissen, weil sie Mulder immer noch über den Rand
ihrer Cornflakes-Schüssel beobachtete.
"Die Comics",
wich er aus und versuchte krampfhaft, sich zusammenzureißen.
"Du hast die Zeitung
doch gar nicht aufgeschlagen, Fox", bemerkte sie geduldig.
Mulder grinste sie
strahlend an und zwinkerte ihr zu. "Mir sind nur gerade wieder die
eingefallen, die ich gestern gelesen habe", log er und griff nach seiner
Morgenzeitung.
Emmie verdrehte die Augen
in typischer Teenager-Manier und aß einfach weiter. Scully setzte sich wieder
zu ihrem Kaffee.
"Mom, kann ich am
Freitag eine Pool-Party machen?" fragte sie plötzlich, nachdem sie den
letzten Löffel aus ihrer Schüssel genommen hatte.
Scully sah überrascht auf.
"Ist das nicht ein bisschen kurzfristig?" fragte sie.
Emmie, die ihrer Mutter
schon ansah, dass sie es ihr nicht erlauben würde, wandte sich sogleich zu dem
Mann, der zeit ihres Lebens ihr persönlicher Sklave gewesen war. "Bitte,
Fox", säuselte sie. "Ich mache auch keinen großen Aufwand. Ich lade
einfach ein paar Freunde ein und wir grillen Hamburger oder so was. Ihr werdet
keinen Finger rühren müssen."
Emmie sah Mulder mit ihren
braunen Augen bettelnd an. Er wurde augenblicklich weich—und so hatte sie es
auch gehofft. "Scully", sagte er und wandte sich an seine Frau,
"das wäre doch kein Problem, oder?"
Scully blickte von ihrem
Mann zu ihrer Tochter und wusste, dass sie umzingelt war.
"Von wie vielen
Freunden reden wir hier?" fragte sie.
"Ähm.... zehn?" fragte Emmie hoffnungsvoll.
"Mach fünf daraus und
die Sache geht in Ordnung."
Emmie schmollte für einen
Moment und Scully fragte sich, ob sie das vor dem Spiegel geübt hatte—ihr
Schmollmund sah Mulders so ähnlich, dass es schon fast lustig war.
"Aber ist es okay,
wenn Ellery hier schläft?" wagte sie sich weiter vor.
Scully lächelte. Sie
wusste, dass das die nächste Frage sein würde. Emmie und ihre beste Freundin,
Ellery Monroe, waren seit der dritten Klasse fast unzertrennlich gewesen. Durch
ihre ähnlichen Namen haben die Lehrer sie oft nebeneinander gesetzt, weil sie
im Alphabet hintereinander kamen. Zudem sahen sie sich sehr ähnlich. Beide
hatten dunkelbraune Augen und Haare, die sie wellig im gleichen Haarschnitt
trugen. Sie kleideten sich oft gleich und hatten sich den Spitznamen 'Fast
Zwillinge' gegeben. Beide Mädchen waren so oft hier, dass Scully und Mulder
praktisch annehmen konnten, sie hätten zwei anstatt nur eine Tochter.
"In Ordnung, Ellery
kann hier schlafen, aber alle anderen sind um zehn Uhr weg, verstanden?"
stellte Scully klar und stand auf, um ihre leere Tasse in die Spülmaschine zu
stellen.
"Klar. Danke,
Mom", strahlte Emmie und sprang auf. "Ich glaub, ich höre den Bus
kommen."
Sie gab ihrer Mutter einen
Kuss auf die Wange und erwiderte Fox' dicke Umarmung.
"Einen schönen ersten
Tag in der Schule!" rief er ihr hinterher.
"Dir auch", gab
sie über ihre Schulter zurück.
"Ich werde versuchen,
dich nicht vor deinen Freunden zu blamieren", schrie Mulder ihr nach und
lachte über das gedämpfte "Oh, Fox!", das noch durch die Haustür
dringen konnte, bevor sie von außen geschlossen wurde.
"Sie ist ein
Schatz", murmelte Scully leise und berührte mit den Fingern die Stelle, wo
Emmie ihr den Kuss gegeben hatte. "Wie viele fünfzehn-jährige Mädchen
küssen noch ihre Mutter?"
"Vielleicht ist ihr
als kleines Kind nicht so viel vergönnt worden, so dass sie es jetzt zu
schätzen weiß", überlegte er, faltete die Zeitung zusammen und legte sie
beiseite. "Aber die wichtigere Frage heute Morgen ist ja wohl: sollen wir
Mrs. Hankins feuern und eine bessere Haushälterin einstellen?"
Sie ignorierte sein Lachen
und schüttelte nur still den Kopf. Dann machte sie sich auf den Weg zur Dusche.
Mrs. Hankins kam schon seit drei Jahren einmal die Woche und machte sauber, und
ihre Arbeit war immer sehr ordentlich gewesen.
"Es ist nicht Mrs.
Hankins Schuld, dass du wie ein wildes Tier bist", gab sie zurück, als er
das Badezimmer betrat. "Wir können schlecht von ihr erwarten, dass sie
hinter uns herläuft und jedes Mal aufräumt, wenn dich die Lust packt."
Mulder schnaubte.
"*Ich* bin ein wildes Tier?" sagte er entrüstet. "Ich meine mich
zu erinnern, dass du darauf bestanden hast, es hier und da zu treiben."
"Quatsch", sagte
sie hinter der geschlossenen Duschwand, und eine Sekunde später hörte Mulder
wie das Wasser anging. "Ich habe lediglich versucht, dich von deinem
Alptraum abzulenken", erinnerte sie ihn und steckte ihren Kopf aus der
Dusche, um ihm ein schelmisches Grinsen zuzuwerfen.
"Sei vorsichtig, oder
du findest dich gleich an die Wand gedrückt wieder, Frau", drohte er,
steckte den Stöpsel in die Badewanne und ließ sein Badewasser ein.
"Immer diese leeren
Versprechungen, Mulder!"
"Und verbrauch nicht
das ganze heiße Wasser!" rief er weiter und ignorierte ihren Seitenhieb.
"Ich war zuerst
hier!"
Es war ein Kabbeln, das
sie jeden Morgen veranstalteten. Mulder weigerte sich immer noch, regelmäßig zu
duschen—obwohl er hier und da zusammen mit Scully eine Dusche genommen
hatte—denn er zog bei weitem den zweifelhaften Komfort eines Bades vor. Für
Scully, auf der anderen Seite, gehörten zu einem Bad auch Kerzen, duftender
Schaum, ein gutes Buch und viel Zeit zum Genießen. Morgens schaffte sie die
Dusche in genau fünfzehn Minuten. Vor ein paar Jahren hatten sie das Badezimmer
renoviert, eine zusätzliche Dusche eingebaut und einen größeren Boiler, um die
Streitigkeiten zu verhindern, wer morgens als erster dran ist. Jetzt waren sie
beide zufrieden.
"Glaubst du, dass sie
wusste, was da auf dem Boden war?" fragte Mulder, als er in die heiße
Wanne stieg und nach dem Shampoo griff.
"Gott, ich hoffe
nicht", gab Scully zurück. "Sie ist erst fünfzehn."
"Es ist doch immer
wieder erstaunlich, wie früh Kinder heutzutage sexuell aktiv werden",
meinte er. "Es macht mir Angst."
"Aber doch nicht
unsere Tochter", sagte Scully gespielt empört und schob ihren Kopf hinter
dem Vorhang hervor, um ihn anzusehen. "Ich werde diese Möglichkeit gar
nicht erst in Betracht ziehen, hörst du? Wir haben mehr als genug Probleme in
unserem Leben gehabt, und ich weigere mich, das auch noch zu ertragen."
Er starrte sie für einen
Moment an und brach dann in Gelächter aus. "Ich werde dem Schicksal
ausrichten, dass du es so angeordnet hast", verkündete er und taucht
unter.
"Mach das",
brummte sie grimmig.
Die Frage lag offen in dem
sonst geräuschlosen Innenraum des Wagens. Es war sein vorsichtiger Versuch,
durch die Mauer zu kommen, die Emmie seit letzter Nacht um sich herum aufgebaut
zu haben schien. Sie hatte am Abend zuvor am Telefon mit ihren Großeltern
gesprochen, und seit diesem Gespräch war Emmie still und ausweichend in seiner
Nähe gewesen. Es lag auf der Hand, dass sie etwas beschäftigte, und obwohl
Mulder eigentlich beschlossen hatte zu warten, bis sie von sich aus etwas
sagte, sobald sie dazu bereit war, begann das dauernde Anschweigen langsam ihm
auf die Nerven zu gehen.
"Nichts",
murmelte sie. "Es geht mir gut."
Es war ein verbaler
Seitenhieb, denn sie hatte sich während der letzten Jahre schon über mehr als
nur einen Streit zwischen Fox und ihrer Mutter, der eben diese Phrase betraf,
aufgeregt, und sie wusste genau, dass es ihn sauer machte. Wenn sie sein vergraultes
Gesicht gesehen hatte, ignorierte sie es.
Er versuchte, über die
Handbremse hinweg ihre Hand zu nehmen, doch sie zog sie zurück. Er legte sie
wieder auf das Lenkrad.
"Ich kann mich nicht
entschuldigen, wenn ich nicht weiß, was ich falsch gemacht habe", sagte er
ruhig.
Sie schwieg missmutig für
ein paar weitere Minuten, dann drehte sie sich zu ihm um und sagte betont,
"Game, Fox."
Sein Herz begann schneller
zu schlagen. Game. Es war seine Erfindung— okay, nicht wirklich, denn das
Konzept war alt, aber es in die Form eines Spiels zu setzen, war seine Idee
gewesen. Man konnte seinen Gegenüber alles fragen, was
man wissen wollte, und er musste aufrichtig und vollständig antworten. Der
Haken daran war, dass man gleichsam ehrlich auf alle Fragen antworten musste.
Dieses Spiel war ihm eine große Hilfe bei seinen Studenten, und außerdem hatte
er gemerkt, dass die Offenbarungen, die er über sich selbst machte, Dinge, die
er normalerweise niemandem sagen würde, zu einem vertrauensvolleren Verhältnis
zu dem anderen führten. Es hatte ihm dabei geholfen, Emmie weit besser
kennenzulernen als die meisten Eltern ihre Kinder kennen.
Man brauchte einfach nur
das Wort 'Game' sagen, um das Spiel zu beginnen. Es bedeutete, dass schwer lastende
Geheimnisse im Begriff waren, enthüllt zu werden.
Er schluckte hart und
fragte sich, was sie ihm wohl dieses Mal auferlegen würde, und sagte dann,
"Okay."
"Denk an die
Regeln."
Er nickte. Die einzige
Regel in dem Spiel war die der Ehrlichkeit. Alles, was gesagt wurde, musste
vollkommen ehrlich sein.
Emmie wandte ihren Blick
aus dem Fenster, sie wollte ihn jetzt nicht ansehen. "Großmutter hat mir
gestern gesagt, dass heute Dads Geburtstag sein würde."
Mulder erschrak über diese
Bemerkung. Von allen Dingen auf einer imaginären Liste, von denen er angenommen
hatte, dass sie sie sagen könnte, stand Zach überhaupt nicht drauf. Über
Zachary Morrow wurde fast überhaupt nicht gesprochen, und Mulder hatte gehofft,
dass sie mittlerweile ihn als ihren Vater sehen würde. Er hatte offensichtlich
ihre Zuneigung zu ihrem biologischen Vater unterschätzt.
"Okay",
antwortete er und seine Hände schlossen sich unmerklich fester um das Lenkrad.
"Und was möchtest du wissen?"
Sie holte tief Luft,
sammelte all ihren Mut und blickte ihn dann mutig an, fixierte ihn geradewegs
mit ihren dunklen Augen.
"Ich will wissen, wie
er gestorben ist. Ich will wissen, was passiert ist."
Ihm stockte der Atem für
einen Moment und er wünschte sich, den Wagen irgendwo gegen die Wand zu fahren,
so dass er starb, aber Emmie auf wundersame Weise ohne einen Kratzer überleben
konnte. Oder dass er einen plötzlichen, tödlichen Herzanfall erleiden würde. Er
hoffte genaugenommen auf alle möglichen solcher Sachen, aber nichts davon
passierte. Sie wartete wortlos auf seine Antwort.
"Nein, Emmie,
bitte", bat er sie sanft. "Frag mich nicht danach."
"Game, Fox",
erinnerte sie ihn kalt. "Es ist *dein* Spiel, weißt du noch? Hast du geglaubt, dass es nur zu deinem
Vorteil funktioniert? Du und Mom, ihr seid immer den Fragen ausgewichen, die
ich über meinen Vater hatte. Ich bin jetzt fünfzehn. Ich bin kein Kind mehr.
Ich will, dass du es mir sagst."
Er hatte keine Wahl.
Justin Dulexy fuhr langsam
durch die Straßen, hielt die Augen offen nach allem Ungewöhnlichen. Er fuhr
schon zum vierten Mal innerhalb der letzten Stunde hier durch, und grübelte
nach einem guten Plan, um sein Vorhaben ausführen zu können. Er hatte bereits
beschlossen, sich das Mulder-Balg zu holen, jetzt brauchte er bloß noch eine
Gelegenheit. Er wusste, wo er sie hinbringen würde, wann er ihre Eltern anrufen
und wie viel Geld er für sie verlangen würde. Bloß der Zeitpunkt stand noch
nicht fest, wann er seinen Zugriff machen konnte.
Als er um die Ecke fuhr
und den Block somit ein weiteres Mal umrundete, sah er sie. Sie musste zu Fuß
von der Schule nach Hause gegangen sein, weil sie mit dem Rucksack über einer
Schulter auf dem Weg zu Mulders Haus war. Als er näher heranfuhr, konnte er
ihre Initialen in grün gehalten auf dem blauen Rucksack lesen: E.M. Er
lächelte. Die meisten Leute aus der Nachbarschaft waren noch nicht von ihrer
Arbeit zurück und die Straße war ziemlich ruhig. Er konnte sie schnappen, ohne
gesehen zu werden, wenn er großes Glück hatte.
Ellery ging in zügigem
Tempo mit ihren Schwimmsachen im Rucksack auf Emmies Haus zu. Sie war direkt
nach der Schule nach Hause gegangen und hatte ihre Hausarbeiten in Rekordzeit
erledigt, doch ihre Mutter hatte dann darauf bestanden, das sie zu Abend aß und
abwusch. Also war sie spät dran.
Endlich, endlich hatten ihre Eltern sie ins Wochenende entlassen, und
Ellery war auf dem schnellsten Wege gegangen. Die Party sollte in einer halben
Stunde losgehen, und sie wollte ihren neuen Badeanzug anhaben, wenn Mark ankam.
Dann, später am Abend, würden sie und Emmie sich stundenlang kichernd über den
Jungen unterhalten, in den sie beide ein bisschen verknallt waren. Sie freute
sich darauf, ihn in Badehosen zu sehen.
Das Geräusch eines
Automotors unterbrach sie in ihren Gedanken. Sie blickte hoch und sah, wie ein
Truck auf sie zukam. Er verlangsamte und hielt schließlich an. Ellery ging
weiter, doch ihr wurde etwas mulmig, als das Beifahrerfenster heruntergefahren
wurde.
Sie wollte eigentlich
weiter gehen, ohne dem Fahrer überhaupt eines Blickes zu würdigen, doch er rief
nach ihr.
Seine Stimme klang
freundlich und unsicher, und Ellery nahm an, dass er nach dem Weg fragen
wollte. Ihre Mutter hatte sie immer davor gewarnt, in das Auto eines Fremden
einzusteigen, aber wenn sie hier auf dem Gehweg stehen blieb und mit ihm
redete, wäre es doch in Ordnung, oder nicht?
Sie sah zu dem Fahrer. Es
war ein großer Mann, größer als ihr Vater, und irgendetwas an ihm störte sie.
Etwas, das sie nicht genau benennen konnte.
Sie versuchte, dieses Gefühl abzuschütteln. Es war albern und stammte
ganz sicher nur von den Horrorgeschichten ihrer Mutter.
"Ja?" fragte sie
mit nur leicht zitternder Stimme.
"Kannst du mir sagen,
wo diese Straße ist?" fragte der Mann und zeigte auf die Karte, die auf
dem Sitz lag.
"Welche Straße ist
es?" fragte sie nervös und trat einen vorsichtigen Schritt auf den Truck
zu.
"Ich weiß nicht
genau, wie man das ausspricht."
Ellery biss sich
unentschlossen in die Lippe.
"Hey, ich verstehe.
Du darfst nicht mit fremden Leuten sprechen, und das ist auch klug so. Ich
hätte dich nicht fragen sollen." Der Typ wedelte beiläufig mit der Hand
und lächelte freundlich. "Ich werde versuchen, jemand
erwachsenes...."
Bei diesem Wort blitzte es
in Ellery. Erwachsene. Erwachsene dachten, sie wüssten alles. Der Mann würde
ihr nichts tun, er war nett. Er braucht einfach nur Hilfe, und sie könnte sie
ihm geben. Ellery hatte ihr ganzes Leben in dieser Gegend verbracht und sie
kannte jede Straße im Umkreis von einer halben Meile.
"Warten Sie
mal", unterbrach sie ihn, trat an den Truck und lugte durch das Fenster,
alle Vorsicht vergessen. Ein Bruchteil einer Sekunde später wusste sie, warum
ihre Eltern ihr beigebracht hatten, nicht mit Fremden zu reden.
Die Waffe funkelte
stählern neben seiner Jeans, als er sie auf sie richtete. Er hielt sie auf
seinem Schoß, so dass vorbei gehende Passanten sie nicht bemerken würden. Sie
schnappte nach Luft und fühlte, wie ihr vor Angst schwindelig wurde.
"Steig ein. Wenn du
schreist, oder versuchst wegzulaufen, bringe ich dich um. Mach einfach die Tür
auf und steig ein." Sie zögerte einen Moment, bis er mit dem Lauf der
Waffe ihr deutete, sie solle voran machen. Sie gehorchte und kletterte mit
kreideweißem Gesicht auf den Beifahrersitz.
"Braves
Mädchen", säuselte er, sein Grinsen jetzt nicht mehr so freundlich. "Leg deine Hände hier auf die Ablage, wo
ich sie sehen kann." Er gestikulierte mit der Waffe und sie tat, was er
verlangte. Zitternd hielt sie sich an dem Kunststoff der Ablage vor ihr fest.
Er fuhr einhändig, sah
sich einige Meilen ständig aufmerksam um, bis sie eine weniger bewohnte Gegend
erreichten. Die Häuser waren hier sehr verstreut. Er hielt weit genug von den nächst gelegenen am Straßenrand an.
"Dreh dich um",
befahl er, und sie tat es, zitternd am ganzen Körper.
"Bitte", sagte
sie, als sie fühlte, wie er ihre Arme hinter ihren Rücken zog, "tun Sie
mir nicht weh."
Rasch band er ihre Hände
hinter ihrem Rücken zusammen und ließ sie dann im Fußraum sitzen. Dieser war so
klein, dass sie sich hineinquetschen musste und keine plötzlichen Bewegungen
machen konnte, selbst wenn sie den Mut dazu gehabt hätte. Als er sich
überzeugte, dass sie sicher da unten saß, startete er den Truck wieder und fuhr
los.
"Keine Sorge,
Emmie", sagte er versichernd. "Wenn du dich benimmst, verspreche ich
dir, dass ich dir nicht weh tue, und in ein paar Tagen wirst du wieder sicher
zu Hause bei deinen Eltern sein."
Ellerys riss die Augen
auf, als sie hörte, wie er sie mit dem Namen ihrer Freundin ansprach. Er hatte
sich vertan! Er war gar nicht hinter ihr her, sondern er wollte Emmie! Sie
fragte sich, ob sie ihm das sagen sollte, aber das würde ihn vielleicht sauer
machen und er würde ihr weh tun. Wenn er merken würde, dass er das falsche
Mädchen hatte, würde er sie gehen lassen?
Oder würde er sie umbringen, so dass sie ihn nicht identifizieren
konnte, und dann zurück fahren, um Emmie zu holen? Immer noch zitternd schloss
Ellery die Augen und betete um Antworten und um Schutz.
Mulder saß unter der
Markise neben dem Haus und sah aus der Entfernung zu, wie Emmie und ihre
Freunde im Pool tauchten und schwammen. Ellery war noch nicht eingetroffen,
aber die anderen Kinder waren da und die Party war in vollem Gange. Scully
brachte nach und nach immer mehr Essen und Getränke aus der Küche, aber wie
vereinbart, hatten Emmie und ihre Freunde die meiste Arbeit selbst gemacht.
Sein Herz schmerzte, als
er die dunkelhaarige Schönheit beobachtete, die er und Scully liebevoll
'Nymphe' nannten. Sie bedeuteten ihm mehr als alles andere auf der Welt, sie
und Scully, und er wusste, dass wenn er ihre Liebe und ihren Respekt verlieren
sollte, es ihn umbringen würde. Alles würde ihm egal sein, wenn er diese beiden
nicht mehr in seinem Leben hätte.
Scully ließ sich neben ihn
in den Stuhl fallen und riss ihn damit aus seinen verstreuten Gedanken. Sie
reichte ihm einen Pappteller mit Hotdogs, Chips und Soße. Sie machte eine Dose
Cola Light auf, nahm einen großen Schluck und seufzte tief. Sie klaute einen
Chip von dem Teller, den er auf seinen Knien balancierte und betrachtete
aufmerksam sein Gesicht.
"In Ordnung, Mulder,
schieß los", sagte sie. Er drehte sich perplex zu ihr um.
"Was? Wovon redest
du, Scully?" versuchte er auszuweichen, doch er wusste bereits, dass sie sich
nicht zum Narren halten lassen würde. Er hatte recht.
"Hör zu,
Mulder", sagte sie kurz. "Ich hatte einen langen Tag, am Ende einer
langen Woche und ich bin geschafft. Irgendetwas stört dich offenbar, und ich
habe weder die Zeit noch die Geduld, es dir aus der Nase zu ziehen. Sag mir, was ich wissen will, oder ich werd's
auf die harte Tour heraus bekommen. Was ist los?"
Ihre harten Worte wurden
gemildert durch die Sorge in ihren Augen, und nachdem Mulder zuerst abstreitend
den Kopf geschüttelt hatte, gab er es auf. Es würde sowieso nichts bringen,
sich mit ihr zu streiten. Er hatte in den zehn Jahren, in denen sie verheiratet
waren, nicht einmal gewonnen.
"Emmie hat mich heute
nach Zach gefragt", sagte er endlich.
Scullys Augen wurden groß,
als sie noch einen Chip nahm. "Was hast du ihr gesagt?" fragte sie.
Er schnaubte verächtlich.
"Alles—gut verpackt in der Version für eine Fünfzehnjährige. Ich musste es
tun, Scully. Sie hat mir das Spiel aufgeladen."
"Und du bist in deine
eigene Grube gefallen." Scully schüttelte reuevoll ihren Kopf. "Ich
habe dir doch geraten, ihr nicht solch eine Macht zu geben", sagte sie
mild, "aber du bist hier der Kinder-Psychologe, und du wolltest nicht
hören."
"Und ich habe dir
gesagt, Scully, dass man Kindern den Glauben geben
sollte, dass sie eine gewisse Kontrolle in der Welt haben, auch wenn sie das
letztendlich nicht haben." Er lachte kurz und bitter. "Allerdings hat
mir mein Doktortitel hier eingebracht, dass sie nicht mehr mit mir redet."
"Mulder." Sie
legte ihre Hand tröstend auf seinen Arm. "Du weißt, dass sie nur sauer
ist, und du weißt, dass sie darüber hinweg kommen wird. Wenn du ihr gesagt
hast, dass du derjenige bist, der Zach getötet hat, ist sie jetzt erst mal
geschockt. Sie ist aber ein intelligentes Mädchen, und letztendlich wird sie
erkennen, dass du keine andere Wahl gehabt hattest. Hast du ihr gesagt, was Zach vorhatte? Dass
er uns beide umbringen wollte?"
Er nickte, gab ihr den
Teller zurück und stand auf. "Ja, das habe ich, und ich weiß, dass du
Recht hast, Scully, aber trotzdem...."
"Ich weiß",
sagte sie verständnisvoll. "Es ist sehr schwer. Aber Emmie liebt dich
immer noch, Mulder. Das wird ihre Gefühle für dich nicht kaputt machen. Tief
drinnen, das weißt du."
"Ich weiß. Rein
logisch weiß ich das, aber es ist etwas anderes, wenn es deine eigenen
Beziehungen sind, um die es geht."
"Ich kenne diesen
Unterschied seit du dich das erste Mal verletzt hast, und ich mich um dich als
Ärztin, nicht als Partnerin und Freundin kümmern musste. Es ist immer
schwierig, eine Situation objektiv zu betrachten, wenn jemand seiner Lieben
leidet."
Er öffnete den Mund, um zu
antworten, aber das Telefon klingelte und er ließ es bleiben.
"Ich gehe ran",
murmelte er und beeilte sich, ins Haus zu kommen, bevor sie ihm
weiter predigen konnte. "Vielleicht ist es Ellery." Das Letzte, was
er jetzt brauchte, war eine Lektion über das Grundwissen menschlichen
Verhaltens. Er wusste das alles, kannte es so genau wie seinen eigenen Namen.
Das Schwierige daran war nur, danach zu leben.
Mulder schaffte es, das
Telefon beim vierten Klingeln abzuheben, bevor der AB dran ging.
"Hallo?" meldete
er sich in der Erwartung, Ellery außer Atem erklären zu hören, warum sie spät
dran war. Ellery war seiner Erfahrung nach immer spät und immer außer Atem. Es war
etwas, dass er sowohl nervend, als auch niedlich fand.
"Ich habe Ihre
Tochter. Wenn sie sie zurück haben wollen, kooperieren Sie lieber."
Mulder starrte auf das
Telefon aus dem jetzt nichts mehr kam, weil die Leitung unterbrochen worden
ist. Was zur Hölle war das denn?
Schnell sah er auf das
Anrufer-Identitäts-Display, doch da stand nur 'Unbekannter Anrufer'. Welch
Überraschung.
"War das
Ellery?" fragte eine kühle Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und fand
Emmie mit einem gleichgültigen Ausdruck auf ihrem Gesicht vor.
"Nein, ich glaube
falsch verbunden", sagte er und sie war aus der Tür, bevor er den Satz
auch nur zu Ende gesprochen hatte. Er seufzte wieder und biss sich auf die
Zunge, um ihr nichts Verärgertes hinterher zu rufen. Dann steckte er seinen
Kopf aus der Küchentür. "Scully, kommst du mal bitte?"
Sie kam sofort und ihr
Gesichtsausdruck änderte sich von neugierig zu besorgt, als sie Mulders
Verwirrtheit sah.
"Ich bin mir nicht
sicher", antwortete er langsam. "Das war ein....
sehr seltsamer Anruf."
Er wiederholte den
einzigen Satz, den der Anrufer gesagt hatte, und sie blickten sich an. Fast
gleichzeitig dämmerte es ihnen.
Mulder schnappte sich das
Telefon und rief die Murrays an. Niemand hob ab, was ihm umso mehr Sorgen
machte. "Ihre Eltern sollten doch zu Hause sein, richtig?" sagte er,
und Scully schreckte auf.
"Das habe ich
vergessen, dir zu sagen—ihre Eltern haben eine plötzliche Einladung bekommen,
übers Wochenende zu Adams Bruder zu fahren. Sie haben gefragt, ob Ellery bis
Sonntag hier bleiben könnte, und ich sagte ja. Sie sollte zu Fuß rüber kommen,
wenn sie ihre Hausaufgaben erledigt hat.
Mulder, sie sollte längst hier sein!"
"Verdammt!"
stieß er aus. "Scully, du bleibst hier bei den Kids. Ich gehe rüber zu
Ellerys Haus und sehe nach, ob ich sie finden kann... oder irgendetwas
anderes."
"Sollen wir nicht die
Polizei rufen, Mulder?" rief sie, als er im Flur verschwand.
"Noch nicht",
rief er zurück. "Die können noch nichts machen, und wir wissen nicht mal,
was wirklich los ist, oder?"
Sie eilte ihm nach und
holte ihn an der Haustür ein. "Wir haben einen Anruf von einem möglichen
Kidnapper bekommen", argumentierte sie. "Glaubst du wirklich, dass
das ein Zufall ist?"
Er legte die Hände auf
ihre Schultern. "Gib mir nur eine halbe Stunde, Scully. Ich werde nach ihr
suchen. Wenn wir jetzt die Polizei rufen, könnten wir sie umso mehr in Gefahr
bringen. Und", fuhr er fort, während er eine Kopfbewegung in Richtung
Hinterausgang machte, "wir können die Kinder nicht in Panik versetzten,
bis wir nicht sicher sind."
Widerstrebend nickte sie
und sah, wie er sich zu den Murrays davon machte. Sie schloss die Tür und betete, dass Ellery
wohlbehalten und gesund bald aufgefunden würde, und dass der Anruf nur ein
schrecklicher Fehler oder dummer Scherz war. Dann ging sie entschlossen zurück
zum Pool. Sie musste Emmie sehen und sich davon überzeugen, dass es ihr gut
ging.
Mulder lief den ganzen Weg
zum Murray-Haus. Er klopfte an, doch niemand machte auf. Er versuchte die
Vordertüre, doch die war abgeschlossen. Von Ellery fehlte jede Spur.
Als das Telefon dieses Mal
läutete, sprang Mulder regelrecht danach.
"Ja?" sagte er angespannt
und hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Er konnte sich nicht
erklären, warum er sich schuldig fühlte, dass Ellery gekidnappt worden war, und
nicht Emmie, aber er tat es.
"Ich habe deine
Tochter, Reicher Mann."
Die Stimme am anderen Ende
weckte Erinnerungen, und Mulder wurde blass, während er zuhörte. Er kannte
diese Stimme, aber woher? Sein Gedächtnis wollte diese Antwort in dem Moment
nicht ausspucken, aber es gab ihm das Gefühl, die absolute Sicherheit, dass
Ellery in großer Gefahr war.
"Sie haben das falsche
Mädchen", sagte er langsam und zwang sich zur Ruhe.
Wenn sie Ellery unverletzt
wieder haben wollten, musste er ruhig bleiben.
"Warum lassen Sie sie
nicht gehen und wir vergessen das Ganze?"
Die Stimme schwang um in
ruppiges Gelächter. "Keine Chance, Reicher Mann. Nicht ohne ein wenig
Bares als Anreiz."
"Hören Sie",
erklärte Mulder geduldig, "das Mädchen, das Sie entführt haben, ist nicht
meine Tochter. Ihre Eltern sind nicht reich, sie können Ihnen nicht geben, was
Sie wollen. Wenn Sie sie jetzt gehen lassen, kommen Sie noch davon."
Die Stimme sagte nichts
für einige Sekunden. Schließlich grollte sie, "Sie kennen die Kleine,
stimmts? Wenn Sie lügen, wird es ihr sehr weh tun."
"Sie ist die Freundin
meiner Tochter", antwortete Mulder rasch und ballte hilflos die Fäuste. Er
sah, wie Scully nach ihrem Handy griff und hastete, um sie aufzuhalten. Er
schüttelte wild den Kopf und ignorierte ihren ärgerlichen, bestürzten Blick.
"Dann werden Sie
bezahlen."
"Was?" Das hatte
Mulder nicht erwartet.
"Sie werden bezahlen,
um sie zurück zu bekommen, Reicher Mann. Ich will zwei Millionen Dollar für die
Kleine."
Die Stimme lachte wieder,
ein Ton, der Mulder Schauer über den Rücken jagte. "Ich gebe Ihnen etwas
Zeit, um darüber nachzudenken", sagte der Entführer. "Wenn ich wieder
anrufe, haben Sie besser das Geld zusammen, oder die kleine Lady hier beißt ins
Gras."
"Nicht...." Er
verzog das Gesicht, als er das Klicken in der Leitung hörte. Mulder stand still und dachte angestrengt
nach, bevor Scully ihn unterbrach.
"Warum hast du mich
nicht die Polizei rufen lassen?" wollte sie wissen. "Sie hätten den
Anruf vielleicht zurückverfolgen können!"
Mulder schüttelte grimmig
den Kopf. "Er wäre nicht lange genug in der Leitung geblieben. Wenn er
wüsste, dass wir die Polizei informiert haben, wird er Ellery vielleicht weh
tun." Oder sie umbringen, nagte eine Stimme in seinem Kopf, aber er wollte
es in Emmies Gegenwart nicht aussprechen.
Emmie aber ließ sich nicht
hinters Licht führen. "Fox, was wollte der Mann?"
Mulder seufzte. "Er
will Lösegeld. Zwei Millionen Dollar."
"Und du hast nein
gesagt?" fragte sie ungläubig. Das Unverständnis war ihr am Gesicht
abzulesen.
"Emmie...."
"Emmie, wir können
mit Kidnappern nicht verhandeln, wir müssen die Experten rufen", klinkte
sich Scully erklärend ein.
"*Ihr* seid die
Experten!" schrie sie. "Ihr erzählt mir dauernd irgendwelche heißen
FBI-Storys, ihr wisst ganz genau, was ihr tun sollt! Du hättest einfach sagen
können, dass du einverstanden bist. Wenn Ellery stirbt, ist es deine Schuld,
Fox. Willst du jeden umbringen, der mich wichtig ist?"
Emmie rannte aus dem
Zimmer, heulend vor Wut, so dass sie den blanken Schmerz nicht sehen konnte,
der Mulder bei ihren Worten befiel.
"Sie kriegt sich
wieder ein, Mulder", sagte Scully und hielt ihn am Arm zurück, als er
Anstalten machte, ihr zu folgen. "Sie ist nur außer sich. Sie wird sich später beruhigen, wenn sie die
Möglichkeit hatte, darüber nachzudenken."
Mulder seufzte wieder,
schwer, und schob die Finger unter seine Brille, um sich die Augen zu reiben.
"Wir sollten Walter
anrufen", sagte er. Scully stimmte zu. Sie tätigte den Anruf, während
Mulder auf seiner Unterlippe kaute und im Zimmer auf und ab ging.
"Sie sind auf dem
Weg", sagte sie, als sie auflegte. Sie stellte sich vor ihren Mann, so
dass er gezwungen war, mit der Lauferei aufzuhören. Sie legte ihre Hände auf
seine Schultern und er musste sie ansehen.
"Wir kriegen das hin,
Mulder", versicherte sie ihm. "Wir vier lassen uns etwas einfallen.
Walter kann dafür sorgen, dass alles still verläuft, und mit ein bisschen Glück
wird der Typ überhaupt nicht merken, dass das FBI verständigt."
"Ich hoffe stark,
dass er das nicht tut", gestand Mulder und zog sie zu sich, dass sie ihre
Arme beruhigend um ihn legen konnte. "Es ist nur...."
Er schüttelte rasch den
Kopf und biss sich nachdenkend wieder auf die Unterlippe. "Ich kann's
nicht genau beschreiben", antwortete er, "aber ich kenne die
Stimme."
Walter und Jess Skinner
brauchten nicht lange, und schon kurz darauf waren sie zu viert in Mulders Arbeitszimmer
versammelt. Emmies Gäste waren nach Hause geschickt worden, und Emmie hatte
sich im Badezimmer eingeschlossen. Hin
und wieder konnte man Schluchzen aus dem Badezimmer hören, wobei Mulder jedes
Mal ein wenig blasser wurde. Skinner, der wusste, dass Mulders Frauen ihn
beizeiten richtig aus der Fassung bringen konnten, bemerkte alles davon.
"Mulder", sagte
er streng mit seiner besten Vorgesetzten-Stimme, "beruhige dich. Emmie wird es überleben. Wir müssen jetzt
dafür sorgen, dass Ellery das auch tut."
"Ich weiß, Walter.
Ich komme mir nur so hilflos vor."
"Erzähl mir alles,
was der Anrufer gesagt hat", ordnete Skinner an.
Mulder schluckte, um seine
trockene Kehle zu befeuchten, und dachte zurück an den Anruf.
"Er hat offensichtlich
angenommen, dass er Emmie entführt hatte. Er muss uns schon eine ganze Weile
beobachtet und das Ganze geplant haben."
Skinner nickte.
"Als ich ihn davon
überzeugt hatte, dass er nicht unsere Tochter hat, fragte er, ob wir Ellery
kennen. Als ich ja sagte, sagte er, er wolle zwei Millionen Dollar für sie. Ich
habe ihm aber schon gesagt, dass ihrer Eltern nicht reich seien."
"Er nannte mich
dauernd 'Reicher Mann'. Und Walter, ich kenne diese Stimme."
Mulder schüttelte langsam
den Kopf. "Das weiß ich nicht mehr, aber ich weiß, dass es nichts Gutes
war."
"Vom Gefängnis?"
fragte Jess ruhig vom anderen Ende des Zimmers und Mulder erschrak. Er hatte
vergessen, dass sie auch da war.
"Ich bin mir nicht
sicher", antwortete er nachdenklich. "Vielleicht. Er klang, als
wollte er seine Stimme verstellen, aber das ist ihm nicht sehr gut
gelungen."
"Denk zurück",
sagte Skinner. "Versuche, die Stimmen von den Leuten, die du kennst, in
deinem Kopf zu hören."
"Walter...."
"Jess, es ist
vielleicht die einzige Möglichkeit, diese Person zu identifizieren",
konterte Skinner. "Unser erster Gedanke sollte Ellerys Sicherheit
gelten."
Mulder schloss die Augen
und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er konzentrierte sich darauf, Stimmen
aus seiner Vergangenheit in sein Gedächtnis zu rufen. Er hatte vor Jahren mit
Jess viele Probleme bewältigen können, aber einige Dinge vertrugen Erinnerungen
immer noch nicht. Er wusste, dass es sowohl schmerzhaft, als auch angsteinflößend
werden würde. Mulder fühlte, wie sich
eine Hand über seine schob, und sah auf. Jess hatte sich neben ihn gesetzt und
schaute ihn ermutigend an.
"Gut, Mulder,
konzentriere dich und schließe deine Augen wieder", sagte sie sanft und er
tat es, verbarg die Verzweiflung, die sich in seinen Augen zeigte. Er wollte
diesen Weg nicht mehr gehen müssen. "Ich bin hier bei dir", sprach
sie weiter, und er fasste ihre Hand fester, eine bekannte, vertraute große
Hilfe.
Widerstrebend rief sich
Mulder so viele Menschen wie möglich ins Gedächtnis und versuchte, sich an ihre
Stimmen zu erinnern. Zellengenossen, die kamen und gingen, und da waren diese
Männer, die ihn auf dem Übungsplatz überfallen hatten....
er wagte es nicht, weiter darüber nachzudenken, nicht einmal für Ellery, also
verdrängte er diese Erinnerung rasch wieder. Er kannte die Namen der Männer
sowieso nicht.
Scully sah besorgt zu, als
sich die Torturen auf dem Gesicht ihres Mannes abzeichneten, bis er schließlich
die Augen wieder aufmachte und Jess ansah.
"Ich kann mich
einfach nicht mehr daran erinnern", sagte er hilflos.
"Mulder, könnte es
jemand von davor sein? Jemand, der dich vielleicht ins Gefängnis geschickt
hat?" fragte Skinner.
"Vielleicht",
stimmte Mulder zu. "Es tut mir leid, Walter, ich weiß, dass ich die Stimme
schon einmal gehört habe, aber es will mir jetzt partout nicht einfallen."
Skinner setzt sich
enttäuscht zurück. "Es ist okay, Mulder. Möglicherweise fällt es dir
später noch ein."
Mulder schüttelte sich
innerlich. Er wollte nicht, dass es ihm später wieder einfiel. Er wusste, dass
diese Stimme Schreckliches verhieß, und er wollte das nicht wieder ausgraben.
Andererseits hatte er keine andere Wahl.
Es war vielleicht Ellerys letzte Hoffnung.
Bevor er sich selbst in
den Strom von Erinnerungen stürzte, klingelte das Telefon. Skinner riss sein
Handy aus der Tasche und bedeutete Mulder, den Anruf anzunehmen.
"Ich will zwei
Millionen Dollar in bar, deponiert unter dem Pavillon im Soldier Park morgen um
Mitternacht", sagte die Stimme ohne Vorgeplänkel. "Keine Mucken, Reicher Mann. Wenn ich
irgendjemanden anderes in der Nähe sehe, oder wenn irgendwer außer dir das Geld
bringt, stirbt die Kleine. Ich weiß, dass du versuchst, diesen Anruf zurück zu
verfolgen, also mache ich es kurz. Zwei Millionen. Morgen um Mitternacht.
Soldier Park. Du. Allein."
Der Entführer hing auf
bevor Mulder überhaupt antworten konnte.
"Verdammt!"
fluchte Skinner und haute auf den Knopf seines Telefons.
"Er wusste, dass wir
den Anruf verfolgen", sagte Mulder.
"Das heißt entweder,
dass er weiß, dass wir die Polizei gerufen haben, oder dass er uns schon lange
beobachtet und weiß, dass wir Freunde von Skinner sind", stellte Scully
fest. "Wenn das der Fall ist, wird er gewusst haben, dass das FBI von
Anfang an involviert sein wird."
"Aber in dem Fall,
warum würde er das falsche Mädchen mitnehmen?" argumentierte Skinner.
Scully zuckte die
Schultern. "Du hast Ellery gesehen, Walter. Du weißt, wie sehr sie und Emmie
sich ähneln. Wenn er uns von Weitem beobachtet hat, kann es gut sein, dass er
sie verwechselt hat."
"Er will, dass ich,
und nur ich, zwei Millionen Dollar unterm Pavillon im Soldier Park morgen um
Mitternacht deponiere", berichtete Mulder ihnen. "Er hat gesagt, dass
wenn er irgendjemanden anderes in der Nähe sieht, oder wenn irgendwer anderes
das Geld bringt, er sie umbringen wird."
Seine Worte hingen wie Eis
in der Luft.
"Was möchten Sie
tun?" fragte Skinner letztendlich.
Mulder fuhr sich mit den
Fingern ruhelos durch die Haare. Er wusste, dass Scully nicht glücklich mit
dieser Entscheidung sein würde, aber er glaubte in Ellerys Interesse,
geschweige denn von seinem weiteren Verhältnis zu Emmie, in dieser Sache seinen
Instinkten folgen zu müssen.
"Ich glaube, wir
sollten tun, was er verlangt."
Alle drei starrten ihn
erschrocken an. Scully fasste sich als erste.
"Mulder", sagte
sie sanft, rückte neben ihn und legte einen Arm um seine Hüfte, "ich weiß,
was du über Polizei denkst, aber...."
"Das hat damit nichts
zu tun", unterbrach er sie. Er wollte sauer auf sie sein, weil sie glaubte
er sei so oberflächlich, seine eigenen Ängste über das Leben des kleinen
Mädchens zu stellen. Aber ihm war auch klar, dass er in der Vergangenheit einen
Eindruck hinterlassen hatte, der eine solche Annahme rechtfertigte.
"Scully, dieser Typ
weiß, wer wir sind. Und ich kenne ihn, obwohl ich im Moment nicht weiß woher. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er weiß, dass
wir mal FBI-Agenten waren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er weiß, dass einer
unserer engsten Freunde eine hohe Position beim FBI hat. Er wird nach allen
Anzeichen für eine Falle suchen."
Sie starrte ihn an. Sie
wusste, dass er Recht hatte, doch sie wollte ihm nicht erlauben, sich in
Reichweite eines Kidnappers zu stellen, besonders nicht, wenn dieser Kidnapper
womöglich einen Hass auf ihn hatte. Sie suchte nach einer Möglichkeit, ihn von
diesem Vorhaben abzubringen, doch Skinner nahm es ihr von sich aus ab.
"Ich kann Dich das
nicht tun lassen, Mulder."
Skinners Tonfall war
streng und autoritär. Es war der Tonfall, den er bei seinen Untergebenen
verwandte—der Tonfall, der Mulder immer noch nach all den Jahren wirken konnte.
Doch heute konnte Mulder das nicht abschrecken.
"Walter, ich habe
dich angerufen, weil du mein Freund bist. Ich habe nicht offiziell das FBI
angerufen. Du hast nicht das Recht dazu, eine solche Entscheidung zu
treffen."
"Du aber auch nicht,
Mulder", entgegnete Jess sanft. "Das ist eine Entscheidung, die
Ellerys Eltern treffen sollten."
Mulder sah zu Boden und
seufzte. "Sie wissen es noch gar nicht", gestand er. Skinner starrte
ihn ungläubig an.
"Ihr habt es ihnen
noch nicht gesagt?" wetterte er. "Mulder, was zum Teufel...."
"Sie sind nicht in
der Stadt, Walter!" sagte Scully scharf. "Sie haben heute Nachmittag
angerufen und gefragt, ob Ellery das Wochenende hier verbringen kann, während
sie weg sind. Wir haben da angerufen, wo sie hinfahren wollten, aber vor einer
Stunde war da noch niemand zu erreichen."
"Versucht es
wieder", grummelte Skinner. "Das ist ihre Entscheidung."
Mulder wählte gehorsam die
Nummer und wurde zumindest mit Ellerys Vater verbunden.
"Adam, hier ist Fox
Mulder. Wir haben versucht, euch zu erreichen."
"Oh, hallo Mulder.
Wir sind ein bisschen spät angekommen. Ist alles in Ordnung? Ellery ist doch
nichts passiert, oder?"
Die Sorge in seiner Stimme
machte Mulder ganz klein. Wie sollte er dem Mann nur sagen, dass seine Tochter
versehentlich entführt worden war, dass die Vergangenheit von Mulders Familie
wieder einmal anderen Leuten großen Schaden zufügte?
"Ich.... ich glaube, du und deine Frau sollten besser so schnell
es geht zurück fahren", sagte er so ruhig er konnte. "Es ist etwas.... es ist etwas passiert."
"Mulder, ich werde dahin
gehen, ob's dir gefällt oder nicht, und hör auf zu diskutieren", bestand
Skinner endgültig darauf. "Ich werde dafür sorgen, dass die Verstärkung
weit weg bleibt, wie du gebeten hast, aber ich lasse dich nicht alleine in
dieser Sache."
Mulder seufzte tief,
setzte seine Brille ab und rieb sich mit den Händen sein mitgenommenes Gesicht.
Er hatte die ganze letzte Nacht nicht geschlafen—keiner von ihnen hatte das.
Adam und Carolyn Monroe waren in den frühen Morgenstunden angekommen, und die
sechs hatten die ganze Nacht diskutiert in der Hoffnung, einen Plan zu finden,
dem Mulder und Skinner zustimmten.
"Lass es mich auf
seine Weise machen, Walter", hatte Mulder verlangt. "Es ist
wichtiger, Ellery gesund wieder zu bekommen. Ich will meine zwei Millionen Dollar
nicht verlieren, aber es wird mich sicherlich nicht in den Ruin treiben. Wenn
sie den Kerl schnappen, kriege ich es wieder. Wenn nicht...." Er zuckte
mit den Schultern.
"Aber wer sagt uns,
dass er dein Geld nicht nimmt und sie trotzdem umbringt", konterte
Skinner, wobei Carolyn angefangen hatte zu weinen.
Adam umarmte seine Frau
und tröstete sie still, während sie Mulder und Skinner zusahen. Sie kannten die
Mulder-Familie seit sechs Jahren, seit ihre Töchter die besten Freundinnen
geworden sind, und Adam wusste, dass Mulder die beste Lösung finden würde. Das
Ehepaar Skinner kannten sie nicht so gut, doch sie vertrauten ihnen dennoch.
Momentan war ihm sowohl Skinners Plan, als auch Mulders Geld völlig egal—er
wollte einfach nur seine Tochter lebend wieder haben. Er vertraute darauf, dass
Mulder die Führung übernehmen würde, weil er sich in der Vergangenheit auch
immer sehr kompetent in Notfällen gezeigt hatte. Mulder war einmal beim FBI
gewesen, Dana war einmal beim FBI gewesen, Skinner war jetzt immer noch beim
FBI. Das hier war ihre Welt; Adam kannte
seine Grenzen.
"Deine Verstärkung
wird da sein und dafür sorgen, dass das nicht passiert. Sie sollen zuschlagen und den Kerl schnappen,
sobald er versucht, das Geld zu holen."
"Und was das Geld
betrifft", fuhr Skinner fort, "kannst du an einem Samstag überhaupt
so viel Geld beschaffen?" Mulders Kiefer zog sich fast unmerklich
zusammen. "Ich kann, wenn ich muss", sagte er überzeugt, doch Skinner
hatte seine Zweifel.
"Wenn ihr ihn sowieso
nicht mit dem Geld weg lasst, warum legen wir ihm nicht irgendetwas anders
dahin?" schlug Scully vor. "Stopft einen Koffer mit weißem Papier
voll oder mit etwas, das etwa genauso schwer aussieht. Unsere Einheit sollte sich ihn holen, bevor
er es überhaupt zu Gesicht bekommt."
Skinners Vorschlag, seine
Einheit in den Bäumen und Büschen um den Pavillon zu verstecken, hatte Mulder
strikt weg abgelehnt. "Wenn er sie sieht, traue ich es ihm zu, dass er
seine Drohung wahr macht", hatte er entgegnet. "Wir können keine
Risiken eingehen. Ich werde alleine hingehen."
Letzten Endes hatten sie
sich darauf geeinigt, ein Verstärkungsteam in einiger Entfernung vom
Übergabeort zu verstecken. Allerdings leider außer Sichtweite von der Laube,
denn die Anordnung des Parks machte es unmöglich, dieses Hindernis zu umgehen.
Sobald Mulder den Koffer abgestellt und sich aus dem Staub gemacht hatte, würde
die Spezialeinheit sich schnell und unbemerkt nähern und sich auf die Lauer
legen.
Skinner konnte schließlich
die Dinge zu Mulders Zufriedenheit arrangieren, aber als Mulder sah, wie
Skinner sich bereit machen wollte, protestierte er.
"Nur ich,
Walter."
"Mulder", sagte
Skinner hartnäckig und sah seine Waffe nach. "Ich weigere mich, dich da
völlig alleine hingehen zu lassen. Viel zu viele Dinge könnten schief laufen.
Ich will jetzt in den Park gehen und mich irgendwo verstecken, wo ich dich im
Auge habe. Ich bin nur ein Mann. Er wird nicht wissen, dass ich da bin."
Schließlich hatte Mulder,
weil er Skinner sowieso nicht davon abhalten konnte, widerwillig nachgegeben,
und Skinner hatte sich auf den Weg gemacht. Jess hatte ihrem Mann mit einer
Mischung aus Stolz und Angst nachgesehen; normalerweise arbeitete er an einem
gefahrlosen Schreibtischplatz, was sie begrüßte. Sie war es nicht gewöhnt zu
sehen, wie er sich in Gefahr begibt.
Scully, die relativ daran
gewöhnt war, dass ihr Mann für andere Kopf und Kragen riskierte, umarmte Mulder
fest und betete, dass Ellery morgen um diese Zeit wieder zu Hause sein würde,
der Entführer gefasst war, und sie alle wieder ihr schönes, normales,
langweiliges Leben leben konnten.
Dulexy betrat den Raum, in
dem das Mädchen gefesselt und zu Tode verängstigt in der Ecke saß. Sie sah mit
großen, angstvollen Augen zu ihm hinauf, als er näher kam. Er versuchte zu
lächeln, um ihr zu zeigen, dass sie sich nicht fürchten brauchte. Ihm gelang
lediglich eine Grimasse.
In einer Hand hielt er ein
Glas Wasser, in der anderen eine kleine weiße Tablette. Sie sah zu, wie er sich
neben sie kniete, schreckte aber zurück, als er versuchte, ihr die Tablette in
den Mund zu stecken.
"Keine Angst, kleines
Mädchen, ich werde dir nicht weh tun. Es ist nur eine Schlaftablette. Du musst
jetzt ein schönes, langes Nickerchen machen."
Als Ellery ihre Lippen
fest zusammengepresst hielt, seufzte Dulexy geduldig, setzte das Glas ab und
zwang mit beiden Händen ihre Zähne auseinander. Er warf die Tablette ihren Hals
hinunter und schüttelte den Kopf, als sie sich daran verschluckte. Er hielt ihr
das Glas an die Lippen und wartete, während sie etwa die Hälfte davon trank. Er
stellte erleichtert fest, dass sie die Tablette nach kurzem Husten ohne
Probleme zu schlucken schien.
"Ich werde dir nicht
weh tun", wiederholte er sanft. "Wenn der Vater deiner Freundin tut,
was ich will, dann wirst du heute Abend wieder zu Hause sein. Schlaf jetzt und hab keine Angst."
"Und was ist, wenn er
nicht tut, was Sie wollen?" flüsterte sie.
Er lächelte, dieses Mal
ein wirkliches Lächeln und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. "Das
wird er", versprach Dulexy.
Sie nickte, verwirrt über
die Freundlichkeit ihr gegenüber, wo sie doch erwartet hatte, dass er absolut
nicht in ihrem Interesse handelte. Er ist kein guter Mensch, rief sie sich ins
Gedächtnis, als er aus dem Zimmer ging, egal wie nett er scheint. Er hatte sie
entführt, und er hatte Emmie gewollt, damit er Geld für sie kriegen konnte. Er
hatte eine Waffe auf sie gerichtet und sie gefesselt, und er hatte ihr nicht
einmal etwas zu Essen gegeben. Wieder liefen ihr
Tränen über das Gesicht. Ellery schloss die Augen und lehnte sich zurück gegen
die Wand. Weil sie überhaupt nicht an Medikamente gewöhnt war, fiel sie schon
bald in einen tiefen Schlaf.
Dulexy beobachtete belustigt,
wie der Mann um die Büsche kroch, die an die Wiese mit dem Pavillon angrenzten.
Er war wohl auf der Suche nach einem guten Versteck. Von seinem Aussichtspunkt,
verborgen in den dicht aneinander stehenden Bäumen hatte er den Mann zu Fuß
ankommen sehen. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte eine verdächtige
Beule unter dem Ärmel des Jacketts, das er trotz der relativ warmen
Temperaturen trug.
Zuerst war er wütend
gewesen, als er ihn gesehen hatte, und war vorsichtig und so unbemerkt wie
möglich durch das Gelände gestreift in dem Glauben, dass da mehr sein könnten.
Doch soweit er das beurteilen konnte, war das nicht der Fall. Er wusste
natürlich, wer der Mann war. Es war Walter Skinner, Assistant Director des FBI
und ein guter Freund von Fox Mulder.
Zuerst hatte er sich gefragt, ob das FBI offiziell eingeschaltet worden
war -- ob er gezwungen wurde, seine Geisel zu töten—aber umsichtiges
Herumschnüffeln hatte keine weiteren Eindringlinge hervorgebracht. Skinner war
hier offensichtlich allein hergeschickt worden, um auf Mulder acht zu geben.
Das war in Ordnung. Er würde einfach dafür sorgen, dass Skinner und Mulder ihn
nicht zu fassen bekämen. Das sollte nicht allzu schwer sein, da er nun
vorgewarnt war.
Er blickte zur Seite auf
den Beifahrersitz zu dem Mädchen, das dort schlief. Nur noch ein paar Stunden,
dann würde er auf dem Weg sein, dachte er. Allerdings hatte er seinen Plan
durch Skinners Auftauchen ein klein wenig ändern müssen. Jetzt musste er,
anstatt das Geld einfach zu nehmen, nachdem Mulder weg war, ihm gegenüber
treten. Er würde dafür sorgen, dass der Mann in den Büschen keine Gelegenheit
dazu haben würde, ihn zu stellen. So
oder so, er würde mit dem Geld davon kommen können.
Ellery war bereits eine
halbe Stunde wach. Sie blieb ruhig sitzen, wie der Mann mit der Pistole ihr
befohlen hatte. Er hatte Klebeband um ihre Handgelenke gewickelt, und sie saß
mit den Händen auf ihrem Schoß. Er hatte ihr gesagt, dass sie nun bald nach
Hause gehen könne, und obwohl sie den Gedanken nicht abschütteln konnte, dass
er log, wollte sie ihm glauben. Sie wollte ihre Eltern wieder sehen. Sie wollte
Emmie sehen. Sie wollte in ihrem eigenen Zimmer schlafen, mit ihren
Kuscheltieren auf dem Bett und Postern von Ricky Martin an den Wänden. Und sie
wollte nie wieder am anderen Ende einer Waffe sein, solange sie lebte.
Der Entführer, der sie
nicht aus den Augen ließ und gleichsam die Umgebung beobachtete, regte sich
plötzlich.
"Auf geht's",
sagte er, zog sie am Arm aus dem Wagen und half ihr auf den Boden.
"Verhalte dich ruhig", grollte er an ihrem Ohr. Sie nickte. Er hielt
sie vor sich fest, ein Arm um ihre Hüften, und führte sie aus dem Wäldchen in
Richtung des Pavillons.
"Er setzt den Koffer
gerade ab", sagte Skinner über sein Handy leise zu Scully, die mit dem
Leiter des Swat-Teams im Wagen saß. "In ein paar Minuten wird er aus dem
Weg sein und die Männer können zuschlagen."
"Gleich geht's
los", informierte Scully Frank Rockway, den leitenden Officer. Dieser
nickte und bedeutete seinen Männern sich bereit zu machen.
Mulder näherte sich
vorsichtig dem Unterstand, seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf seine
Umgebung gerichtet, falls der Entführer sich in der Nähe aufhielt und ihn
beobachtete.
Er hielt die losen Zweige,
die ihm im Weg war, mit einer Hand beiseite und steckte den Koffer ganz unter
den Pavillon. Als er losließ, flippten die Zweige wieder zurück und vom Koffer
war kaum mehr etwas zu sehen. Mulder blickte sich um, sah niemanden, und erhob
sich aus der Hocke. Er wischte sich grob den Schmutz von den Hosenbeinen seiner
Jeans, drehte sich um und erstarrte. Von allen Leuten, von denen er nie
erwartet hätte, dass er sie noch einmal zu Gesicht bekommt, war dieser Mann
ganz oben auf der Liste.
"Dulexy", sagte
er mit einer Spur Sarkasmus in seiner Stimme. "Bist du ausgebrochen oder
hat dich irgend so ein armseliger Idiot frei gelassen?"
Dulexy ignorierte seinen
stichelnden Kommentar. Als Mulder einen Schritt auf ihn zu trat, drückte Dulexy
seine Pistole in Ellerys Schläfe und zischte, "Bleib da stehen."
Ellery versteifte sich und fing leise an zu weinen.
Mulder hielt sofort an,
blickte auf Ellerys zu Tode verängstigtes Gesicht.
"Bin froh zu sehen,
dass du Befehlen so gut folgen kannst, Reicher Mann", grinste Dulexy. Er
hielt Ellery vor sich, so dass ihr Körper ihm als Schutzschild diente. Sie
stand genau zwischen Skinner und einem gezielten Schuss. Die Waffe, die Dulexy
an Ellerys Kopf hielt, glänzte im hellen Mondlicht. "Halte deine Hände so,
dass ich sie sehen kann."
SCHEISSE! schrie Mulder
innerlich. Die Tatsache, dass es Justin Dulexy war, mit dem sie es hier zu tun
hatten, verkomplizierte die Sache ins Undenkbare. Mulder konnte sich gut an
Dulexy erinnern, wusste noch genau, wie ausgeliefert er sich gefühlt hatte, als
er sich in dem Griff des großen Mannes gewehrt hatte. Dulexys Arme hatten ihn
stark wie Stahl gehalten, während er fast bewusstlos geschlagen worden war.
Dieser Mann würde ihn ohne mit der Wimper zu zucken umlegen, und Ellery auch,
wenn er sich dazu gedrängt fühlte. Doch jetzt war seine beste Strategie, zu
kooperieren und zu beten, dass die Kavallerie bald eintreffe. Er zwang sich
nicht zu dem Busch herüber zu sehen, wo sich Walter versteckt hielt.
"Warum lässt du sie
nicht einfach gehen?" fragte Mulder, während er seine Arme hob. "Du
willst ihr doch nicht weh tun, oder?"
Dulexy studierte ihn für
einen Moment, auf der Hut nach Anzeichen für eine Falle.
"Sicher",
stimmte er zu und näherte sich Mulder von der Seite, bis seine Waffe auf seine
Schläfe gerichtet war. "Sie kann gehen. Im Austausch für dich. Weil wenn
da keine zwei Millionen Dollar in diesem Koffer sind, wird das jemandem
schrecklich leidtun. Wirst du das sein oder sie?" Mulder nickte und Dulexy
ließ Ellery los, während er Mulder bedachtsam zwischen sich und Skinners Waffe
hielt.
Mulder bewegte sich
langsam, um ihn nicht zu einem Angriff zu reizen und nahm Ellery bei den
Schultern. "Du musst jetzt gehen", sagte er ihr sanft und wischte die
Tränen von ihren Wangen. "Es wird alles wieder gut."
"Aber Dr.
Mulder...."
Mulder ging nicht auf sie
ein, drehte sie beiläufig in Richtung Skinners Versteck und betete, dass sie
dorthin laufen würde. "Lauf, Ellery", befahl er ihr und nach kurzem
Zögern gehorchte sie. Erleichtert sah er, dass sie genau auf Skinner zulief.
"Okay, *Dr.*
Mulder", höhnte Dulexy. "Zeig mir das Geld."
Mulder biss die Zähne
zusammen, was das einzige Zeichen seiner Nervosität war. Er hoffte, dass
Skinner eine Möglichkeit finden würde, Dulexy auszuschalten, bevor er merkte,
dass in dem Koffer nichts als unbeschriebenes Papier war.
"Du kannst immer noch
aufgeben", sagte Mulder in einem, wie er hoffte, ermutigenden Ton.
"Wir haben die Polizei nicht benachrichtigt. Wenn du jetzt in deinen Wagen
steigst und fährst, können wir dem Ganzen hier ein Ende setzen."
Dulexy stieß den Lauf
seiner Waffe zur Antwort fester gegen Mulders Schläfe, zog zur Bekräftigung an
Mulders Arm, den er hinter seinem Rücken festhielt und schubste Mulder ein
wenig nach vorne.
"Hol das Geld,
Reicher Mann", grollte Dulexy und mit einem weiteren Schlucken ging Mulder
langsam zurück dem Versteck. Dulexy achtete ständig darauf, dass Mulder vor ihm
her ging.
Mulder hoffte, sich am
Pavillon vornüber beugen zu können, um Skinner einen klaren Schuss zu geben,
doch er merkte, dass Dulexy um Skinners Versteck wissen musste, denn er hockte
sich mit ihm hin, als er den Koffer aus seinem Versteck zog.
"Mach's auf!"
befahl Dulexy grob, als Mulder zögerte und mit einem kaum hörbaren Seufzen
gehorchte Mulder.
Dulexys erwartungsvolles
Augenleuchten wandelte sich in starre Kälte.
"Du verdammtes
Arschloch!" zischte er, und bevor Mulder reagieren konnte, wurde ihm
schwarz vor den Augen, als Dulexy ihm mit voller Wucht mit der Waffe auf die
Schläfe schlug.
Skinner feuerte
augenblicklich, aber er hatte nicht bemerkt, dass er entdeckt worden war.
Dulexy ließ sich so schnell wie Mulders leblose Gestalt auf den Boden fiel,
ebenfalls fallen, so dass Skinners Schuss zu hoch ging. Skinner zielte abermals, doch er ließ seine
Waffe in der nächsten Sekunde fallen, weil Dulexy schneller war und seine Kugel
sich durch Skinners Bauch bohrte.
Laut stöhnend ging Skinner
zu Boden.
"Los!" schrie
Scully, als sie den ersten Schuss in der Stille brechen hörte. Fast
gleichzeitig knallte ein zweiter Schuss und ein schmerzhaftes Aufstöhnen drang
durch die Leitung des Handys. "Walter? Walter, was zur Hölle ist
passiert?" schrie sie ins Telefon, doch sie bekam keine Antwort.
Sekunden später hörte sie
Sirenen in der Nähe, die zusammen mit den Schreien der Eingriffstruppe die
Nacht durchbrachen.
"Macht die Sirenen
aus!" schrie Scully, worauf sie sofort ausgeschaltet wurden, doch sie
wusste, dass jegliche Taktik vermasselt worden war.
Als Dulexy die Sirenen
hörte, fluchte er und wuchtete den bewusstlosen Mulder auf seine Schultern.
Vergleichsweise schnell, wenn man seine Last auf den Schultern bedachte, warf
er Mulder in seinen Truck und setzte sich hinters Steuer. Die Reifen drehten
für einen Moment durch, bevor sie Halt fassten, als Dulexy das Gaspedal voll durchtrat.
Sekunden später waren sie auf der schmalen Straße verschwunden, bevor die
Verstärkung überhaupt auftauchte.
Skinner öffnete die Augen
und sah Ellery vor sich stehen. Sie hielt seine Waffe in ihrer Hand, die sie
auf Dulexy gerichtet hatte.
Sein schwacher Ausruf
wurde übertönt von dem ohrenbetäubenden Knall, als Ellery den Abzug durchzog.
Sie zuckte bei dem unerwarteten Rückschlag zusammen und schrie leise.
Als sie im Begriff war,
noch einmal zu feuern, sprach Skinner sie noch einmal an. "Ellery!"
Er zuckte vor Schmerz, als es ihn wie messerscharfe Klingen durchbohrte.
Benommen drehte sich
Ellery zu Skinner um.
"Hast du schon mal
mit einer Waffe geschossen?" fragte er jetzt nicht so laut, er konnte
sowieso nicht mehr schreien, selbst wenn er es für nötig betrachtet hätte.
Sie schüttelte langsam den
Kopf, als ob sie erst jetzt das Ausmaß der ganzen Situation erkennen würde.
"Dann tu's nicht. Leg
sie hin. Sie sind weg, du kannst ihm jetzt nicht mehr helfen, und du könntest
vielleicht jemanden verletzen." Seine freundlichen Worte erreichten ihr
Bewusstsein. Wie in Trance beugte sie sich vor und legte die Pistole neben ihn
auf die Erde.
"So ist es gut. Das
machst du sehr gut. Du bist eine mutige junge Frau." Er verzog das Gesicht
wieder und fragte, "Bist du in Ordnung?"
Ellery schien plötzlich
aus ihrer Trance gerissen und wurde vor seinen Augen wieder zu einem
verängstigten Teenager. Ein Riesenschluchzen schüttelte ihren Körper und sie
wischte sich mit schmutzigen Händen über das Gesicht. Ihre Hände waren immer
noch mit dem Klebeband zusammengebunden. Skinner versuchte, seine Hände zu
heben, um sie loszubinden, doch seine Gliedmaßen wollten nicht auf ihn hören.
"Es geht schon
wieder, Mr. Skinner." Jetzt bemerkte sie erst, dass er angeschossen war
und wurde von Schuldgefühlen überfallen. "Wir müssen Sie in ein
Krankenhaus bringen."
Er schaffte ein schwaches
Lächeln und kämpfte krampfhaft um sein Bewusstsein. "Scully wird gleich
hier sein", flüsterte er.
Ellery sah sich besorgt
um. Wo war Mrs. Mulder und warum dachte Skinner, dass sie kommen würde? Sie sah
überall nur Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht, aber sie war sich nicht
sicher, ob sie sie schon bemerkt hatten.
Sie schob sein zerfetztes Hemd zur Seite und besah die Wunde mit geradezu
kritischem Blick. Sie wurde ein wenig blass, aber sie machte weiter, indem sie
so gut es ging das Hemd zusammenknüllte und es auf die blutende Wunde in seinem
Bauch drückte.
"Ah", grunzte
Skinner, als sie zudrückte, denn der Schmerz loderte erneut auf.
"Sorry",
murmelte sie und änderte den Behelfsverband ein wenig, um es ihm etwas
angenehmer zu machen. "Sie bluten wirklich sehr stark."
"Wann hast du erste
Hilfe gelernt?" fragte er und versuchte, nicht nach Luft zu schnappen.
Sie grinste ein wenig und
sah ihm kurz in die Augen. "Meine Mutter ist Krankenschwester."
"Ein weiterer Schuss!
Wo sind sie?" schrie Scully frenetisch, als sie um die Ecke bogen. Sie
hatte den Schuss auch über ihr Handy gehört und wollte wissen, wer geschossen
hatte. Sie konnte Ellerys Gestalt in dem hellen Mondlicht erkennen, wie sie
sich über einen Mann am Boden beugte. Als sie näher heranfuhr erkannte sie,
dass Ellery nicht neben ihrem Mann, sondern über Skinner gebeugt war, und
Scully kletterte aus dem Polizeiwagen, um zu ihnen zu laufen.
"Wo ist Mulder?"
fragte sie, als sie sich neben Ellery kniete. "Geht es dir gut, Ellery? Wo
ist Dr. Mulder?"
"Der.... der Mann hat ihn mitgenommen", stammelte Ellery.
Scully sah, dass das Mädchen unter Schock stand. Ellery zitterte und Scully legte
ihre Arme um sie, um sie zu wärmen.
Scully sah auf und
überblickte die Umgebung, aber sie konnte nirgends eine Spur von Dulexy oder
seinem Wagen entdecken, in dem er mit ihrem Mann geflohen sein musste. Einige
der Officer der Eingreiftruppe durchkämmten die Gegend zu Fuß, während andere
versuchten festzustellen, welche der vielen Wege aus dem Park Dulexy genommen
hat.
Scully schüttelte den
Kopf, teils aus Ärger, weil Mulder sich wieder einmal in Schwierigkeiten
gebracht hatte, teils, weil sie sich die Frage stellte, wieso das Schicksal es
immer so schlecht mit ihrem Mann meinte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und
rief einen Rettungswagen.
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Ende Teil 1 von 3
(Originaltitel: FADE TO MIDNIGHT)
von TexxasRose aka. Laura Casetellano
( laurita_castellano@yahoo.com )
aus dem Englischen
übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de
>
Sylvia Stiles sah von
ihrer Kaffeetasse auf, als die Hintertür ihres Farmhauses geöffnet wurde. Sie
hatte das Haus und das angehörige Land geerbt, nachdem ihre Mutter verstorben
war. Zuerst hatte sie hier mit ihrem Ehemann Alfred gelebt und dann allein,
nachdem Alfred vor sechs Jahren gegangen war. Das Gut war schon über hundert
Jahre in ihrem Familienbesitz, und Sylvia hatte sich geschworen, in demselben
Haus zu sterben, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte.
Ihr Bruder Justin kam
gerade herein und schenkte sich wortlos einen Kaffee aus der Kanne auf der
Anrichte ein. Seit Justins Entlassung aus dem Gefängnis vor einigen Monaten,
hatten sie nur hier und da einen kargen Wortwechsel geführt, wenn sie sich hin
und wieder sahen. Sie waren sich nie sehr nahe gewesen, auch als Kinder nicht.
Sylvia war acht Jahre älter als Justin, sie hatten nichts gemeinsam und nichts,
worüber sie sich unterhalten könnten. Aber heute Morgen schien Justin irgendwie
anders zu sein.
"Wo warst du?"
fragte sie und hob ihre Tasse, um daraus zu trinken.
"Sylvie, wie würde es
dir gefallen, von hier weg zu gehen?" fragte er und die Aufregung lag eher
in seinen leuchtenden Augen als in seiner Stimme.
Sie zuckte mit den
Schultern. "Ich wohne hier schon mein ganzes Leben", sagte sie zu dem
Kaffee in ihrer Tasse. "Hab hier Wurzeln geschlagen. Hab hier viele
Erinnerungen. Un' ich seh' kein' Grund, von hier weg zu gehen."
Dulexy nahm den nächsten
Stuhl neben ihr, drehte ihn um und setzte sich verkehrt herum drauf.
"Was wäre, wenn ich
einen Ort wüsste, wo wir eine Menge Geld herkriegen könnten?" fragte er
sie und beobachtete zufrieden, wie er das Interesse seiner Schwester weckte.
Sie war immer recht knapp bei Kasse gewesen, das wusste er, nachdem das
Arschloch von ihrem Ehemann sie wegen dieser Schlampe von Verkäuferin unten im
Haushaltswarengeschäft verlassen hatte.
"Drei Millionen
Dollar", sagte er betont.
Sylvia verschluckte sich
an ihrem Kaffee und hustete. Sie faltete die Hände auf ihrem Schoß und wartete,
bis er weiter sprach.
"Ich habe etwas, das
uns die drei Millionen Dollar beschaffen könnte", bekräftigte er und sah,
wie sie nachdenklich wurde. "Ich brauche nur ein bisschen Hilfe von
dir."
"Was soll ich
machen?" fragte sie nach einem Augenblick. Wenn Justin sie um etwas bat,
war es nie einfach. Er war schon immer jemand mit hohen Anforderungen gewesen,
und mit den Jahren war es sogar noch mehr als das geworden—es war zu etwas
geworden, dass immens erschreckend war, je älter er wurde. Er war ein
groß-gewachsener Junge mit kräftiger Statur gewesen. Als er siebzehn war, hatte
er einen Mann mit bloßen Fäusten zu Tode geprügelt. Nach dreißig Jahren
Gefängnis war er entlassen worden und soweit Sylvia wusste, hatte er sich nur
zum Schlechten hin geändert.
Dulexy stand auf und hielt
ihr seine Hand hin.
"Komm mit",
sagte er und sie folgte ihm trotz ihres unguten Gefühls.
Sie stiegen in Justins
Truck, einen sechzehn Jahre alten Ford, den er nach seiner Entlassung Gott weiß
woher hatte. Sylvia war überrascht, als er den Wagen wieder in Richtung ihrer
Farm lenkte, nachdem er ein ganzes Stück auf dem Feldweg, der von der Farm weg
führte, gefahren war. Er nahm einen selten benutzen Pfad, der kaum breit genug
für seinen Truck war.
"Wohin fahren
wir?" fragte sie und hielt sich am Türgriff fest, weil der Pickup ziemlich
auf dem holprigen Weg ins Schaukeln geriet.
"Zu Großmutters und
Großvaters altem Haus", sagte er gerissen mit einem Seitenblick. Er wusste
nicht genau, wie Sylvia auf die Neuigkeiten reagieren würde, dass er jemanden
für Lösegeld entführt hatte und ihn auf ihrem Land versteckt hielt. Aber er
hatte sowieso schon geplant, die Alte wegzusperren, wenn sie ihm quer kam. Sie
hatte ihm in letzter Zeit ohnehin immer nur Probleme gemacht. Als er nach seiner
Entlassung aus dem Knast auf ihrer Türschwelle aufgetaucht war, hatte sie ihm
etwas Geld gegeben und ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Sie hatte
ihn nur während des letzten Monats soweit akzeptiert, dass er ihr Haus betreten
durfte. Aber so gut und mächtig sie auch tat, überlegte er, sie war auch keine
Heilige. Er hatte herausgefunden, dass sie nicht eine einzige Steuererklärung
gemacht hatte, seit Alfred die Fliege gemacht hatte. Die alte Schreckschraube
wusste bestimmt nicht mal wie man so etwas macht.
Dulexy hielt den Wagen vor
dem kleinen, baufälligen Farmhaus an, das einmal der Stolz ihres ganzen
Besitzes gewesen war. Sein Urgroßvater hatte das Haus vor der Jahrhundertwende
bauen lassen, und während Dulexys gesamter Kindheit war dies das Haus gewesen,
in dem seine Großeltern mütterlicherseits gelebt hatten. Als seine Eltern
geheiratet hatten, hatte sein alter Großvater seiner Tochter ein weiteres Haus eine halbe Meile weit weg gebaut. Teils als
Hochzeitsgeschenk, teils um seine Tochter in der Nähe zu wissen. Anne Conklin
Dulexy war die Lieblingstochter ihres Vaters gewesen, mehr noch als die meisten
Leute wussten. So viel, dass Justin sich manchmal fragte, wer eigentlich sein
biologischer Vater war. Anne und ihr Vater waren sich *so* nahe gewesen.
Selbstverständlich war das ein gut behütetes Geheimnis der Familie, das niemals
zur Sprache kam und dem augenblicklich mit eisiger Wortlosigkeit begegnet
wurde, wagte es ein Familienmitglied anzusprechen. Aber Justin wusste Bescheid.
Es gehörte nicht viel dazu, und als er erst einmal das Teenageralter erreicht
hatte, hatte er kapiert, was die Blicke wirklich aussagten, die sein Großvater
seiner Mutter immer zuwarf. Nachdem Justins Vater, James Dulexy, bei einem
Arbeitsunfall ums Leben gekommen war, (bei dem sich der damals vierzehnjährige
Justin übrigens gefragt hatte, ob sein Großvater nicht seine Hand im Spiel
gehabt hatte), haben sich Anne und ihr Vater sogar noch näher verbündet.
Leider war der alte Mann mit
der Zeit der Ansicht, dass seine jahrelangen alkoholischen Exzesse ihm endlich
zusetzten, und er wurde eines Morgens tot in seiner Scheune aufgefunden, auf
einen Heuhaufen geworfen, eine leere Whiskyflasche locker in seiner Hand
hängend. Nicht lange danach musste Anne ihre Mutter einem Altersheim übergeben,
und die Familie war sehr knapp bei Kasse. Justin war dreiundzwanzig gewesen und
schon im Gefängnis, als seine Mutter an Lungenkrebs gestorben war. Zu der Zeit
war die Farm bereits in den Ruin gegangen. Sylvia hatte weiter in dem Haus
gewohnt, dass ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und 'Großmutters und
Großvaters Haus' stand leer. Es lag verlassen und den Launen der Natur
ausgesetzt auf dem Land.
"Was machen wir hier,
Justin?" fragte Sylvia misstrauisch, als sie aufmerksam die Treppen zur
Haustür hinaufstieg. Sie war schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen, und es
war ersichtlich, dass das Haus stellenweise schon zusammenfiel. Die vordere
Veranda sackte schon gefährlich in sich zusammen, und eine der fünf Treppen war
total zerfallen.
"Ich will dir was
zeigen", antwortete er und hielt ihren Arm fest, um sie zu stützen, als
sie ausrutschte. "Komm mit. Drinnen ist der Boden stabiler."
Sylvia folgte ihm in das
Zimmer, das das Schlafzimmer ihrer Großeltern gewesen war. Es lag direkt
gegenüber dem Wohnzimmer, durch das sie das Haus betreten hatten, auf der
anderen Seite der Diele. Der Großteil der Möbel und persönlichen Gegenstände
waren schon vor vielen Jahren aus dem Haus entfernt worden, aber jetzt gab es
immer noch das ein oder andere hier und da. Der große Lehnstuhl seines
Großvaters stand immer noch auf seinem Platz, ganz allein in dem Wohnzimmer.
Sylvia bekam eine Gänsehaut, als sie ihn entdeckte. Eine vage Erinnerung, wie
sie als kleines Mädchen auf dem Schoß ihres Großvaters gesessen hatte, dessen
Hand unter ihrem Kleid, flackerte durch ihr Gedächtnis. Anne war nicht die
einzige Conklin Nachkomme gewesen, mit der ihr Großvater intim gewesen war.
Als sie das Schlafzimmer
betraten, blieb sie stehen, erschrocken über den Anblick, der sich ihr bot. Ein
Mann, anscheinend etwas älter als Justin, aber kleiner als er, saß gefesselt
auf dem Boden vor ihr. Seine Arme wurden hinter seinem Rücken streng mit einem
Seil zurück gehalten und sein Kopf fiel vornüber auf seine Brust. Sylvia konnte
das trockene Blut sehen, dass die grauenden Haare des Mannes verklebten. Es war
über sein Gesicht zu seinem Mund gesickert und die jetzt trockene Kruste
verlieh ihm eine clownähnliche Maske. Mit aufgerissenen Augen wandte sie sich
zu ihrem Bruder.
"Wer ist das?"
fragte sie eingeschüchtert.
Dulexy grinste. "Ein
alter Freund von mir aus dem Knast", erklärte er und beobachtete sie, um
ihre Reaktion zu erfassen.
"Er sieht mir gar
nicht wie ein ehemaliger Sträfling aus."
Er schnaubte. "Na
logisch nicht, Sylvia. Er ist ja auch schon zehn Jahre draußen."
Jetzt lachte Dulexy aus
vollem Hals. "Nicht wirklich. Lass es mich einfach so sagen: wir haben uns
wieder getroffen. Der Punkt ist, Sylvie, dass er stinkreich ist. Millionen. Und
wenn wir unsere Karten gut ausspielen, können einige dieser Millionen uns
gehören."
Mulder, der Dulexys Lachen
durch den Nebel in seinem Gehirn mitbekam, regte sich und stöhnte leise.
"Justin....
Kidnapping?" Erschrocken sah sie ihn an. "Dafür gehst du wieder in
den Bau!"
Dulexys Geduld hing an
einem seidenen Faden. Wenn er das durchziehen wollte, würde er ihre Hilfe
brauchen.
"Sylvia, so lange du
dicht hältst, werde ich nirgendwo hingehen. Außer vielleicht nach Kalifornien,
wenn ich das Geld von Mr. Millionär hier habe."
"Dich ruhig
verhalten", antwortete er prompt. "Alles, was du tun musst, ist die
Klappe halten. Wenn die Polizei kommt und dumme Fragen stellt, kooperiere mit
ihnen, aber denk dran—du weißt von nichts. Und du musst überzeugend sein. Gib
ihnen keinen Grund, Haus und Hof zu durchsuchen."
Sie nickte. Sie hoffte,
dass ihre schauspielerischen Fähigkeiten gut genug waren, um das durchzuziehen.
Ihr Blick fiel wieder auf den Mann am Boden.
Mulder stöhnte wieder und
versuchte, seinen Kopf zu heben. Als Dulexy sah, wie seine Schwester begann,
sich Sorgen um ihn zu machen, musste er schnell nachdenken. Sein Plan
beinhaltete keineswegs, dass Sylvie diesen Hundesohn auf welche Art auch immer
verwöhnt. Wenn sie erst einmal die Gelegenheit dazu bekäme, würde sie seine
Wunden versorgen und ihm etwas zu essen geben wollen. Aber da hatte Dulexy
andere Vorstellungen.
"Er ist der Grund,
warum ich in dem einen Jahr so lange in Einzelhaft musste, Sylvie", sagte
er in seinem besten Kleiner-Bruder-Ton. Er wusste, dass man Sylvia gesagt
hatte, dass er wochenlang ohne Gesellschaft in einer Zelle hocken musste,
nachdem er einem Wärter geholfen hatte, Mulder zusammenzuschlagen. Er hatte den
kleineren Mann festgehalten, der in seinem stählernen Griff völlig wehrlos
gewesen war, während der Wärter ihn mit einem Stahlrohr bearbeitet hatte. Wenn
damals alles nach Plan gegangen wäre, wäre Mulder jetzt tot und Dulexy um 500
Dollar reicher. Aber sie waren unterbrochen worden, bevor sie es beenden
konnten.
Sylvia starrte Justin an,
dann wieder Mulder. Dann ging sie entschlossen rüber zu Mulder und trat den am
Bett gefesselten Mann gehörig in die Rippen, so dass er wieder in
Bewusstlosigkeit verfiel. Egal, wie ungefährlich der Mann aussah, Familie war
Familie, und wenn ihr Gefangener der Grund für Justins lange Zeit in
Einzelhaft, dann war er auch ihr Feind.
Mulder öffnete langsam die
Augen. Irgendetwas stimmte nicht, aber er konnte es nicht so richtig erfassen.
Sein Hals fühlte sich an wie Sandpapier, als er schluckte. Als er sich umsehen
wollte, ergriff ihn eine plötzliche Welle von Übelkeit und Schmerz, die ihm
jegliche weitere Bewegung untersagten. Also sah er sich um ohne den Kopf zu
bewegen.
Er war in einem spärlich
möblierten Schlafzimmer, das modrig und staubig roch, so dass er annahm, dass
es schon sehr lange nicht mehr benutzt worden war. Ein riesiges Bettgestell
stand in der Mitte des Zimmers, dessen feines Holz schon vor Ewigkeiten durch
den Regen, der zweifellos durch die kaputten Fenster eindringen konnte,
ruiniert worden war. Auf dem Gestell lag immer noch eine Matratze und ein
Lattenrost und Mulder fragte sich, ob Mäuse darin nisteten. Es sah aus wie ein
schönes Plätzchen für Mäuse.
Er bewegte den Kopf, um
den Nebel um ihn herum zu lichten und biss sich auf die Lippe, um ein Stöhnen
zu unterdrücken. Irgendjemand hatte eine Kanonenkugel in seinen Kopf geschossen,
als er weg gewesen war, grübelte er. Er sollte sich besser langsam und
vorsichtig bewegen, wenn er sich nicht die Seele aus dem Leib kotzen wollte. Er
war außerdem in die Rippen geschlagen oder getreten worden, denn seine linke
Seite fühlte sich danach an und das Atmen tat verdammt weh. Er kämpfte gegen
das Übelkeitsgefühl an und atmete langsam und tief durch, bis er zuversichtlich
war, dass der spärliche Inhalt seines Magens auch dort bleiben würde. Zumindest
fürs erste.
Er untersuchte seine Lage
weiter und stellte fest, dass die Schmerzen in seinem Kopf und Rippen nicht das
einzige war, das man ihm angetan hatte. Es war bloß das, was ihm am ehesten
auffiel. Seine Arme waren fest auf seinem Rücken an eines der schweren Füße des
Bettes gefesselt und er saß, seine Füße ebenfalls zusammengebunden, auf dem
kalten Boden. Er hatte keinen Knebel im Mund, was ihn zu der Annahme brachte,
dass wahrscheinlich niemand in der Nähe war, den er um Hilfe anrufen könnte.
Um einiges langsamer
bemühte er sich noch einmal, seinen Kopf zu heben und versuchte, aus dem nächst
gelegenen Fenster zu gucken. Doch das Fenster war zu
hoch für seine Position, so konnte er nichts weiter als bloßes Feld und die
Kronen einiger Bäume draußen sehen, die keine zweihundert Meter weit weg
standen. Er sah kein Lebenszeichen und als er angestrengt lauschte, hörte er
nichts weiter als Vogelgezwitscher.
Er setzte sich wieder
zurück an das Bett und versuchte, etwas von der Spannung in seinen Schultern zu
lösen und sein benebeltes Gehirn zum Nachdenken zu bewegen, um aus dieser
misslichen Lage herauszukommen.
Sie hatten versucht, den
Kidnapper, der sich obendrein als Justin Dulexy entpuppt hatte, zu täuschen.
Mit einem Seufzen fragte sich Mulder, ob ihn seine Vergangenheit jemals in Ruhe
lassen würde. Skinner war da gewesen; konnte er fliehen? Und, was noch
wichtiger war, war Ellery in Sicherheit?
Wenn Skinner den Verdächtigen festgenommen hätte, wäre er jetzt
sicherlich nicht in dieser Zwickmühle. Also lag es nahe, dass Skinner verletzt
worden war. Oder schlimmer. Mulder dachte diesen Gedanken gar nicht erst zu
Ende, bevor er ihn verdrängte. Wenn Walter getötet worden wäre, und er es
irgendwie geschafft hatte zu überleben, würde Jess Skinner ihn Stück für Stück
auseinandernehmen, bis nichts mehr an ihm übrig war. Das wusste er ohne
Zweifel. Jess war ohnehin bestimmt schon stocksauer auf ihn, weil er Walter in
diesen ganzen Mist verwickelt hatte. Wenn Skinner es lebend da raus geschafft
hatte, bestand die Möglichkeit, dass man ihn retten würde. Aber wenn
nicht—Dulexy hatte gesagt, dass jemand dafür büßen würde, wenn er sein Geld
nicht bekam. Wie sehr würde Dulexy ihn quälen wollen? Und würde er Mulder frei
lassen, wenn Scully zahlte, oder war er jetzt wirklich am Ende seiner Straße
angelangt? Als das Hämmern in seiner
Seite und seinem Kopf nicht aufhören wollte, stellte Mulder sich die Frage, wie
er sich entscheiden würde, wenn er die Wahl hätte.
Mulder wusste nicht, wie
lange er da schon saß. Er streckte sich unbehaglich, bevor er Schritte näher
kommen hörte. Vorsichtig drehte er seinen Kopf zur Tür und wartete auf seinen
Geiselnehmer.
Dulexy hatte stundenlang
über sein großes Glück nachgedacht. Alles in allem, sagte er sich, hielt er
sich für einen guten Typen. Er hatte dem Mädchen nie weh tun wollen, selbst als
es sich heraus gestellt hatte, dass sie die falsche war. Er wollte nur sein
Lösegeld und er hätte sie unversehrt gehen lassen. Aber jetzt seinen alten
Knastkumpel zu haben, stand auf einem ganz anderen Blatt. Fox Mulder war Dulexy
mit seinen Klugscheißer-Sprüchen, Agentengetue und seiner nervtötenden Art
immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Jetzt sah Dulexy seine Chance, auch einen
Treffer zu landen. Er wollte das Geld immer noch, und er würde es auch verdammt
noch mal bekommen, aber die Gelegenheit, ein wenig Spaß mit seinem Preis zu
haben war zu gut, um sie verstreichen zu lassen.
Jetzt näherte er sich dem
Schlafzimmer. Mulder war wahrscheinlich inzwischen wach geworden und wunderte
sich, wo er gelandet war. Dulexy hörte gedämpftes Ächzen aus dem Zimmer, wo
sein Gefangener lag und er grinste in sich hinein. Mr. Reich-oh-so-toll-Mulder
hatte keine Ahnung, welche Wendung sein Leben jetzt nehmen würde.
"Dulexy",
raspelte Mulders Stimme, als der große Mann im Türrahmen stand. "Wie schön, dich nach all den Jahren
wiederzusehen. Wir sollten uns mal zum Mittagessen treffen."
Dulexys Grinsen wurde
breiter und er ging zum Fenster. Ohne ein Wort zu verlieren riss er die
metallene Gardinenstange herunter, entfernte die modernden Fetzen, die noch daran
hingen und drehte sich zu Mulder um. Ohne Vorwarnung schlug er ihm mit voller
Wucht mit der Stange in den Bauch.
Es hätte vielleicht nicht
so weh getan, wenn seine Rippen nicht schon vorher einen abbekommen hätten,
aber so brannte der Schlag wie Feuer.
"Oof", machte Mulder und schnappte nach Luft. Er wartete auf
den nächsten Schlag, doch der kam nicht.
"Ich wollte schon
immer mit deinem Klugscheißer-Arsch den Boden wischen, Mulder", sagte
Dulexy. "Sieht aus, als ob ich jetzt dazu komme."
"Ich dachte, du bist
hinter meinem Geld her". Mulder versuchte seine Stimme standhaft zu
halten, aber er bekam immer mehr Angst. Wenn Skinner oder Scully nicht bald
kämen und ihn hier rausschaffen würden, könnte niemand sagen, was Dulexy alles
mit ihm machen würde. //Ich bin zu alt für so was// flüsterte sein
Unterbewusstsein. //Zu alt um den Launen eines Verrückten ausgeliefert zu
sein.//
Dulexy lachte. "Oh,
aber ich will das Geld ja. Viel davon. Die Nachfrage ist sogar noch gestiegen.
Ich bin mir sicher, dass deine kleine Frau für dich mehr zahlen möchte."
Er platzierte ein Ende der Stange an Mulders Hals und fuhr langsam damit an
seinem Körper herunter. "Ich glaube, dass sie es in bar bereithalten wird,
um dich zurückzukriegen.... was denkst du, hm?"
Mulder verzog innerlich
das Gesicht, als die Stange seinen Unterleib erreichte, äußerlich aber ließ er
sich nichts anmerken. Plötzlich durchfuhr es ihn wie der Blitz, als Dulexy das
Metall in seinen Schritt bohrte.
"Ich habe dich
gefragt, wie du darüber denkst", zischte Dulexy und Mulder kämpfte um
seine Selbstkontrolle.
"Ich denke, dass du
mich besser unversehrt wieder zurück bringst, du elender Hurensohn, oder sie
reißt dir den Sack ab und steckt ihn dir in den Arsch", brachte er hervor.
Dulexy schwang die Stange und prügelte einmal dermaßen auf Mulders Magen ein,
dass es ihm den Atem raubte.
"Wenn ich mit dir
fertig bin, wirst du dir deine schlauen Sprüche schenken, Arschloch",
hörte Mulder ihn im Schmerzenstaumel grollen.
Mulder antwortete nicht,
er was zu sehr damit beschäftigt, krampfhaft Luft zu bekommen. Dulexy schmiss
die Stange in eine Ecke und ging. Als er weg war, bearbeitete Mulder frenetisch
die Knoten, die ihn fest hielten. Er drehte seine Hände hin und her in dem
Versuch sie soweit zu lösen, dass er sich befreien konnte. Es wurde immer
klarer, dass er die Begegnung mit diesem Teil seiner Vergangenheit
wahrscheinlich nicht überleben würde.
Scully steckte ihren Kopf
in Skinners Krankenhauszimmer. Jess döste neben ihm auf dem einzigen Stuhl in dem
Raum, ihr dunkles Haar fiel in Wellen auf die Kopfstütze.
"Jess?" fragte
Scully leise und berührte sie am Arm. Jess wachte auf und rieb sich schläfrig
die Augen.
"Hi, Dana",
sagte sie gähnend.
"Es tut mir Leid,
dich zu wecken."
Jess schüttelte den Kopf.
"Ist nicht schlimm, ich schlafe schon eine ganze Weile."
Ein kleines Lächeln
huschte über Jess' Gesicht, nur um gleich darauf von Sorgenfalten ersetzt zu
werden. "Nicht schlecht", sagte sie. "Die Ärzte sagen, dass er
es schaffen wird, aber ich mache mir ein wenig Sorgen, weil er noch nicht
aufgewacht ist."
"Das ist ganz normal,
Jess. Er ist schwer getroffen worden, und mit den Medikamenten, die er zusammen
mit den Schmerzmitteln bekommen hat, wird er wahrscheinlich noch einige Stunden
schlafen."
Jess lächelte diesmal
wirklich. "Ich weiß, Dana. Es ist nur.... sehr
schwer zu warten."
Scully umarmte die Frau
kurz, wobei sie Jess die Umarmung schutzsuchend erwidern fühlte.
"Ich habe ein paar
Neuigkeiten", sagte Scully, als sie los ließ. "Ellery konnte den
Entführer auf Fotos wiedererkennen."
Jess' Augenbrauen schossen
fragend in die Höhe.
"Es ist jemand, der
Mulder aus dem Gefängnis kennt. Er hat mit ihm für kurze Zeit eine Zelle
geteilt."
Jess schüttelte den Kopf.
"Was glaubst du wird er tun?" fragte sie. "Wird er
Mulder...."
Scully sah ernst aus.
"Ich muss ihn finden, Jess, und zwar bald. Dieser Mann, Justin Dulexy, er
ist nicht einfach nur ein Zellengenosse von Mulder gewesen." Sie hielt
einen Moment inne und kämpfte gegen die schreckliche Bedeutung ihrer nächsten
Worte. "Es ist der Mann, der ihn fest gehalten hatte, als der Wärter ihn
verprügelt hat. Dieser Mann hatte schon einmal bei einem Mordversuch an Mulder
geholfen. Ich fürchte, dass...."
Sie biss sich auf die Lippe. "Die Polizei will die Sache auf ihre
Art lösen, aber ich fürchte, dass sie ihn nur wütender machen werden, und dass
Mulder dafür bezahlen muss."
Jess sah zu ihrem
schlafenden Mann herüber. "Gibt es jemandem beim FBI, an den du dich
wenden kannst, Dana?" fragte sie langsam. "Jemand, der dir helfen
kann?"
Scully seufzte. "Ich
weiß nicht, Jess. Vielleicht kann ich ein wenig recherchieren und versuchen,
etwas Hilfreiches zu finden, aber ohne die Quellen des FBI zu meiner Verfügung.... wie auch immer, ich werde mich gleich mal umsehen. Ich
wollte nur eben nach euch beiden sehen."
Jess lächelte müde.
"Es geht uns gut", versicherte sie ihrer Freundin. "Mein Mann lebt Gott sei Dank noch. Geh
jetzt und versuche deinen zu finden, bevor es zu spät ist."
Scully nickte, umarmte
Jess noch einmal freundschaftlich und verließ das Krankenhaus. Ihr erstes Ziel
war die nächste Bücherei, um nach alten Zeitungsartikeln zu suchen.
Zwei Stunden später lehnte
sich Scully gähnend auf ihrem Stuhl zurück und streckte ihre eingeschlafenen
Glieder. Sylvia Styles. Justin Dulexy, dessen Entlassung aus dem Gefängnis ein
kleiner Artikel in der Lokalzeitung gewidmet war, hatte eine Schwester namens
Sylvia Styles, die immer noch hier in der Gegend lebte. Scully brauchte nur ein
paar Minuten, um ein Telefonbuch zu finden und die Adresse der Frau ausfindig
zu machen.
Es brauchte allerdings ein
wenig länger, um das Gut der Styles zu finden, das weit draußen in einer
ländlichen Gegend zwanzig Meilen von der nächsten Stadt entfernt lag. Als sie
an dem Haus ankam, von dem sie sich relativ sicher war, dass es das richtig
war, parkte sie ihren Wagen und sah sich aufmerksam um, bevor sie ausstieg. Das
Haus war alt und ungepflegt, aber die Wiese war gemäht und jemand hatte ein
Blumenbeet neben der durchgebogenen Treppe zur Veranda gepflanzt. Es sah aus,
als ob die Anwohner zumindest versuchten, es schön auszusehen lassen. Scully
fragte sich, ob Mrs. Styles einen Ehemann hatte, der ihr bei der Arbeit half.
Sie wurde gesehen, bevor
sie überhaupt die Veranda erreicht hatte. Eine Frau in einem verblichenen
Hauskleid und Sandalen stand vor ihr. Sie erschien sauber und ordentlich, wenn
auch arm, und Scully fiel das Paradoxon auf zwischen dem heruntergekommenen
Besitz und dem offensichtlich vergeblichen Versuch, dem verwahrlosten
Grundstück entgegenzuwirken.
"Ms. Styles?"
fragte sie vorsichtig. Sie wusste nicht ob die Frau sie freundlich empfangen
oder weglaufen würde.
"Mein Name ist Dana
Mulder. Ich würde gerne ein paar Minuten mit Ihnen sprechen."
"Mulder?" Der
Name erregte offenbar die Aufmerksamkeit der Frau. Scullys Herz hüpfte. Es
sackte aber einen Moment später wieder zusammen, als die Frau fortfuhr.
"Die Polizei war heute Morgen schon wegen Mr. Mulder hier. Sie haben gesagt, dass mein Bruder ihn
vielleicht entführt hat."
"Haben Sie mit der
Polizei gesprochen, Ma'am?" fragte Scully höflich, und schrie die Frau
innerlich an, sie solle ihr endlich sagen, wo sie ihn finden könnte.
"Klar hab' ich mit
denen gesprochen. Hab' denen aber nix sagen können."
"Haben Sie ihren
Bruder gesehen, seit er aus dem Gefängnis entlassen wurde?"
Sylvia zuckte die
Schultern. "Er kommt und geht. Meistens ist er weg. Ich hab' ihn schon 'ne
ganze Weile nich' mehr gesehen." Sie trat ein wenig näher zu Scully und
betrachtete sie genau. Sie bemerkte die tiefen Ringe und den Augen der jüngeren
Frau und die Sorgenfalten um ihren Mund. "Dieser Mulder....
ist er ihr Mann?"
Scully nickte traurig.
"Ja, das ist er. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Bruder ihn
letzte Nacht entführt hat. Ich habe gehofft, dass...."
Sylvia nickte
verständnisvoll. "Ich weiß, Sie haben gehofft, dass ich Ihnen helfen kann,
ihn zu finden. Tja, es tut mir Leid um Ihren Mann, aber ich fürchte ich kann
Ihnen nicht helfen."
Scully drehte kurz ihr
Gesicht zur Seite und biss die Tränen zurück, die drohten ausbrechen zu wollen.
Sie hatte solche Hoffnungen in diesen Besuch gesetzt. Mit einem zitternden
Seufzen bedankte sie sich. "Vielen Dank, Ms. Styles. Es war nett, dass Sie
mit mir gesprochen haben."
Scully blickte sich um,
während Sie das sagte, und als ihr Blick auf eine alte Scheune nicht weit von
dem Haus entfernt traf, schöpfte sie neue Hoffnung.
"Ist es möglich, dass
sich Ihr Bruder vielleicht ohne Ihr Wissen hier auf ihrem Grundstück
versteckt?" wagte sie sich vor.
Sylvia folgte Scullys
Blick und entblößte zwei Reihen gelber und krummer, aber intakter Zähne.
"Sie glauben, dass Justin Ihren Mann vielleicht in meiner Scheune
versteckt?"
Scully erwiderte nichts
darauf, hielt aber dem Blick der Frau mit flehenden Augen stand.
Sylvia zuckte wieder die
Schultern. "Okay, kommen Sie mit, wir können ja mal nachsehen",
schlug sie vor und machte sich in die Richtung auf. "Wissen Sie, es ist
lustig, dass sie das ansprechen", gab sie zu, als sie auf die klapprige
Hütte zugingen. "Die Polizei hat heute morgen
nich' mal gefragt, ob sie sich umsehen kann. Sie ham mich nur gefragt, ob ich
weiß, wo Justin is. Dann sind se gegangen."
Scully presste die Lippen
zusammen. Das waren unvollständige Ermittlungen, doch sie rief sich streng zur
Ordnung. Sie hatte schließlich keine Befugnis mehr zu tun, was sie gerade tat.
Walter war ausgefallen und sie waren der Gnade der örtlichen Vollzugsbeamten
ausgeliefert.
Die beiden erreichten die
Scheune und Sylvia hob den schweren Holzriegel, der die Türen verschlossen
hielt. Eine Tür hing schief in den Angeln und quietschte laut, als sie sie
aufmachten.
"Ich verwende das
hier jetzt nur als Lagerraum", sagte Sylvia. "Ich habe schon seit
Jahren kein Vieh mehr."
Scully sah auf die
aufgestapelten Kisten und kaputten Möbelstücke, die in dem kleinen Gebäude
herumlagen. "Darf ich mich hier ein wenig umsehen?" fragte sie und
Sylvia nickte in Zustimmung.
Scully lugte in alle
möglichen Ecken und Winkel, stieg vorsichtig die Leiter zum Heuboden auf, wobei
sie auf die fehlenden oder locker sitzenden Sprossen achtete. Eine dicke
Staubschicht bedeckte alles dort oben. Allem Anschein nach war hier schon lange
niemand mehr gewesen. Enttäuscht stieg sie die Leiter wieder hinab.
"Zufrieden?"
fragte Sylvia nicht unfreundlich, und Scully nickte.
"Danke, dass ich mich
umsehen konnte", sagte sie und streckte freundlich ihre Hand aus. Sylvia
sah sie für einen Moment komisch an, nahm dann aber ihre Hand und drückte sie.
"Ihr Mann... kannte
er Justin im Gefängnis?" fragte sie neugierig.
"Ja."
"Das is lustig. Sie
sehen gar nich' aus wie die Frau eines ehemaligen Sträflings."
Scullys Schultern sackten
in sich zusammen. "Mein Mann wurde fälschlicherweise des Mordes
überführt", erklärte sie. "Er wurde frei gelassen, als der wirkliche
Mörder gefasst wurde." //Aber nicht bevor Ihr Bruder ihn fast umgebracht
hatte!// schrie sie innerlich, aber sie schaffte es, sich nichts anmerken zu
lassen. Sie konnte es sich nicht leisten, sich die Frau zur Feindin zu machen.
Scully blieb neben der
Veranda stehen und bevor Sylvia die Treppe wieder hochgehen konnte, holte sie
ihre Visitenkarte aus der Tasche. "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Ma'am,
das ist meine Handynummer. Könnten Sie.... mich anrufen, wenn Sie irgendetwas sehen oder
hören?"
Sylvia nahm die Karte und
las sie. Dann steckte sie sie in die Tasche ihres Kleides.
"Natürlich", bestätigte sie und sah zu, wie Scully über den Hof
zurück zur Auffahrt ging.
"Ich hoffe, Sie
finden Ihren Mann gesund wieder", rief Sylvia ihr nach, als Scully in
ihren Wagen stieg. Scully nickte ihr dankend zu, fuhr rückwärts aus der
Einfahrt und schlug den Weg nach Hause ein. Sie musste einen anderen Weg finden
zu ermitteln, und zwar bald.
Sylvia sah wieder auf die
Karte, als sie hineinging. Die Frau schien sehr nett zu sein. Nur wenige Leute
nannten sie heutzutage noch ohne einen sarkastischen Unterton 'Ma'am'. Wenn sie
ehrlich war, mochte sie die Frau von Justins Gefangenem sogar. Sehr. Sie dachte
über ein Versteck für das Kärtchen nach. Sie öffnete eine der Schubladen in der
Küche und legte es unter den Besteckkasten. Sie wollte Justin nicht verraten,
konnte die Karte andererseits aber auch nicht einfach so weg werfen. Justin
hatte sie gebeten, kein Wort über den Mann zu verlieren, den er versteckt hielt
und über die Tatsache, dass es ein weiteres Haus, von der Straße nicht zu sehen
und von vielen der hier lebenden Leute vergessen, auf ihrem Grundstück gab. Und das hatte Sylvia getan. Es reicht nicht
aus, um deine Möglichkeiten auszuschöpfen, sagte sie zu sich und widmete sich
wieder dem Fernsehprogramm. Besonders wenn man es mit Leuten wie Justin Dulexy
zu tun hat.
Mulder rutschte soweit es
ging hin und her und versuchte zu ignorieren, dass seine Blase ihm
ununterbrochen zusetzte. Er hatte schrecklichen Hunger und noch schlimmeren
Durst. Er musste schon über zwölf Stunden hier sitzen, und es war immer noch
keine Rettung in Sicht. Er hatte versucht, die Seile, mit denen seine Hände
zusammengehalten wurden, loszubekommen, doch es hatte ihm nichts als blutige
Handgelenke eingebracht. Einmal hatte er den Eindruck gehabt, dass die Knoten
ein wenig nachgaben, doch das war wohl nur Einbildung gewesen.
Dulexy war nur noch einmal
zu ihm zurück gekommen. Er hatte Bier aus der Dose getrunken und Mulder hatte
sich die Lippen vor Durst geleckt. Wasser wäre natürlich besser, aber in dem
Moment wäre ihm alles recht gewesen. Andererseits, dachte er mit Hinblick auf
seine volle Blase, wäre Flüssigkeit nicht unbedingt eine gute Idee.
Er hatte Dulexy sogar
gebeten, ihn loszumachen, damit er auf Toilette gehen konnte, doch der hatte
ihn nur frech angegrinst.
"Mach dir eben in die
Hosen", hatte er knapp geantwortet, bevor er wieder verschwunden war.
Mulder überlegte, ob er es letztendlich nicht einfach tun sollte.
Seine Muskeln taten
unsäglich weh, seinem Bauch, wo Dulexy ihn getroffen hatte, ging es auch nicht besser,
was die Blasen-Angelegenheit nicht gerade erleichterte. Mulder begann sich zu
fragen, wie lange er es aushalten konnte, bevor Scully und Skinner endlich
ankamen. Er war nicht mehr der Jüngste, sagte er sich, und obwohl er immer noch
gut in Form war, konnte ein einundfünfzig-jähriger Körper nur tolerieren, was
ein einundfünfzig-jähriger Körper aushalten konnte.
Er schloss die Augen und
betete, dass er bald erlöst werden würde. Nicht lange und er fiel in einen
ruhelosen Schlaf.
Sie riss das Telefon beim
ersten Klingeln von der Basis.
"Ja?" bellte
sie.
Dulexy lachte. Seine
Verzögerungstaktik hatte offensichtlich seine Wirkung -- das Miststück war
wütend.
"Ich habe ihn."
Er hörte sie für einige
Sekunden schwer atmen.
"Ist er verletzt?"
Dulexy grinste in sich
hinein. "Oh, er ist nicht in bester Form, aber er wird's überleben. Wenn
Sie sich an die Spielregeln halten."
"Was wollen
Sie?" verlangte sie und er war erfreut über ihren Mut.
"Drei Millionen
Dollar."
"Drei?" Ihr Ton
war kühl. "Ich dachte, es seien zwei."
"Der Preis ist
gestiegen, während ich gewartet habe." Er tippte mit dem Finger auf den
Tisch, als er auf ihre Antwort wartete.
"Woher weiß ich, dass
er lebt? Ich will mit ihm reden."
Seine Augenbrauen schossen
bei dieser Antwort in die Höhe. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte gedacht,
sie würde ihm alles versprechen, um Mulder wiederzubekommen. Nein, so was hatte
er überhaupt nicht erwartet. Sie hatte nicht den Eindruck gemacht, hart wie
Stahl zu sein, als er sie aus der Ferne beobachtet hatte. Er hatte sich
offenbar geirrt.
"Hören Sie, Lady, ich
stelle hier die Regeln. Entweder Sie bezahlen, oder er stirbt, und zwar nicht
eines schnellen und einfachen Todes. Wollen Sie wirklich, dass der nette Reiche
Mann das durchmachen muss?"
Scullys Hand schloss sich
schmerzhaft um den Telefonhörer. Sie sah zu Officer Allen für ein Zeichen, dass
der Anruf erfolgreich zurück verfolgt wurde. Er hatte es noch nicht gegeben.
"Ich glaube nicht,
dass Sie das machen werden", sagte sie ruhig. Verzweifelt versuchte sie, ihm am Reden zu
halten. "Ich glaube nicht, dass Sie wieder wegen Mord ins Gefängnis
wollen. Dieses Mal erwartete Sie die Todesstrafe, das wissen Sie genau."
Er lachte wieder, tief in
seiner Kehle.
"Ich weiß, was Sie
tun, Lady, aber es funktioniert nicht. Wenn er Ihnen etwas bedeutet, lassen Sie
von jetzt an die Polizei und das FBI aus dem Spiel. Ich rufe wieder an, aber
ich warne Sie—er wird dafür leiden müssen."
Das Klicken in ihrem Ohr
wirkte so endgültig.
Dulexy ging im Zimmer hin
und her und warf Mulder wütende Blicke zu. Mulder beobachtete ihn misstrauisch.
Die Schmerzen machten ihn fast bewusstlos, doch er weigerte sich nachzugeben,
solange sein Entführer so nahe war.
"Deine dreckige
kleine Frau wird noch lernen, auf mich zu hören", grollte Dulexy und
Mulder unterdrückte ein Zittern. Er hatte durch Dulexys Verhalten geschlossen,
dass er Geld gefordert hatte und Scully sich nicht kooperativ gezeigt hatte.
Während ein Teil von ihm erkannte, dass Scully das Geld nicht zahlen wollte,
weil sie befürchtete, dass Dulexy ihn tötete, sobald es übergeben war, wünschte
sich ein anderer Teil von ihm, sie möge das verdammte Lösegeld bezahlen, damit
er endlich hier raus kam. Egal wie sie sich entscheiden würde, er konnte ihr
ihre Planung nicht verübeln. Sie versuchte nur, Zeit zu gewinnen, was Mulder
zeigte, dass sie alles tat, um ihn zu finden.
"Du bedeutest ihr am
Ende wohl doch nicht so viel, Reicher Mann", spottete Dulexy. "Hat
dich wegen deinem Bankkonto geheiratet, was? Ich wette, dass du eine Frau wie
sie nicht mal flach legen kannst. Vielleicht werd' ich der Alten mal zeigen,
wie sich ein richtiger Mann anfühlt, wenn ich mit dir fertig bin."
Mulder presste wütend die
Lippen zusammen, aber er war fest entschlossen, sich nicht von Dulexys
psychischen Provokationen aus der Ruhe bringen zu lassen. Er versuchte, nicht
zu wimmern, als Dulexy wieder mit der Stange auf ihn zukam, aber der Blick in
seinen Augen war fürchterlich. Er schloss die Augen und wartete auf den ersten
Schlag. Als er fiel, konnte Mulder unmöglich einen -Aufschrei unterdrücken. Es
dauerte nicht lange und seine Mitte war vollkommen grün und blau geschlagen—ein
einziger Klumpen gefolterter Nervenenden—und er wusste beim besten Willen
nicht, wie viel er davon noch ertragen konnte. In seinem Schritt pulsierte es
immer noch von dem Schlag in den Morgenstunden. Glücklicherweise schien Dulexy
jetzt die Gnade zu haben, diese Stelle zu meiden.
"Ich will dich
winseln hören, Mulder." Dulexy grinste er, als die metallene Stange
unbarmherzig wieder und wieder auf dieselbe Stelle fiel, bis Mulder sicher war,
dass er von diesen Höllenqualen verrecken würde. Seine Innereien müssten
inzwischen nutzlose Matsche geworden sein, so oft wie Dulexy seinen Unterleib
attackierte, und er fragte sich, warum er ihn nicht woanders hin schlug.
"Jetzt gehen dir deine Klugscheißersprüche aus, was, Mister Reicher
Hurenbock, der in seiner eigenen Pisse liegt? Bettele mich an aufzuhören und
ich werd' drüber nachdenken."
"Lieber.... sterb ich.... bevor ich.... dich um.... irgendwas....
bitte, du sadistischer Bastard!" brachte Mulder zwischen den Schlägen
hervor. Seine Handgelenke ruckten jedes Mal gegen seine Fesseln, und seine
Hände verlangten danach, sich zu Fäusten zu ballen und sich geradewegs in
Dulexys hässliche Fratze zu bohren. Aber er konnte nichts weiter tun, als sich
zu winden in einem fruchtlosen Versuch, der Stange auszuweichen, die auf seine
Mitte niederprasselte.
Endlich, endlich schien
Dulexy seines Spiels müde zu werden. Er warf die Stange beiseite, fasste mit
den Händen rechts und links von Mulders Gesicht an und riss seinen Kopf hoch,
bis sie Nase an Nase waren. Mulder spürte, wie sich die Muskeln in seine Armen
vehement gegen diese Position wehrten, sagte aber nichts und starrte mit allem
Mut, den er aufbringen konnte, in Dulexys schwarze Augen.
"Du wirst winseln wie
ein Hund, solange ich noch nicht mit dir fertig bin", sagte Dulexy
zuversichtlich mit dem Anflug eines kalten Lächelns. "Du wirst alles tun,
was ich sage."
Er ließ los und Mulders
Kopf fiel zurück gegen das hölzerne Bettgestell. Schwer atmend sah Mulder hoch zu ihm, und
weigerte sich darauf irgendetwas zu antworten.
"Vielleicht überzeugt
es deine Schlampe, wenn ich anfange, dich in Stücke zu teilen und sie ihr zuschicke.
Ein Finger vielleicht, oder ein Zeh für den Anfang", überlegte er. Dieses
Mal bekam es Mulder wirklich mit der Angst zu tun. Dulexy grinste wieder.
"Ja, ich glaub' das
ist eine hervorragende Idee", prahlte er. "Ich muss ihr nur klar
machen, dass ich keine Spielchen spiele."
"Wenn sie dich
bezahlt, und ich nicht lebend zurück komme, wird sie dich jagen und
umlegen", keuchte Mulder trotz des brennenden Schmerzes fast überall an
seinem Körper.
"Sie bekommt dich
lebend wieder", gab Dulexy zurück und ging zur Tür. "Es liegt bloß an
ihr, wie viel von dir übrig sein wird."
Gellend vor Lachen
verschwand er im Flur.
Mulder fühlte das feuchte
Blut an seinen Händen und Handgelenken. Wie Feuer schoss der Schmerz dadurch,
als er erneut resolut an seinen Fesseln rupfte.
Er musste einfach weg hier. Selbst wenn Scully und Skinner nach ihm
suchten, würden sie ihn vielleicht nicht finden, bevor es zu spät ist. Dulexy war viel durchtriebener als im
Gefängnis, und damals war er schon furchterregend gewesen.
Wenigstens ging es seiner
Blase wieder besser, wenn auch nicht seine Kleidung. Beschämt dachte er daran,
wie er endlich dem enormen Druck nachgegeben hatte und erinnerte sich an die
Mischung aus Erleichterung und Ekel, die er empfunden hatte. Dulexy hatte die
ganze Sache natürlich äußerst belustigend gefunden, aber was Mulder noch viel
mehr Sorgen machte als die Erniedrigung sich selbst zu benetzen wie ein Baby,
war der Hunger und vor allem der unglaubliche Durst, der ihn plagte. Er hatte
seit vierundzwanzig Stunden weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen, so
dass ihm seine innere Stimme inzwischen permanent wegen dieser Tatsache
anschrie.
Er war sich außerdem der
zahlreichen Blutergüsse und Prellungen bewusst, die Dulexy ihm mit dieser
verdammten Gardinenstange beigefügt hat. Es war schon erstaunlich, dass man
jemandem mit einem solch leicht aussehenden Gegenstand derartige Schmerzen
zufügen kann. Andrerseits war die Stange nicht stark genug, um ernsthaften
Schaden anzurichten—zumindest dachte er so... sein Unterleib war immer noch
sehr empfindlich und Mulder hoffte, dass es nur von den äußerlichen
Verletzungen herrührte, anstatt von Schlimmerem auszugehen. Er war sich
ziemlich sicher, dass er zudem eine gebrochene Rippe hatte von was auch immer
ihm passiert war, bevor er aufgewacht war. Es fühlte sich an, als ob ihn jemand
in die Seite getreten hätte, und er war sich ziemlich sicher, dass es so
gewesen war.
Mulder ignorierte die
Schmerzen in seinen zerrissenen Handgelenken und bemühte sich grimmig wieder
darum, sich zu befreien. Er musste weg, bevor Dulexy seine letzte Drohung wahr
machte.
Er hörte, wie sich
Schritte näherten. Dieses Mal waren es leichtere als Dulexys und für einen
Moment glaubte er, dass Scully kam, um ihn zu retten. Doch es waren nicht ihre Schritte—er würde
sie überall heraus erkennen. Scully ging
leichtfüßig, rasch und bestimmt. Diese Person hatte einen schwereren Gang als
Scully (obwohl nicht so schwer wie Dulexys Schlurfen) und bewegte sich langsam
und vorsichtig. Diese Person, erkannte Mulder, schlich sich an.
Es dauerte ganze zwei
Minuten, bis er das Gesicht in der Türe sah, erleuchtet vom hellen Mondschein.
Es war eine Frau, Mitte fünfzig, ihr langes graues Haar in einem Pferdeschwanz
zusammengebunden. Mulder fuhr lautlos zusammen, als sie sich ihm näherte. Sie
legte einen Finger auf ihre Lippen und er nickte leicht, um ihr zu bedeuten,
dass er verstand. Sehr leicht. Das Hämmern in seinem Kopf war schwächer
geworden, aber es war noch lange nicht weg, und er wollte es nicht provozieren.
Äußerlich verhielt er sich
ruhig, aber sein Herz begann zu rasen; endlich Rettung! Die vielen Stunden des
Reißens an seinen Fesseln hatten nur dazu geführt, dass sich seine Handgelenke
verdreht hatten. Er zog vergeblich daran und bat sie im Stillen, ihn
loszubinden. Sie kniete sich langsam neben ihn, bis sie sich Auge in Auge
gegenüber waren. Bevor er sein Flehen in Worte fassen konnte, sah er ein Stück
von Himmel in ihrer Hand. Ein Glas Wasser.
"Justin ist
eingenickt", flüsterte sie grimmig. "Ich wollte Ihnen das bringen.
Wenn er es herausfindet, ist der Teufel los."
"Bitte",
flüsterte er schwach zurück, seine Augen klebten immer noch an dem Glas,
"könnten Sie mich losbinden?"
Seine Hoffnung sank, als
sie ihren Kopf wild hin und her schüttelte. "Das geht nicht!" sagte
sie, und ihre kaum hörbare Stimme klang ängstlich. "Justin würde mich umbringen!"
"Bitte, Ma'am",
flehte er und seine Augen füllten sich mit Tränen der Verzweiflung.
"Bitte, er wird *mich* umbringen."
Sie führte das Glas an seine
Lippen und hielt seinen Hinterkopf mit ihrer anderen Hand, während er begierig
das Wasser schlürfte. Als das Glas halb-leer war, zog sie es weg.
"Nich...."
stöhnte er und lehnte sich vor.
"Schhhh!"
flüsterte sie heftig. "Wenn er aufwacht...."
Mulder biss sich
frustriert auf die Lippen. Sie setzte das Glas wieder an und er konnte zu Ende
trinken. Als er auch den letzten Tropfen daraus geleert hatte, zog sie es
wieder weg und wischte ihm den Mund ab.
"Danke",
murmelte er leise.
"Ich mache das nur,
weil Ihre Frau heute Nachmittag sehr nett zu mir war."
Mulder verschluckte sich
fast vor Schreck. "Scully war hier?"
Sie hob den Kopf.
"Den Namen kenne ich nicht. Sie war rothaarig und sie sagte, ihr Name sei
Mulder. So wie Ihrer."
Er nickte einmal heftig
und kniff dann die Augen zusammen, um gegen das Stechen in seinem Kopf zu
kämpfen.
"Bitte....bitte sagen Sie ihr, wo sie mich finden kann."
Er erhielt keine Antwort.
Als er seine Augen wieder aufmachte, sah er, dass die Frau aufgestanden war.
Sie war bereits wieder heimlich auf dem Weg aus dem Zimmer, als seine Stimme
sie aufhielt.
Sie drehte sich um.
"Könnte ich bitte
etwas zu Essen haben?" er achtete darauf, dass er leise sprach aus Angst,
Dulexy könnte wach werden und seine Wohltäterin entdecken.
Sie sah ihn für einen
Moment an und schüttelte dann bedauernd den Kopf. "Das kann ich nicht riskieren",
sagte sie und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
"Sagen Sie Ja zu
allem, was er fordert", wies Officer Allen sie an und übergab ihr den
Telefonhörer. "Wir werden rechtzeitig eingreifen."
Scully nickte. Sie war
nicht sehr überzeugt von dieser Strategie, aber ihr fiel momentan auch keine
bessere ein. Walter war immer noch bewusstlos und die Männer hier waren nicht
im Geringsten beeindruckt, dass sie vor zehn Jahren eine geschätzte FBI-Agentin
gewesen war. Für sie war sie lediglich die Frau eines Entführungsopfers, zwar
weniger hysterisch als die meisten, aber dennoch eine normale Bürgerin.
"Hallo?" meldete
sie sich leise und wartete das schwere Atmen am anderen Ende ab. Sie musste
Dulexy dieses Mal länger in der Leitung halten, damit sie endlich den Anruf
zurück verfolgen konnten.
"Sie wollen ihn
wiedersehen?" Die Stimme war harsch und etwas lallend und Scully fiel auf,
dass Dulexy getrunken haben musste. Das könnte ihre Aufgabe erleichtern—das
erste Mal in dieser ganzen Sache, dass etwas einfacher wurde, sagte sie sich
und schöpfte neue Hoffnung.
"Ja. Geht es ihm
gut?" Sie versuchte, nur bedingt besorgt zu klingen—
Dulexy musste ja nicht
wissen, dass sie vor Sorge fast umkam. So viel Stress lag ihr einfach nicht. Es
hatte mal eine Zeit gegeben, in der sie darüber gestanden hätte, weil es ein
Teil der Gefahren waren, mit der sie jeden Tag fertig werden musste, aber in
den letzten zehn Jahren hatte sich Scully an Normalität gewöhnt.
"Hmmm.... er ist nicht glücklich, aber er lebt."
"Was haben Sie mit
ihm gemacht?" wollte sie wissen.
Er ging nicht auf sie ein.
"Wenn Sie ihn wiederhaben wollen, müssen Sie meine Befehle befolgen. Und keine
Tricks diesmal. Ich will immer noch drei Millionen."
Sie zögerte so lange sie
sich traute. "Okay", hauchte sie, "drei Millionen."
"Bringen Sie es zu
demselben Ort wie letztes Mal. Unterm Pavillon im Soldier Park, heute Mittag.
Bei diesem Regen sollte niemand draußen sein.
Wenn ich auch nur einen Bullen in der Nähe sehe, muss dein süßer Junge
dafür büßen."
Er legte auf bevor sie
antworten konnte, und Officer Allen schüttelte auf ihren fragenden Blick hin
bedauernd den Kopf. Scully verkniff sich das obszöne Wort, das ihr beinahe
entwichen wäre. Jetzt die Beherrschung zu verlieren würde Mulder auch nicht
weiterhelfen.
"Die gleiche
Übergabestelle. Heute Mittag", sagte sie kurz angebunden.
Scully warf ihm einen
bösen Blick zu. "Was immer er auch ist, er hat meinen Mann",
erinnerte sie ihn kalt. "Dieses Mal dürfen wir es nicht vermasseln."
Allen nickte und begann
sofort, seine Leute anzuweisen, sich im Soldier Park zu postieren.
Aus der Ferne sah Dulexy
zu, wie die Undercover-Agenten unauffällig ihre Plätze einnahmen. Dulexy war
schon im Park gewesen, als er den Anruf gemacht hatte. Jetzt schüttelte er den
Kopf über die Blödheit, die manche Leute an den Tag legten. Er kroch leise zurück
zu der Stelle, wo er seinen Truck abgestellt hatte. Diese dumme Kuh würde
entweder lernen, seine Anweisungen zu befolgen, oder er würde sogar noch mehr
Spaß mit Mulder haben, als er eigentlich geplant hatte.
Dulexy kam zurück.
Mulder hörte, wie die
Eingangstür zugeschlagen wurde und das ganze Haus dadurch erschütterte. Er
zitterte. Langsam ließ er seine Finger über die Seile gleiten, die immer noch
seine ausgemergelten Hände zusammen hielten und zog halb-herzig daran. Es hatte
keinen Sinn. Er hatte sowieso keine Kraft mehr für Befreiungsversuche. Er
ertappte sich bei der Hoffnung, dass worüber Dulexy auch wütend war, er wütend
genug war, um seinen Gefangenen umzubringen.
Er schloss die Augen, weil
er nicht sehen wollte, wie Dulexy in das Zimmer stürmte, aber seine Lider
flogen wieder auf, als er ihn an den Haaren packte und schmerzhaft seinen Kopf
zurück riss.
"Dieses
Drecksstück!" Seine kalten, schwarzen Augen blitzten, als er Mulder,
hilflos und erschöpft, von oben herab ansah.
Mulder sah im einfach nur
zu, denn was immer er sagen könnte, es würde ihm noch mehr Torturen einbringen.
"Dieses
*Drecksweib*!" fluchte er abermals, doch dieses Mal brachte er Mulder zum
Schreien, als er zur Betonung des Schimpfwortes mit voller Wucht auf Mulders
zermarterten Brustkorb schlug.
Dulexy besah sich seinen
Gefangenen und ein wissendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Mulder starrte benebelt zurück. Er rang nach Atem und bekam es mit der Angst zu
tun, weil das kalte Lächeln alles Mögliche bedeuten konnte—alles erdenklich
Grausame.
"Ich glaube",
sagte Dulexy dann mit zur Seite gelegtem Kopf, "dass sie langsam etwas
bekommen sollte, das sie immer an dich erinnert."
Schnell verließ er den
Raum und Mulder fand plötzlich neue Kräfte, um seine Fesseln zu bearbeiten. Das
klang nicht gut. Nein, das klang überhaupt nicht gut. Mit wachsenden Kräften
und gestärkt durch eine Scheißangst erkannte Mulder, dass er nicht bereit war
zu sterben. Noch nicht.
Dulexy kam gleich darauf
zurück, bevor Mulder überhaupt die Gelegenheit hatte, seine Hände noch blutiger
zu reißen, was vermutlich gut war, dachte er rückblickend. Wenn Dulexy sah,
dass er versuchte zu entkommen, würde er die Schere, mit der er zurückkam,
womöglich geradewegs in sein Herz rammen, anstatt seine Haare abzuschneiden.
Der Ex-Sträfling hielt
Mulders Kopf fest, indem er eine große Hand auf sein Kinn presste und ihn somit
gegen das Bett drückte. Mulder konnte kaum atmen, so stark war der Druck, aber
seine größte Sorge war die scharfe Schere in Dulexys anderer Hand, die er näher
und näher an seinen Kopf bewegte. Für einen schrecklichen Moment dachte Mulder,
Dulexy würde ihm ein Auge ausstechen, doch der grinste wieder so eiskalt und
begann, ihm ungleichmäßig die Haare abzuschneiden.
Mulder hielt vollkommen
still, denn wenn er sich bewegen würde, und Dulexy ihm in den Kopf schneiden
würde, würde die Wunde keinesfalls medizinisch versorgt werden. Das Letzte, was
er jetzt brauchte, war eine blutende Kopfwunde auf der Liste seiner
Verletzungen. Dulexy drehte seinen Kopf hin und her und schnitt ihm so viele
Haare wie möglich ab—manchmal direkt an seinem Schädel, manchmal ließ er einen
oder zwei Zentimeter stehen. Mulder seufzte innerlich. Der kleine Teil in ihm,
der noch daran glaubte, dass er lebend hier rauskommen würde wusste, wie empört
Scully hierüber sein würde. Sie war vor ein paar Monaten schon durchgedreht,
als er sich einen Igel hatte schneiden lassen. Seine Haare waren gerade erst
wieder zu ihrer Zufriedenheit gewachsen, und jetzt das! Er hatte sich den Igel
nur schneiden lassen, weil es im Sommer so heiß war, hatte er ihr erklärt. Sie
hatte geantwortet, dass sie es mochte, mit den Fingern durch seine Haare zu
streichen, während sie sich liebten (eine Beobachtung, die im Übrigen
geradewegs Auswirkungen in südlicher Richtung gezeigt hatte). Als er das gehört
hatte, hatte er geschworen, dass er sich die Haare nie wieder so kurz schneiden
lassen würde.
Jetzt saß er still und sah
zu, wie Dulexy die mit grau durchzogenen braunen Strähnen vom Boden aufsammelte.
Dulexy ging kurz weg und kam dann mit einem kleinen Karton wieder.
//Eine Verpackungsbox von
Church's Fried Chicken, Mulder. Deine Haare werden nach abgestandenem Fett
stinken, wenn Scully sie das letzte Mal sieht.//
Dulexy legte alle Haare in
den Karton und ging mit einem weiteren kalten Lächeln zur Tür.
Dort angekommen hielt er
inne und drehte sich zu seinem Gefangenen um. Er schüttelte den Kasten in
seiner Hand und Mulder konnte fast die Haare an dem Karton kratzen hören.
"Wenn sie das nicht
überzeugt, das Geld rauszurücken, wird wohl ein Finger als nächstes an der
Reihe sein", sagte er beiläufig. Er wartete auf eine Reaktion, aber der
gleichgültige Gesichtsausdruck seines Gefangenen fand in dieser Hinsicht nicht
seine Zufriedenheit. Er schüttelte die Box noch einmal und verließ den Raum. Er
musste sein Geschenk versandfertig machen.
Mulder behielt seinen
Blick aufmerksam auf seinen Entführer, bis er durch die Tür verschwunden war.
Erst dann erlaubte er sich, neben sich auf den Boden zu gucken.
Dulexy hatte die Schere
vergessen.
Sie lag verlockend auf dem
Boden, das Chrom glänzte im Sonnenlicht. Rasch überlegte Mulder, was er tun
könnte. Wenn er sie unter dem Bett versteckte, würde Dulexy sie sofort sehen.
Das Bett war altmodisch und stand mindestens 40 cm über dem Boden. Es gab keine
Decken oder Laken, die sie verdecken könnten. Wenn er es schaffen würde, sie in
die Nähe seiner Hände hinter seinem Rücken zu schieben, würde Dulexy sie
womöglich ebenfalls sehen. Das einzige, was funktionieren konnte war, sich auf
sie zu setzen. Mit ein wenig Glück (und das musste er doch endlich mal
bekommen, oder nicht?) würde er sie gut versteckt vor Dulexys oftmals glasigem
Blick halten können.
Als erstes stellte sich
jedoch die Frage, wie er sie am besten unter seine Hände oder Füße oder was
auch immer kriegen könnte. Dulexy war Rechtshänder, und er hatte sich zu
Mulders Linken auf den Boden gekniet, als er ihm die Haare abgeschnitten hatte.
Als er damit fertig geworden war, hatte er sie zu seiner Rechten abgelegt, was
bedeutete, dass sie ungefähr einen halben Meter von ihm weg lag. Fünf kleine
Dezimeter, die unüberwindbar schienen. Für einen Moment entmutigt, zog er es
fast in Betracht aufzugeben. Doch dann schlug die Wirklichkeit auf ihn ein.
//Du wirst hier verrecken,
Mulder!// hämmerte sein Unterbewusstsein. //Du wirst Scully nie wieder sehen,
und Emmie auch nicht, wirst nie wieder aus diesem dreckigen, dunklen, einsamen
Loch kommen. Es sei denn, mein Freund, du nutzt die Gelegenheit.//
Mulder schluckte hart und
musste zugeben, dass sein Unterbewusstsein recht hatte. Dulexy hatte nicht vor,
ihn wieder frei zu lassen, selbst wenn Scully das Lösegeld zahlte. Der Mann
hatte schon einmal getötet—er würde wieder töten, und Mulder vermutete, dass es
Dulexy großen Spaß machen würde, *ihn* umzubringen.
Also, jetzt oder nie.
Weil seine Hände ganz taub
und seine Schultern vom vielen Reißen an dem Strick mürbe geworden waren, waren
seine Beine wohl seine einzige Hoffnung.
Seine Füße waren zusammengebunden, aber sonst waren sie nicht
festgemacht. Er konnte sie immer noch
bewegen. Um sie zu testen, bewegte er sie ein wenig und verbiss sich ein
Aufstöhnen, als die Schmerzen in seiner Seite aufloderten. Seine restlichen
Verletzungen waren oberflächlich, das wusste er, obgleich sie keineswegs
weniger weh taten. Aber jetzt hatte er keinen Zweifel daran, dass er eine
gebrochene Rippe hatte. Er konnte es bei jeder Bewegung fühlen.
Langsam, und schwer und
gleichmäßig atmend behielt Mulder die Tür im Auge und drehte sich zur Seite, um
an das Objekt heranzukommen. Er würde seine Beine Stück um Stück gleichmäßig
bewegen müssen. Er schaffte es sowieso nur in kurzen, heftigen
Rutschbewegungen, so schwach war er vom Hunger, Durst und seinen Verletzungen
geworden. Stück um Stück rückte er näher zu seinem Preis.
Endlich, nach vielen
kleinen Fortschritten berührten seine Füße die Schere. Mulder streckte sich, dass er praktisch auf
der Seite lag. Doch sein Freudentaumel starb einen schnellen Tod, als er
Schritte hörte. Dulexy näherte sich dem Schlafzimmer. Er würde ihn in dieser
verräterischen Position sehen, zudem verdeckten seine Beine kaum die Schere! Er
unterdrückte ein Wimmern. Er hatte keine Zeit mehr, sich in seine Ausgangslage
zu bringen. Wenn Dulexy ihn jetzt sehen würde, würde er teuer dafür bezahlen
müssen.
Die Schritte kamen näher.
Mulder hielt den Atem an und kniff die Augen zusammen. Plötzlich war das
Geräusch verschwunden. Er öffnete einen Spalt breit die Augen und erwartete,
Dulexy wutschnaubend im Türrahmen stehen zu sehen. Doch er war immer noch
allein. Jetzt hörte er die Schritte wieder, aber dieses Mal wurden sie leiser.
Mulder ließ erleichtert die Luft aus den Lungen. Er hatte ein paar Minuten
gewonnen.
Er strengte sich weiter an
und schaffte es, wieder stückchenweise die Schere mit seinem rechten Fuß zu
sich zu ziehen. Er verzog das Gesicht, als sie über den Boden kratzte und hielt
lauschend inne. Dulexy schien nichts bemerkt zu haben. Noch ein kräftiger Zug
und die Klingen waren fast unter ihm. Er konnte seine Beine nicht enger an
seinen Rumpf ziehen, also versuchte er, nachdem er sich mühevoll in seine
Ausgangposition gehechtet hatte, die Schere mit seinen Fingern zu erreichen.
Sie lag zu weit. Ihm
fehlten keine fünf Zentimeter.
Mulder versuchte nun, mit
seinem Hintern zur Schere zu rutschen und dieses Mal entwich ihm ein lautes
Keuchen. Die Anstrengungen hatten die Schmerzen in seiner gebrochenen Rippe
verschlimmert, und er musste sich zurück an das Bettgestell lehnen, um
auszuruhen und hungrig so viel Luft wie möglich einzusaugen. Er warf einen
Blick zurück zu der Schere, die immer noch von allen Seiten sichtbar auf dem
Boden lag. Er nahm sich vor, die brennenden Stiche auszuhalten und biss sich
fest auf die Unterlippe, denn vielleicht würde der Schmerz dort ihn von dem in
seiner Seite ablenken, und zwang seinen Rumpf einen kleinen Hüpfer in Richtung
der Schere zu tun.
Er konnte seinen Aufschrei
verdrängen, als er auf dem harten Boden aufkam, aber er spürte, wie sich Tränen
in seinen Augen formten. Allerdings hatte er Fortschritte gemacht - er war seinem Ziel näher als zuvor. Mulder erlaubte sich ein paar
Sekunden Pause und hüpfte noch einmal. Fast hätte er aufgejault, als sein
Hintern geradewegs auf den metallenen Klingen landete. Der plötzliche Adrenalinschub, den sein Erfolg
ihm einbrachte, gab ihm die Kraft, sich wieder zurück in die Position zu
manövrieren, in der Dulexy ihn das letzte Mal gesehen hatte. Dort fiel er
völlig erschöpft in sich zusammen.
Kurz bevor er das
Bewusstsein verlor, spürte er Feuchtigkeit von seinen Handgelenken tropfen. Sie
hatten wieder zu bluten angefangen.
Mulder hob schwächlich den
Kopf, als Dulexy zurückkehrte. Er fragte sich, was jetzt wieder passiert war,
und was er dieses Mal mit ihm vor hatte. Das Wasser, das er letzte Nacht
trinken durfte, war viel zu wenig gewesen, und sein Durst und Hunger tobten
wieder. Erschrocken riss er die Augen auf, als er erkannte, dass Dulexy
betrunken und rasend vor Wut war. Offenbar war er die Gardinenstange leid, denn
jetzt hatte er ein schweres Stahlrohr, etwa einen halben Meter lang, in der
Hand. Es sah fast so aus, wie das....
Als Dulexy sich ihm mit
dieser Waffe näherte, schossen Mulder Bilder aus seiner Gefängniszeit durch den
Kopf. Dulexy war ein großer Mann, viel größer als er selbst, und er war so
vollkommen hilflos in seinem Griff gewesen. Der Wärter, der auch nicht gerade
schmächtig gebaut war, war so richtig schadenfroh gewesen. Dulexy hatte ihm den
Mund mit seiner Riesenpranke zugehalten, und Mulder hatte in Horror zusehen
müssen, wie das Rohr wieder und wieder auf seinen wehrlosen Körper prasselte,
bis er schließlich bewusstlos gegen Dulexy zusammengebrochen war. Er war sich
sicher gewesen, dass er es hinter sich hatte.
Jetzt kam er sich genauso vor.
Mühsam schluckte er das letzte Bisschen Spucke, das sein Mund vor lauter Angst
noch produzieren konnte. Er würde das nicht noch einmal durchstehen können. Es
ging einfach nicht.
Dulexy türmte sich mit vor
Wut glänzenden Augen über ihm auf und sein Mund verzog sich zu einem höhnischen
Grinsen, als er das Rohr in seiner Hand wiegte.
"Sieht ganz so aus,
als wären wir wieder am Anfang unserer Reise, alter Freund", sagte er
schmeichelnd und hob das Rohr über seinen Kopf.
Mulder zuckte zurück und
versuchte verzweifelt sich aus dem Weg zu winden, als der Stahl auf ihn herab
sauste. Doch jegliche Bewegung war untersagt.
Er war ein perfektes Ziel für Dulexys Zorn.
Der erste Schlag traf ihn
auf seinen bereits arg mitgenommenen Unterleib.
Der Schrei, der ihm eigentlich hätte entweichen müssen, wurde gestillt,
weil ihm sämtliche Luft aus den Lungen gerissen wurde. Bevor Mulder einatmen
konnte, fiel das Rohr wieder, dieses Mal über seine Oberschenkel. Reflexartig warf er den Kopf zurück und
knallte gegen das Bettgestell. Seine
Augen füllten sich mit Tränen, die ungehindert fielen, während sich Dulexy
wieder seinem Bauch widmete und wieder und wieder auf seinen lodernden
Unterleib prügelte.
Der letzte Schlag, den
Mulder noch mitbekam, bevor er die Besinnung verlor, war geradewegs auf seine
Leiste. Wieder kam kein Ton, nur ein stiller Schrei der Höllenqualen, als er in
den willkommenen Abgrund glitt.
Langsam öffnete Skinner
die Augen und blinzelte gegen das Licht. Er stöhnte leise auf und spürte
augenblicklich eine kühle Hand auf seiner Stirn.
Er zwang seine Lider
weiter auf und blickte in das lächelnde Gesicht seiner Frau.
"Jess?" drang es
schwach durch seine ausgedörrte Kehle.
"Schhhh",
flüsterte sie. "Es ist schön, dich wiederzusehen."
Er lächelte sie an und
verzog dann das Gesicht, als seine Nerven begannen, den Schmerz zu
registrieren, den sein Körper aushalten musste.
Er fühlte, wie Jess seine
Hand drückte und wie sie leicht seine Finger streichelte. Alles, was er wollte,
war wieder zurück in die dunklen Fluten zu sinken, in denen er gewesen war, wo
er das Feuer in seinem Bauch nicht fühlen konnte. Aber zuerst musste er wissen,
was los war.
"Ellery?"
"Sie ist wieder bei
ihrer Familie", versicherte Jess ihm.
Wieder musste er zwanghaft
seine Augen öffnen. "Mulder?"
Skinner wusste, dass etwas
passiert sein musste, denn das Gesicht seiner Frau sprach Bände. Andererseits
musste etwas wirklich Schlimmes passiert sein, erinnerte er sich, denn sonst
würde er nicht hier liegen.
"Mulder?" fragte
er nochmals, dieses Mal etwas schärfer.
"Der Entführer hat
ihn ", gestand Jess. "Wir haben ihn noch
nicht gefunden."
"Walter...."
"Wie lange?"
forderte er und sie seufzte bei seinem barschen Ton. Sie kannte Walter—er würde
nicht wieder einschlafen, bevor sie ihm nicht alles erzählte.
"Drei Tage."
"Verdammt!"
grummelte Skinner. "Dieser Hund soll zur Hölle fahren, und ich gleich mit,
weil ich es nicht verhindern konnte. Ich hätte wissen müssen, dass...."
"Nicht, Walter. Gib dir
nicht die Schuld dafür. Wir alle wissen, wie stur Mulder sein kann. Wenn du
nicht einverstanden gewesen wärst, ihm zu helfen, hätte er die Sache alleine
durchgezogen. Und wo wäre er jetzt in dem Fall?
Du hättest ihn auf keinen Fall aufhalten können."
"Ich hätte Scully
sagen sollen, ihn unter Beruhigungsmittel zu stellen und ihn ans Bett zu
binden", nörgelte er.
"Ja, das hätte
vielleicht geholfen", stimmte sie zu und drückte den Knopf für die
Schwester. "Das werden wir das nächste Mal versuchen."
Jess starrte ihn perplex
an, bis sie merkte, dass er von dem Entführer sprach.
"Du hattest recht,
Walter. Es ist jemand, den Mulder aus dem Gefängnis kennt. Ein Justin Dulexy.
Er hat sich offenbar mit Mulder eine Zeit lang eine Zelle geteilt."
Skinner schnitt eine
Grimasse. Er kannte den Namen, aber so vollgedröhnt mit Medikamenten wie er im
Moment war, wollten ihm keine Details dazu einfallen.
Die Krankenschwester kam
mit einer Spritze mit Schmerzmitteln herein.
"Ich habe mir
gedacht, dass Sie das hier brauchen werden, Mr. Skinner", lächelte sie.
"Geht es Ihnen gut, ausgenommen von dem Loch in ihrem Bauch?"
Er grinste fast und nickte
einmal. Er sah zu, wie sie das Medikament an den Tropf anschloss und dann fiel
es ihm ein. Er musste Scully warnen.
"Warten Sie",
sagte er zu der Schwester, die in ihren Bewegungen inne hielt. Skinner sah zu
seiner besorgt aussehenden Frau. "Scully", sagte er schwach.
"Dulexy. Ich kenne diesen Namen. Das ist er."
In Jess Skinners Gesicht stand für einen Moment der Schrecken geschrieben, der sie
bei der Erkenntnis durchfuhr, als sie verstand. Dann beruhigte sie sich, nickte
und strich mit den Fingern leicht über seine Wange. "Ich werde es Dana
wissen lassen", versprach sie. "Sie wird ihn finden, Walter."
Sie setzte ihre Lippen anstelle ihrer Finger und gab ihm einen sanften
Kuss. "Jetzt lass sie dir bitte
schnell das Medikament geben, damit du ruhig schlafen kannst."
Unfähig, dem flehenden
Blick seiner Frau zu widersprechen, murmelte er ein "'kay", und
Sekunden später wurde es schwarz um ihn.
Sie spitzte die Ohren für
jegliche Anzeichen von Schwierigkeiten, und siehe da, sie konnte die Schritte
schon über den Boden schlurfen hören, bevor die Türklingel ging. Scully hatte
sich die letzte Nacht auf der Couch ununterbrochen hin und her geworfen—auf der
alten Ledercouch, die seit sie ihn kannte Teil von Mulders Habseligkeiten war.
Sie hatte sich irgendwann nach Mitternacht in die Polster gekuschelt, nachdem
sich Emmie endlich beruhigt hatte und sie war mit Gedanken an Mulder
eingeschlafen.
Emmie hatte eine schwere
letzte Nacht gehabt. Schuldgefühle lasteten auf ihren jungen Schultern wie eine
Bürde, und es hatte sie einfach mitgenommen. Sie hatte ihr Gesicht in Scullys
Schulter vergraben, genauso wie damals, als sie noch klein gewesen war, und
hatte bitterlich geweint.
"Schhhh", hatte
Scully versucht, sie zu beruhigen. "Nichts von alle dem
ist deine Schuld, Emmie."
"Doch, das ist
es!" hatte Emmie darauf bestanden. "Wenn ich ihm nicht diese Vorwürfe
gemacht hätte.... Mom, ich habe so schlimme Sachen zu ihm gesagt!"
"Emmie Mulder, du
weißt wie Fox sein kann. Er hat nicht versucht, Ellery zu helfen, weil du das
zu ihm gesagt hast. Er wusste, dass du einfach sauer und traurig warst. Er hat
es getan, weil er es tun musste. In all den Jahren, in denen ich ihn kenne,
habe ich nie gesehen, wie er sich zurück gelehnt und nichts getan hat, wenn
jemand Hilfe brauchte—nicht einmal, wenn es bedeutete, selbst dafür den Kopf
hinzuhalten. Er ist ein ganz besonderer Mann, und er hat dich sehr, sehr
lieb."
"Erzähle mir von dir
und ihm, Mom", hatte Emmie nach einer Weile gesagt, als ihr Schluchzen
weniger geworden war. Sie hielt ihre Mutter immer noch fest in den Armen und
benetzte ihre Bluse mit ihren Tränen.
"Ich möchte wissen,
wann ihr euch ineinander verliebt habt."
Scully sagte eine ganze
Zeit nichts. "Ich weiß gar nicht so recht, wann ich mich in Mulder
verliebt habe", sagte sie dann. "Es hat sich einfach so entwickelt und
irgendwann habe ich erkannt, dass es keinen anderen auf der Welt für mich geben
kann."
"Aber du hast meinen
Vater geheiratet."
Ihre Arme schlossen sich
fester um Emmie. "Ja, das habe ich. Ich hätte es wahrscheinlich besser nicht
tun sollen, aber in dem Fall wärst du jetzt nicht hier, stimmts?"
Scully kniff ihre Augen
zusammen, als sie der alte Schmerz urplötzlich wieder einholte. "Ich weiß
nicht", schaffte sie. "Das musst du ihn selbst fragen."
Emmies Atem ging ruhig und
gleichmäßig neben ihr, und Scully dachte schon, dass sie eingeschlafen war,
doch dann sprach sie erneut.
"Wie meinst du
das?" fragte Scully überrascht. Sie hatte darüber noch nie so nachgedacht.
"Naja", sagte
Emmie vorsichtig, "Jessicas Eltern machen immer so romantische Sachen
zusammen. Sie gehen aus und so. Er bringt ihr oft Blumen und kauft ihr schöne
Geschenke. Aber meistens streiten sie sich. Du und Fox vergesst beide euren
Hochzeitstag, wenn ich euch nicht daran erinnere."
Scully lächelte wieder,
denn da hatte ihre Tochter den Nagel auf den Kopf getroffen.
"Er würde dir nie
Blumen bringen und ihr zwei redet auch nicht so schnulzig miteinander wie
andere Paare."
"Hm, kann sein, dass
du recht hast. Wir sind nicht sehr romantisch. Aber wir lieben uns sehr, das
weißt du, stimmts?"
"Ja, klar",
sagte Emmie und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. "Das ist ziemlich
offensichtlich."
"Ich möchte keine
Blumen von Mulder, ich möchte nur, dass er hier ist."
Emmie drückte sie fest.
"Er kommt wieder zurück, Mom. Ich bin mir ganz sicher."
"Du hast recht",
gab Scully zurück und versuchte ihrer wachsenden Verzweiflung zum Trotz
zuversichtlich zu klingen. "Er wird bald wieder hier bei uns zu Hause
sein."
Daraufhin hatte sie das
Licht ausgemacht und war aufgestanden. Emmie schlief schon fast. Das war, als
sie sich entschlossen hatte, sich auf Mulders Couch zu legen und den Tränen
freien Lauf zu lassen. Nicht vielen, denn Scully war keine Frau, die unbändig
weinte, aber einigen, die das Zeichen ihrer Angst und Frustration waren.
Sie hatte Emmie an dem Tag
zuvor erlaubt, von der Schule fern zu bleiben, aber heute wollte sie unbedingt
hingehen. Emmie hatte gesagt, dass sie nicht noch mehr Stunden verpassen könne,
aber Scully vermutete, dass die Atmosphäre im Haus Schuld daran war, gekoppelt
mit Langeweile, die sie zum Trost ihrer Freunde gezogen hatte.
Jetzt ist es doch gut,
dass Emmie nicht zu Hause ist, dachte sie, als sie das kleine braune Päckchen
in den Händen hielt. Der junge Mann, der es geliefert hatte, war eingängig von
Officer Allen befragt worden, der praktisch schon im Haus eingezogen war, doch
er hatte nichts Nützliches sagen können. Ein Typ habe ihm zwanzig Dollar gegeben,
damit er das Päckchen zu diesem Haus bringt. Er hatte den Jungen vor einem
Einkaufszentrum angesprochen (er hatte nämlich die Schule geschwänzt) und ihm
diese Adresse gegeben. Dann war er in einem großen schwarzen Pick-Up weg
gefahren. Natürlich war es Dulexy gewesen, daran bestand kein Zweifel, aber sie
hatten immer noch keine Ahnung, wo Mulder sein könnte.
Sie hatten auf dem
Päckchen keine Fingerabdrücke finden können, und obwohl Officer Allen erwähnt
hatte, dass im Päckchen welche sein könnten, zweifelte Scully daran. Was würde
es ihnen schon nützen? Sie wussten, nach wem sie suchten. Scully hielt das
Päckchen schon ganze zehn Minuten in ihren Händen, sie traute sich nicht so
recht, es zu öffnen. Sie hatte keine Ahnung, was darin sein könnte, aber es war
klar, dass der Kidnapper sie terrorisieren wollte, damit sie seinen Forderungen
nachkam. Was auch immer in diesem Päckchen war, Scully war sich sicher, dass es
zu Mulders Leidwesen beschaffen worden war.
Schließlich konnte sie die
Spannung nicht länger ertragen, durchschnitt behutsam mit zittrigen Fingern das
Klebeband und holte die kleine, gelbe Box hervor. Sie ergriff es an beiden
Seiten und befreite es von der Verpackung. Es war eine Pappbehälter von
Church's Fried Chicken. Der Täter aß bei Church's Fried Chicken.
"Officer Allen?"
rief sie.
Er kam um die Ecke, wo er
mit seinem Handy telefoniert hatte.
"Wir sollten
herausfinden, wie viele Church's Fried Chicken Restaurants es in der Gegend
gibt. Vielleicht kann sich jemand an Dulexy währen der letzten Tage als Kunden
erinnern." Es war ein schwacher Hinweis, fast überhaupt keiner, aber es
war alles, was sie jetzt hatten.
Sie holte tief Luft, weil
sie merkte, dass sie das Unvermeidliche herauszögern wollte, und öffnete den
Deckel.
Sie starrte auf die Haarsträhnen,
die darin waren und fühlte die Tränen wieder hochkommen. Sie schloss die Augen.
Mulders Haare. Seine schönen Haare, die sie so liebte anzufassen, nach denen
sie sich sehnte, in dieser Sekunde, ihre Finger hindurch gleiten zu lassen.
Diese Haare waren geschändet von einem Verrückten. Sie zwang sich zur Räson und
machte den Karton wieder auf. Sie untersuchte die Haare näher und biss sich auf
die Lippe, als sie Blut an einigen kleben sah.
"Das könnte davon
stammen, wo Dulexy ihn geschlagen hat", offerierte Allen, und sie nickte.
"Es könnte sein, dass er nicht allzu schlimm verletzt ist."
Sie nickte wieder und
stand schnell auf, um sich einen Schluck kaltes Wasser zu holen. Es
stimmte—Mulder könnte es zur Zeit wirklich relativ gut
gehen, aber irgendwie glaubte sie nicht daran. Das war eine Warnung, sogar eine
sehr klare.
Sie hatte gerade den
letzten Schluck getrunken, als sie Officer Allen aus dem anderen Zimmer nach
ihr rufen hörte.
"Ja?" antwortete
sie und ging zurück zu ihm. Sie sah absichtlich nicht auf das Blatt Papier auf
dem Tisch, wo Allen die Haare ihres Mannes ausgebreitet hatte.
"Da ist noch
etwas", informierte er sie widerstrebend. "Ein Zettel."
Mit einer Pinzette hielt er
ein kleines Stück Papier an der Ecke fest und hob es hoch. Scully beugte sich
näher heran, um die kleine, gekritzelte Handschrift lesen zu können. Es stand
nur ein Satz darauf.
'Nächstes Mal gibt's
Stücke von ihm.'
xxxxxxxxxx
Ende Teil 2 von 3
(Originaltitel: FADE TO MIDNIGHT)
von TexxasRose aka. Laura Casetellano
( laurita_castellano@yahoo.com )
aus dem Englischen
übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de
>
"Wie lange bist du
jetzt schon hier, Mulder?" fragte Dulexy beiläufig, als er eisgekühltes
Wasser aus seinem Glas schlürfte. "Wann hast du das letzte Mal ein richtig
schönes kaltes Getränk genossen?"
Schon zwei Tage (zwei
*Scheißtage*, du Hurensohn!), aber Mulder wollte Dulexy mit einer Antwort keine
Genugtuung verschaffen. Stattdessen schloss er die Augen und drehte seinen Kopf
weg, riss sie aber wieder auf, als das Rohr auf seinem brennenden Bauch
landete. Dulexy mochte es nicht, wenn Mulder seinem Spott keine Beachtung
schenkte. Seine Augen zuzumachen war praktisch eine Einladung zu einem weiteren
Angriff. Mulder wusste jetzt erst recht, dass er mehr als nur eine gebrochene
Rippe hatte—eine von was auch immer passiert ist, als er bewusstlos gewesen
war, und mindestens eine mehr von Dulexys besoffenen Attacken während der
letzten Nacht. Er hatte das gewisse Knacken genau gehört und den unerträglichen
Schmerz gleich daraufhin gespürt. Es war ein bekannter Schmerz; er hatte sich
schon mal die Rippen gebrochen.
Mulders Unbehagen
ignorierend nahm Dulexy einen weiteren großen Schluck von seinem Getränk und
beobachtete, wie die Augen seines Gefangenen auf dem Glas haften blieben.
"Willst du was?" fragte er in einem Ton, der glatt als freundlich
durchgehen könnte und hielt das Glas über Mulders sandpapiertrockenen Mund,
gerade mal außer Reichweite.
Instinktiv reckte Mulder
seinen Kopf in die Höhe, obwohl er wusste, dass Dulexy das Glas wegziehen
würde, denn er konnte nicht widerstehen, sich nach der lebensspendenden
Flüssigkeit, die ihn so quälte, zu strecken. Ein Film von Kondenswasser bildete
sich am Glasboden zu einem Tropfen, der Ewigkeiten dort hängte, bevor es
endlich so aussah, als würde er jeden Moment fallen. Mulder starrte ihn wie
gebannt an und hörte förmlich die Sekunden vorbeiticken, als er im Stillen den
Tropfen anflehte, endlich auf seine aufgesprungenen Lippen zu fallen.
"Ups", sagte
Dulexy und wischte Mulders kostbaren Tropfen fort, bevor er die Schwerkraft ihn
bezwang. "Wir wollen dich doch nicht nass machen."
Mulders Kopf fiel
geschwächt zurück und er kämpfte gegen die Tränen der Verzweiflung an, die ihm
ausbrechen wollten. Der Tropfen war fast schon unten gewesen....
nur eine Sekunde....
"Bitte...."
hörte er sich selbst flüstern, zwang das Wort durch seine schmerzende Kehle.
Dulexys Gesicht nahm einen
Ausdruck der Besorgnis an und er lehnte sich näher.
"Ist das.... ist das ein *Flehen*, das ich da höre?" fragte er
spöttisch.
Mulder lag still und hielt
seine Tränen im Zaum, bis Dulexy weg war.
"Weißt du,
Mulder", redete Dulexy, als er einen weiteren Schluck nahm, "deine
Sturheit wird dir nix einbringen. Du, mein Freund, bis vollkommen meinen Launen
ausgeliefert—oder hast du das etwa noch nicht gemerkt?"
Er grinste und Mulder sah
weg. Ärgerlich packte Dulexy sein Kinn und zwang ihn, ihn anzusehen.
"Du wirst mir geben,
was ich will, oder du kriegst gar nichts!" zischte er.
"Und was ich jetzt
will, Mulder, ist, dass du mich um Wasser anflehst."
Mulder sah Dulexy für
einen langen Moment an. Er wollte Wasser—oh ja, und wie er es wollte! Er würde
fast alles dafür tun—aber nicht, wenn es ihm wie vorher in der letzten Sekunde
weg genommen würde. Lass mir wenigstens meinen Stolz, flehte er sein Ego an.
//*Stolz!*// kreischte es
zurück. //Mein Freund, du hast deine Haare verloren und hast dich bepisst wie
ein Baby. Wie viel Stolz, glaubst du, hast du noch übrig? Und was zum Teufel
nützt er dir noch? Wenn der Kerl von dir ein paar harmlose Worte hören will,
damit er dir etwas zu trinken gibt, dann sag sie doch. Worte bedeuten gar
nichts.//
Er versuchte zu schlucken,
um seine Stimmbänder zu befeuchten, aber er hatte einfach nicht genug Speichel,
das sein Mund mit seiner trockenen Kehle teilen wollte.
"Bitte",
wiederholte er mit knackender Stimme. "Bitte.... Wasser."
Dulexy senkte das Glas
wieder in Richtung Mulders Lippen und zog es wieder grinsend in der letzten
Sekunde weg.
"Ich glaube, das
reicht nicht ganz", sagte er milde. "Ich will das Wort mit 'f' hören,
Mulder."
"Ich.... ich ....
flehe dich an", (du verrotteter Bastard), aber er fügte das letzte nur
gedanklich hinzu, denn wenn er es tatsächlich aussprechen würde, wäre das das
Ende der Hoffnung auf Wasser.
Dulexy grinste wieder.
"Das ist besser."
Und dann, wie durch ein
Wunder, hielt er sein Versprechen und ließ Mulder aus dem Glas trinken, dass er
an seine zitternden Lippen hielt.
Mulder saugte frenetisch
das hieß begehrte Wasser, das durch seine plumpen Versuche in seiner Position
teilweise sein Kinn hinunterrann. Er hatte kaum seine Kehle befeuchtet, als
Dulexy es ihm nochmals entzog.
"Nein,
bitte...." flüsterte Mulder. Dieses Mal kamen ihm wirklich die Tränen,
trotz seiner Versuche, sie zurück zu halten. Er konnte die Enttäuschung einfach
nicht ertragen. Dulexy hatte unfair gespielt. Er hatte Mulder gerade mal ein
kleines Schlückchen gewährt.
"Wenn du mehr willst,
würge es einfach wieder hoch", sagte Dulexy und Mulder musste durch seine
Tränen der Rage und Enttäuschung zusehen, wie Dulexy die Reste der kostbaren
Flüssigkeit auf den Boden ausschüttete. "Du willst dich neben dem Bepissen
doch nicht auch noch vollkotzen, oder?"
Die Stimme am anderen Ende
der Leitung klang kalt und grausam, und Scully schloss die Augen bei dem
Gedanken an Mulder in Folter. Dulexy hatte viel Zeit verstreichen lassen, bevor
er endlich wieder anrief, und sie hatte keine Ahnung, was Mulder inzwischen
durchmachen musste.
"Ja."
Sie hörte ihn atmen,
schwer und angestrengt, und sie konnte Schritte ausmachen. Sie nahm an, dass er
hin und her ging, wo immer er auch war.
"Das nehme ich Ihnen
nicht ab", sagte er schließlich.
"Nein, ich.... ich glaube Ihnen." Sie versuchte, nicht aufgelöst
zu klingen, aber Dulexy hatte sie nicht einmal gehört—er hatte das Telefon
nieder gelegt. Sie hörte seine Stimme im Hintergrund.
"Willst du mit deiner
Alten reden, Mulder? Überzeug' sie davon, dass ich mich nicht verarschen
lasse."
Doch anstatt dass Dulexy
das Telefon an Mulders Ohr hielt, was sie erwartet hatte, hörte Scully
Schlurfen gefolgt von einem gedämpften Schrei, den sie als den ihres Mannes
identifizieren konnte.
"Dulexy!"
brüllte sie in das Telefon. Sie umfasste den Hörer so fest, dass er Gefahr
lief, zerquetscht zu werden.
Wieder Schlurfen, und
Dulexy war zurück in der Leitung.
"Willst du wissen,
was ich mit ihm gemacht habe?" Das zufriedene Amüsement in seinem Ton war
Scullys Untergang.
"Was haben Sie getan,
sie Dreckskerl?" keuchte sie und kämpfte um Selbstkontrolle. Sie konnte
sich jetzt nicht gehen lassen, denn wenn sie es tat, würde sie Mulder nie
finden.
"Ich habe deinem
hübschen reichen Mann den Finger gebrochen."
Tränen liefen über ihre
Wangen. Sie fragte sich geistesgegenwärtig, ob es derselbe Finger war, den
diese Terroristen vor vielen Jahren gebrochen hatten. Doch diesmal konnte sie
die Verletzung nicht mit Eis versorgen und Trost spenden. Der Verlust
durchschnitt ihr das Herz.
"Ich bringe dich um,
du Bastard." Sie zischte die Worte grimmig in die Sprechmuschel, aber
Dulexy lachte nur.
"Ich sag' dir was,
kleine Lady. Versuchen wir es noch mal. Willst du das Spiel endlich mit
*meinen* Regeln spielen?"
Scully biss sich so fest
auf die Unterlippe, dass sie fast blutig wurde.
Sie konnte schwaches Stöhnen im Hintergrund hören und ihr inneres Auge
bot ihr ein Bild, auf dem Mulder allein und unter Höllenqualen auf sie
wartete. Es war letztendlich nur Geld.
Sie hatte vorher schon ohne Geld gelebt, aber sie wusste, dass sie nie, nie
wieder ohne Mulder leben könnte.
"Ich gebe Ihnen das
Geld", antwortete sie kontrollierter als sie es von sich erwartet hätte.
"Wann und wo?"
"Kreuzung Bogoda
Drive und Eastern Lake Road."
Sie kannte die Kreuzung,
die er nannte. Sie lag verlassen und ohne jegliche Deckung weit draußen im
Gelände. Keine Gelegenheit für Verstärkungskräfte, die sich in der Nähe
verstecken und helfen könnten. Es würde nur sie und Dulexy sein, egal was
komme.
"Mitternacht. Oh, und
Dana? Für jede Stunde, in der ich mein Geld noch nicht habe, werde ich deinem
Süßen einen weiteren Knochen brechen. Also, sei pünktlich."
"Warten Sie! Sie
können nicht...." Aber er hatte aufgelegt.
Scully sank zurück in
ihren Stuhl. Jetzt, wo das Gespräch vorüber war, zitterte sie wie Espenlaub.
Bis zur Übergabe waren es noch vier Stunden—
Mulder müsste noch drei
weitere Knochenbrüche erleiden. Würden es noch mehr Finger sein? Sie hoffte,
dass es das sein würde, und nicht schlimmeres.
Zumindest heilten Finger relativ leicht. Und wer weiß, was Dulexy Mulder
bereits angetan hatte? Wenigstens wusste sie, dass er noch lebte. Scully würgte
ihr Schluchzen herunter und begab sich an die Vorbereitungen.
"Das kannst du nicht
alleine machen, Scully, wage es ja nicht!" Skinners schroffer Ton, nur
etwas geschwächt durch seine Verfassung, überrollte sie wie eine Wasserflut.
"Ich muss,
Walter", beteuerte sie stur. "Jedes Mal, wenn wir uns seinen Befehlen
widersetzt haben, hat Mulder dafür bezahlen müssen. Dieses Mal will ich ihm geben,
was er will. Das Geld ist mir egal, es ist mir auch egal, ob ihr ihn kriegt
oder nicht, und im Moment schere ich mich einen Dreck über jegliche
Zuständigkeiten! Ich will Mulder lebend wieder haben."
Er fluchte, als Scully
auflegte. Jess nahm ihm das Telefon aus der Hand und legte es auf den Tisch.
"Mach dir um sie
keine Sorgen, Walter. Wenn einer weiß, was er in dieser Situation tut, ist es
Dana. Konzentriere dich lieber darauf, dass du wieder gesund wirst."
"Wie zur Hölle soll
ich das denn machen, Jess?" wollte er wütend wissen.
"Wir werden sie beide
verlieren, wenn sie nicht vorsichtig ist."
Jess nahm sein Gesicht in
beide Hände und zwang ihn, sie anzusehen. "Wir werden sie nicht verlieren,
keinen von beiden. Jetzt beruhige dich, oder ich sage der Schwester, sie soll
deinen Arsch so voll Morphium spritzen, dass du für eine Woche weg bist, hast
du mich verstanden, Walter Skinner?"
Sie starrten sich für eine
lange Zeit eisig an, bevor er nach gab. Er konnte wirklich nichts tun. Nicht,
wenn er unter solcher Beobachtung stand.
Mulder besah Dulexy
misstrauisch, als dieser in das Schlafzimmer kam. Sein gebrochener Finger
pochte und trug einen weiteren trommelnden Rhythmus zu der Symphonie in dem Rest
seines Körpers bei. Seine Fähigkeit, den Schmerz zu ignorieren hatte ihn schon
lange verlassen, seine ganze Welt bestand nur noch aus Pein, Hunger und Durst.
Dulexy hatte etwas in der
Hand, das er in der Nähe der Tür abstellte. Es war eine große Uhr, deren Zeiger
auf 20.07 Uhr standen.
"Du hast noch knapp
eine Stunde, bis ich dir einen weiteren Knochen breche. Hm, welcher wird es
wohl diesmal sein?"
Mulder starrte wie in
Trance auf die Uhr, während Dulexy pfeifend den Flur entlang ging, zurück zu
seinem Sessel und seinem Bier. Weniger als eine Stunde, bevor Dulexy wieder
zuschlagen würde. Mulder nahm sich zusammen, versuchte den Schmerz in seiner
linken Hand zu ignorieren und tastete nach der Schere. Dieses Mal war es sein
Daumen, und Mulder konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
behaupten, dass es verdammt mehr weh tut, sich den Daumen von einem wütenden
Ex-Sträfling brechen zu lassen, als den kleinen Finger von einem wütenden
Terroristen. Er konnte sogar tatsächlich die Stelle fühlen, an der er an dem
Seil angefangen hatte. Vorsichtig
brachte er die Klinge der Schere in Position und begann mit entschlossener
Miene weiter das Seil aufzutrennen.
Um neun Uhr kam Dulexy mit
dem Rohr in der Hand in das Zimmer geschlendert. Mulder hatte die Schere wieder versteckt, und
jetzt wartete er total verspannt darauf, dass Dulexy ihn schlug. Er erwartete
Spott- und Sticheleien, bevor es passieren würde, doch Dulexy überrascht ihn.
Er kniete sich neben Mulders Füße und zog ihm Schuhe und Socken aus. Dann stand
er auf und schwang das Rohr ohne zu Zögern und mit aller Kraft auf Mulders
rechten Fuß. Mulder fühlte wie seine Knochen knackten und nachgaben zur selben
Zeit wie er aufschrie. Dann fiel ein willkommener grauer Schleier.
Neun Uhr. Scully sah auf
die Uhr an der Wand. Sie hatte die Hände fest zusammengepresst in ihrem Schoß
und betete, dass Mulder es überleben würde.
Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie sich vorstellte, wie er
malträtiert wurde. Sie hatte Emmie für ein paar Tage zu ihrer Mutter geschickt,
und gleich nachdem sie ihre Tochter zum Abschied geküsst und die Haustür
abgeschlossen hatte, hatte sie begonnen, einen Plan zu schmieden. Sie dachte an die Waffe in ihrer Handtasche
und fragte sich, ob sie es durchziehen würde.
Es war schon fast zehn,
als Mulder urplötzlich erwachte, aufgeweckt durch Dulexys Getrampel. Er stank
nach Alkohol, als er sich neben ihn kniete.
Mulder verfluchte sich innerlich dafür, dass er ohnmächtig geworden war,
denn er hätte während dieser Stunde weiter an dem Seil arbeiten können.
Angestrengt versuchte er, Dulexys Blick Stand zu halten, doch er konnte seine
fragliche Gelassenheit dahin weichen sehen, als Dulexy das Rohr hervor holte.
Er kniff die Augen zusammen, um nicht hinsehen zu müssen, wie Dulexy auf ihn
einschlug, und war daher vollkommen unvorbereitet, als das Eisen in die rechte
Seite seines Brustkorbes krachte. Dieses Mal durchbohrte eine Rippe seinen
rechten Lungenflügel, und Mulder, für den auch das nichts neues
war, fühlte den bekannten scharfen Schmerz in Seite und Rücken. Er bekam keine
Luft mehr.
Mulder riss den Mund auf,
doch der Schrei, der aus ihm brechen wollte, kam gar nicht erst zustande. Das
wichtigste war jetzt, genügend Luft zu bekommen, denn es ging ums nackte
Überleben.
Um zehn Uhr war Scully
sich sicher, dass sie Dulexy umbringen würde für das, was er Mulder gerade
antun musste. Ihre Tränen waren vertrocknet und von einer glühenden Wut ersetzt
worden. Dulexy war ein toter Mann.
Die Uhr zeigte elf und
Mulder liefen Tränen der Hilflosigkeit und Agonie über die Wangen. Als Dulexy
dieses Mal in sein Zimmer kam, blieb er mit Händen in den Hüften vor seinem
Gefangenen stehen und beäugte ihn nachdenklich. Mulder sah aus wie Dreck. Es
klebte immer noch Blut von vor ein paar Tagen auf seinem asch-grauen Gesicht.
Die Kopfverletzung war nicht länger durch seine Haare verdeckt, die jetzt nur
hier und da in kurzen Büscheln an Mulders Schädel hingen. Er hechelte durch den
Mund in dem Versuch, noch eine weitere Stunde am Leben zu bleiben. Sein Bauch,
den man durch das zerfetzte Hemd sehen konnte, war grün und blau angelaufen und
geschwollen. Sein rechter Fuß war ebenfalls geschwollen, und zwar nicht zu
knapp, und hinter seinem Rücken, wusste Dulexy, war sein linker Daumen in genau
derselben Verfassung.
"Wir haben noch Zeit
für einmal, Mulder", sagte Dulexy vergnügt und klopfte sich mit einem
Finger auf das Kinn. "Wo soll es denn diesmal sein...?"
"Bitte.... nicht
mehr...." Mulder versuchte, die Worte zu formen, aber seine Lungen
spendeten nicht genügend Luft. Langsam schüttelte er den Kopf von einer Seite
zur anderen. Er schämte sich nicht länger für seine Lage oder seine Tränen, er
fühlte nichts anderes mehr als seinen seit Stunden geschundenen Körper und das
Verlangen, alles—absolut alles—zu sagen oder zu tun, um Dulexy davon
abzuhalten, weiteren Schaden anzurichten.
Dulexy kniete sich neben
ihn und wischte sacht etwas Schweiß von seiner Braue. "Du siehst Scheiße
aus, Kumpel", sagte er freundschaftlich, "aber Schade für dich, denn
es ist wieder eine Stunde vorbei."
"....bitte....flehe....nicht...." Die Wörter drängten sich
schließlich über seine Lippen, kaum hörbar, aber immer noch auszumachen. Dulexy
grinste hämisch.
"Ach, wenn du das so
willst", begann er und sah wie Mulder geradezu dankbar und erleichtert
aussah. Dann verschwand diese Erleichterung augenblicklich, als er den Satz
beendete. "Dann werde ich mal nicht so sein und dir nur einen weiteren
Finger brechen. Dieses Mal an der rechten Hand."
Zu seinem Erstaunen zog Dulexy
ein Klappmesser aus der Tasche und zerschnitt die Seile, die ihn ans Bett
gefesselt hielten.
Mulder fiel augenblicklich
auf seine linke Seite. Jegliches Gefühl war aus seinen gerade erst befreiten
Gliedmaßen verschwunden und er merkte, was für ein schwerer Fehler das gewesen
war.
Die Schere lag jetzt
vollkommen offen auf dem Boden. Mulder sah aus dem Augenwinkel, wie Dulexy sie
aufhob und sie mal hierhin, mal dorthin drehte. Und dann, zu Mulders völliger
Überraschung, begann er lauthals los zu lachen.
Er hob die Seile wieder
auf und besah sie sich näher. Er fand die Stellen, wo sie fast zerschnitten
waren und malte sich aus, wie es dazu gekommen war.
"Eins muss man dir
lassen, Mulder. Du bist ein verdammt hartnäckiger Hurensohn", sagte er
fast anerkennend. Jeder andere hätte schon lange aufgegeben, aber du nutzt
einfach jede Gelegenheit, stimmts?"
Mulder lag regungslos auf
dem Boden und wünschte sich, er könnte sich bewegen. Er wünschte sich, Dulexy
die Schere aus den Händen reißen zu können und die scharfen Klingen tief in
sein Herz bohren. Er hatte immer noch kein Gefühl in seinen Armen, und die
Position, in der er jetzt lag, machte das Atmen noch schwerer. Dankbar dafür,
dass Dulexy nicht hochgegangen war, als er sein Geheimnis entdeckt hatte, konzentrierte
sich Mulder darauf, am Leben zu bleiben.
Vor lauter Angst vor
eventuellen Folgen der Entdeckung seiner Fluchtpläne hatte Mulder ganz
vergessen, was ihm eigentlich bevor stand. Bis Dulexy seinen rechten Arm anhob.
Mulder wimmerte und
versuchte, seine Hand wegzuziehen, doch er hatte keine Kraft mehr, um es
ernsthaft zu versuchen. Er fühlte, wie Dulexy seinen Zeigefinger von den
anderen in einem unnatürlichen Winkel weg zog, und bevor er Dulexy noch einmal
anflehen konnte, es nicht zu tun, hörte er das deutliche *KNACK*, als der dünne
Knochen brach. Wieder konnte er aus Mangel an Sauerstoff nicht schreien.
Mittlerweile strömten seine Tränen ungehemmt und Mulder war es scheißegal,
welchen Eindruck Dulexy von ihm hatte, ihm war scheißegal, was alle von ihm
dachten. Er wollte nur, dass diese endlosen Torturen endlich aufhörten.
"Und jetzt",
sagte Dulexy, während er die Schere aufhob, die immer noch neben ihm auf dem
Boden lagen und sie weg warf, "treffen wir dein kleines Miststück."
Er stand auf, besah sich den Mann zu seinen Füßen einen Augenblick und trat die
Schere noch weiter weg in eine Ecke. Dann verschwand Dulexy lachend im Flur.
Mulders Blick fiel auf die
Schere. Sie lag gut drei Meter von ihm weg, was in seiner momentanen Verfassung
genauso gut drei Meilen hätten sein können.
Er versuchte, eine Hand nach dem Gegenstand auszustrecken, das ihm zur
Flucht verhelfen konnte, aber seine Arme wollten nicht auf seine Befehle hören.
Die Chance, von diesem Monster frei zu kommen, war so nahe, aber er wusste jetzt
sicher, dass er hier sterben würde. Scully hatte ihn nicht finden können, und
obwohl Dulexy ihn losgebunden hatte, war ein Entkommen in seiner Verfassung
unmöglich. Dulexy würde Scully vergewaltigen und umbringen, sich das Geld
schnappen, dann zurück zu Mulder gehen und ihn ebenfalls töten. Er zitterte bei
diesem Gedanken am ganzen Körper.
Mit einem Flehen, sie möge
ihm verzeihen auf den Lippen wurde es schwarz um Mulder.
Um elf Uhr ging Scully aus
dem Haus—Koffer mit Geld in der einen Hand, Handtasche über der anderen
Schulter. Sie war entschlossen, Dulexy umzubringen, denn um nichts in der Welt
würde sie ihn lebend davonkommen lassen.
Doch all ihre Pläne
schwanden dahin, als ihr Wagen in ihrem Versuch, einem vor ihr ins Schleudern
gekommenen Fahrzeug auszuweichen, von der regennassen Fahrbahn abkam und direkt
gegen einen Telefonmast knallte. Wenn sie schneller gefahren wäre, wäre sie
womöglich umgekommen. Doch jetzt war sie bewusstlos und bekam nicht mit, wie
der andere Fahrer einen Rettungswagen rief, der sie in das nächst gelegene Krankenhaus brachte.
Das Stechen in seinen
Armen weckte ihn. Das Blut, das langsam wieder in seine Gliedmaßen zurück
kehrte, wirkte wie tausend kleiner Nadelstiche auf jedem Zentimeter seiner
Haut, und es riss Mulder aus dem gemütlichen, dunklen Ort, zu dem er sich
zurück gezogen hatte, und in die Wirklichkeit hinein.
Die Wirklichkeit war ein
riesengroßer Scheißhaufen.
Mit einem Ächzen öffnete
Mulder die Augen und nahm seine augenblickliche Lage wahr. Er lag ausgebreitet
auf dem Boden, seine nutzlosen Arme schmerzten wie verrückt, seine Beine waren
immer noch an den Fußgelenken zusammen gebunden. Ein gebrochener Fuß,
gebrochene Rippen, gebrochener linker Daumen, gebrochener rechter Zeigefinger,
ein Bauch, der in Flammen zu stehen schien und höllisch weh tat. Und drei Meter
weiter weg, kaum sichtbar in der dunklen Ecke, lag die Schere, die Dulexy da
gelassen hatte. Wenn er sie kriegen könnte....
Mulder versuchte, mit
Hilfe seiner Hände aufzustehen und fuhr zusammen bei den Schmerzen in seinen
Fingern. Beide Hände waren jeweils zu ihrer doppelten Größe angeschwollen, und
die linke hatte sich ganz dunkel, fast schwarz, gefärbt. Das konnte er in dem
schwachen Mondlicht gerade noch erkennen. Er schaffte es unter relativ starken
Schmerzen, sich auf seine Ellbogen aufzustützen, aber er war zu schwach, um
sich lange so aufrecht zu halten, also fiel er schon bald in sich zusammen
zurück auf den Boden. Tränen der
Verzweiflung benetzten wieder einmal seine Wangen.
Dulexy würde bald wieder
zurück sein, entweder mit oder ohne Geld. Mulder konnte nur warten. Egal was
passierte, Dulexy plante mit Sicherheit, ihn bald zu erledigen. Er könnte
einfach hier liegen bleiben, vielleicht wieder in eine erlösende Ohnmacht fallen,
und Dulexy würde ihm schließlich die Bürde, die sein Leben geworden war, für
immer von ihm nehmen. Scully würde natürlich um ihn trauern, aber sie hatte
schon mal ein Leben ohne ihn geführt. Emmie würde ihn vermissen—sie hatte schon
einmal einen Vater verloren—und das tat Mulder aufrichtig leid, aber er konnte
nicht mehr. Keine Kraft, kein Mut, nichts mehr.
Aber vielleicht, nur
vielleicht, könnte er sich in diese Ecke schleppen, wenn er es langsam anging.
Er könnte vielleicht die Schere erreichen, könnte die Seile an seinen Füßen
zerschneiden, und vielleicht aus dem Haus kriechen, bevor Dulexy zurück kam.
Würde ihm genug Zeit dafür bleiben?
//Nicht wenn du hier
liegen bleibst und dich weiter bemitleidest, Arschloch// spottete seine
verfluchte innere Stimme. //Los, beweg dich!//
Mulder holte tief Luft,
die er aber in Beachtung seiner verletzten Lunge langsam heraus ließ, und er
erhob sich kommando-artig auf die Ellbogen. Er ließ seine protestierenden Rippen
links liegen und bohrte seinen rechten Ellbogen in den Holzboden, denn dieser
war zum Glück alt und morsch, so dass das klappte, und zog sich nach vorne. Er
schaffte es, sich etwa 30 cm vorwärts zu bewegen, bevor er anhalten musste, um
sich auszuruhen. Er schnappte nach Luft, die nie genug zu sein schien, und
könnte beim besten Willen nicht den Körperteil benennen, der am meisten weh
tat.
Als er sich etwas erholt
hatte, biss er die Zähne zusammen, zog sich wieder hoch und wiederholte die
Prozedur mit seinem linken Arm. Wieder ein paar Zentimeter. Entschlossen und
vollkommen auf die glänzende Form, die vor ihm lag, konzentriert, befahl er
seinen Armen ihren Teil der Rettung beizusteuern. Sie waren das einzige, auf
das er sich momentan verlassen konnte. Schweiß brach ihm aus sämtlichen Poren
und die Schwellungen in seinen Händen und Fuß brachten ihn fast zum Schreien,
aber er bewegte sich weiter vorwärts. Wenigstens weinte er nicht mehr.
Dulexy wartete für seinen
Teil, bis Scully eine Stunde zu spät war und verließ dann den Ort ihres
Rendezvous im Dunkeln der Nacht. Mulder würde jetzt den letzten Preis dafür
zahlen, nahm er sich vor. Er hatte diese Familie so was von satt. Er würde das
Geld vielleicht nicht bekommen, aber er würde eine Menge Spaß haben, Rache für
die Schwierigkeiten, die er hatte, zu üben. Oh ja, Mulder, dachte er
ausgelassen, als er nach Hause fuhr, du und ich werden die ganze Nacht lang
spielen.
Mulders Augen flogen auf,
als er den lauten Knall einer zufallenden Tür hörte. Wieder rüttelte die Wucht
das ganze Haus, und Mulder lief der kalte Schweiß über den Rücken, als er sich
erinnerte, wann Dulexy das letzte Mal so wütend gewesen war.
"Scheiße", flüsterte er und schnappte nach Luft. "Scheißescheißescheiße!"
Er hatte nur für einen
Moment die Augen zugemacht, um sich auszuruhen, aber jetzt bearbeitete er die
Seile wieder aufs Heftigste. Er hatte fast zwei Stunden gebraucht, um die
Schere zu erreichen. Als er einmal seinen Schatz greifen konnte, war er total
erschöpft gewesen und hatte ununterbrochen vor Schmerzen geweint. Er hatte es
geschafft, sich aufrecht hinzusetzen und sich daran gemacht, die Seile an
seinen Füßen zu zerschneiden.
Eine Schere zu benutzen,
wenn man an jeder Hand jeweils einen gebrochenen Finger hat, war geradezu
unmöglich, und Mulders unbeholfene Versuche hatten bereits einen tiefen Schnitt
in seinem linken Fuß zufolge, der stark blutete. Er hatte versucht, die Blutung
mit einem Fetzen aus seinem Hemd zu stillen, doch das hatte nicht viel geholfen.
Er hatte gerade Mal die Hälfte der dicken Seile geschafft, als er Dulexys
Schritte im Flur näher kommen hörte.
Er stöhnte leise vor
Verzweiflung, als er seine Bemühungen erneuerte und dabei die Tür im Auge
behielt. Ihm war klar, dass es ein sinnloses Unterfangen war, aber er wollte
das Erfolgserlebnis, für das er so lange hart gearbeitet hatte und dem er so
nahe war, nicht aufgeben.
Mulder hörte auf, als
Dulexy den Raum betrat und sich augenblicklich umsah, bevor er ihn
zusammengekauert in der Ecke entdeckte. Er kam zu ihm herüber und kniete sich
mit im Mondlicht glänzenden Augen neben ihn hin.
"Soso, du dachtest
also, du könntest abhauen, was?" fragte Dulexy und Mulder roch den
gewohnten Alkoholgestank in seinem Atem.
Er starrte Dulexy nur
wortlos an. Er hatte ihm nichts zu sagen und das Offensichtliche abstreiten zu
wollen wäre dumm. Er fragte sich, was dieses Mal wohl falsch gelaufen war, aber
das war letztendlich auch egal, oder?
Dulexy war betrunken und wütend und er würde ihn dieses Mal sicherlich erledigen.
Doch zu seiner
Verwunderung nahm Dulexy ihm behutsam die Schere aus seiner ruinierten Hand und
schnitt vorsichtig, um Mulders Haut nicht durchzuschneiden, die Seile auf.
Mulder klappte vor Staunen das Kinn auf, aber bevor er irgendetwas sagen konnte,
stand Dulexy auf, packte ihn an seinem gebrochenen Fuß und zog ihn ruppig
zurück in die Mitte des Raumes. Mulder
schrie auf.
"Ich bin gleich
wieder da", sagte Dulexy zwinkernd, "dann werden wir über dein
Benehmen sprechen. Nicht weg gehen."
Mulder versuchte
verzweifelt, zurück in die Ecke zu kriechen.
Törichterweise dachte er, er sei dort besser geschützt, doch bevor er
sich überhaupt auf den Bauch drehen konnte, war Dulexy wieder da. Mit dem
Eisenrohr.
Mulder wimmerte tief in
seiner Kehle, seine geschwollenen Hände grabschten auf dem Boden auf der Suche
nach Halt. Instinktiv wollte er zurück weichen, aber er konnte sich nicht einen
Zentimeter bewegen.
"Sie hat mich zum
letzten Mal verarscht", verkündete Dulexy und schwang das Rohr vor und
zurück. "Jetzt bringe ich dich um. Und dann bringe ich sie um. Und dann werde ich ein bisschen Spaß mit
eurem hübschen kleinen Mädchen haben, bevor ich deren Hals in zwei Stücke
schneide."
Mulder kam die Galle hoch.
Der Gedanke daran, dass dieser Hurenbock Hand an Scully oder Emmie anlegen
könnte, schickte eine Welle von Adrenalin durch seinen Körper. Doch leider war
sein Körper zu kaputt, um Nutzen daraus zu ziehen. Wortlos sah er zu, wie
Dulexy das Rohr über seinem Kopf kreisen ließ, und war also nicht völlig überrascht,
als er den Stahl in sein rechtes Bein feuerte, so dass die Knochen unter seiner
Kniescheibe zu Brei zermalmt wurden.
Er hörte das bekannte
Geräusch, bevor er in Dunkelheit gehüllt wurde.
Doch schon einige Minuten
später wurde er zurück an die Oberfläche geholt, als Dulexy ihm eine Ladung
eiskaltes Wasser ins Gesicht schüttete.
"So leicht kommst du
mir nicht davon", zischte Dulexy. "Ich will, dass du siehst, was ich
mit deiner Frau und Tochter mache, wenn du stirbst. Dann kannst du vielleicht
aus der Hölle zusehen, wie ich die beiden quäle."
Prustend leckte Mulder das
Wasser von seinen Lippen und wünschte sich, Dulexy hätte mehr davon in seinen
Mund anstatt auf seine Klamotten gekippt.
Er versuchte, sich auf Dulexys Worte zu konzentrieren, doch sie wollten
in Mulders durcheinander geworfenem Hirn einfach keinen Sinn ergeben. Es waren
lediglich unbedeutende Töne hintereinander, die nur durch die Satzbetonung als
Sätze auszumachen waren. Dann waren da keine Sätze mehr, und Mulder schnappte
nach Luft, unfähig zu sprechen oder seinen Schmerz und seine Angst heraus zu
schreien, als Dulexy das Rohr wieder hob.
Dieses Mal hatte er es auf
das andere Bein abgesehen, ungefähr an genau derselben Stelle, und Mulder schaffte
es zu schreien, zum Teufel mit der durchbohrten Lunge. Eigentlich war es so
etwas wie ein lautes Stöhnen, und er spürte, wie seine Rippen protestierten,
als es aus ihm heraus kam.
"Vielleicht werde ich
deine Frau fesseln und sie zwingen zuzusehen, wie ich ein bisschen mit Eurer
Tochter spiele. Ist sie noch Jungfrau, Mulder? Hat jemand schon mal ihre heiße,
feuchte Möse angefasst? Du zum Beispiel, Mulder?"
Wieder ergaben die Worte
keinen Sinn, und Mulder ahnte nicht, dass das im Moment ein Vorteil für ihn
war. Hätte er Dulexys Sprüche verstanden, hätte es seine hilflose Wut nur noch
gefördert.
Dulexy hob das Rohr wieder
und Mulder bettelte jetzt nur noch. Ihm war die Erniedrigung so was von egal,
genauso wie mögliche Folgen. Er dachte und fühlte nichts anders mehr als die
unsäglichen Qualen, in denen er sich konstant befand, und er würde alles, aber
auch alles dafür tun, damit es aufhört.
"Bitte... nicht
mehr", heulte er schwach. "Bitte erschieß mich.... Dulexy.... ohgottbittenichtmehr!"
Ihm wurden seine kaum
zustande gebrachten Worte aus dem Mund gerissen, als Dulexys Rohr unter seinem
rechten Ellbogen landete und seinen Unterarmknochen zerschmetterte. Er
kreischte hoch und laut. Er hörte es kaum, bevor er das Bewusstsein verlor.
Dulexy brachte ihn wieder mit dem kalten Wasser zurück. Er ignorierte Mulders
flehendes Wimmern und wiederholte den Schlag auf den anderen Arm seines Opfers.
Dann trat er zurück und betrachtete sein Werk.
Der geschundene,
gebrochene Mann zu seinen Füßen lag leise stöhnend da. Ein langer, erbärmlicher
Schmerzensschrei durchbrach die sonst so stille Nacht, unterbrochen von
keuchenden Atemzügen, die nicht genügend Sauerstoff liefern konnten. Mulder
würde es nicht mehr lange machen, und für eine Sekunde dachte Dulexy daran, das
Rohr in seinen Kopf zu jagen und seinem Leid ein Ende zu machen. Doch dann
entschied er sich hämisch grinsend anders. Es könnte ja ganz interessant sein
zu beobachten, wie lange genau Mulder brauchen würde, um zu sterben. Er könnte
es sich genauso gut ansehen.
Sylvia Stiles saß
zusammengekauert auf ihrem Bett und versuchte, das erbärmliche Wehklagen, das
gnadenlos durch die klare Nacht und die Vorhänge an ihren offenen Fenstern zu
ihr drang, zu überhören. Justin hatte gesagt, dass er dem Mann nicht sehr weh
tun würde, aber es lag auf der Hand, dass er wieder einmal gelogen hatte.a
Sie wollte so sehr zu ihm
gehen, ihm helfen und Justin von da weg holen, aber sie traute sich nicht. Wenn
Justin erfahren würde, dass sie einen Strich durch seine Pläne ziehen wollte,
würde er sie auf der Stelle umbringen—daran hatte sie keine Zweifel. Es war
schon schlimm genug, dass sie dem Gefangenen ein Glas Wasser gegeben hatte,
aber ihm wirklich helfen zu wollen zu fliehen.... naja, sie hatte Glück, dass Justin
das Glas Wasser nicht bemerkt hatte, sonst wäre sie es vielleicht, die vor
Schmerz heulte und stöhnte.
Dann, endlich, hörte es
auf und Sylvia fragte sich, ob die Geisel zugrunde gegangen war. Sie zog
ärgerlich die Nase hoch. Justin hätte ihn nicht umbringen müssen. Er hatte wie
ein netter Mensch ausgesehen, selbst wenn er mal im Gefängnis gewesen war, und
seine Frau war, seit sie denken konnte, eine der wenigen Menschen gewesen, die
sie mit Respekt behandelt hatte. Sie mochte den Gedanken daran nicht, dass die
hübsche kleine Frau ohne ihren Ehemann war.
Plötzlich fiel ihr etwas
ein und sie stieg aus dem Bett. Sie ertastete sich im Dunkeln den Weg in die
Küche, denn sie wollte kein Licht machen, um Justin nicht zu verraten, dass sie
wach war. Als sie die Küche erreichte, öffnete sie die oberste Schublade neben
dem Kühlschrank und fühlte darin nach der kleinen, weißen Karte, die die Frau
des Gefangenen ihr gegeben hatte. Sie wusste noch, dass darauf eine
Mobilfunknummer stand. Sie würde diese Nummer gleich morgen früh als erstes
anrufen. Es war ihr egal, ob Justin wieder zurück ins Gefängnis musste. Sie
wollte nicht den Tod dieses armen Mannes auf dem Gewissen haben.... das würde sie nicht noch einmal aushalten. Ihre Mutter
und Justin hatten immer gedacht, dass Großvater an Alkohol gestorben war, und
Sylvia hatte keiner Seele erzählt, dass sie mehr wusste—viel mehr, als sie es
sich jemals hatte anmerken lassen.
Großvater hatte ihr einfach einmal zuviel weh getan.
Sie tappte langsam zurück
in ihr Schlafzimmer und kroch unter die Decken.
Das Heulen fing wieder an. Sylvia hielt sich die Ohren zu und vergrub
ihren Kopf unter dem Kissen.
Mulder wurde aus seiner
seligen Ohnmacht gerissen, als Dulexy ihn mit Wasser übergoss. Wieder schnappte
Mulder durstig nach den Tropfen, die auf seinen Lippen landeten. Durch den
Schleier aus Schmerzen und Angst war sich Mulder schwach bewusst, dass Dulexy
sich auf die Matratze gesetzt hatte, die auf dem Bettgestell lag, und ihn
beobachtete. Er ärgerte ihn weiter mit sinnlosen Worten und Phrasen, aber sie
alle sagten Mulder nichts. Das einzige, dessen er sich wirklich bewusst war,
war die unglaubliche Intensität der Schmerzen, und die Tatsache, dass wann
immer er bewusstlos wurde, Dulexy ihn mit kaltem Wasser zurück holte.
Irgendwann gewöhnte sich
Mulder soweit an die Schmerzen, dass er wieder halbwegs zusammenhängend denken
konnte. Er bewunderte die Standhaftigkeit des Lebens. Wenn er die Szene von
außen hätte ansehen müssen, hätte er die Farm darauf verwettet, dass der Mann
dort am Boden die Nacht nicht überleben würde, aber als das Morgenlicht langsam
durch die kaputten Fenster kroch, merkte er, dass er noch am Leben war—wider
aller Wahrscheinlichkeiten.
Das Wasser, das Dulexy
fortwährend auf ihn warf, hatte seine Lage tatsächlich etwas verbessert. Doch
obwohl er ihn dadurch vor dem Verdursten bewahrte, bewirkte das Wasser auch,
dass die Nerven in seinen Extremitäten wieder erwachten. Mulder hatte sich
schon mal den ein oder anderen Knochen gebrochen, und es war ihm gar nicht so
schlimm vorgekommen, sobald er über den Anfangsschmerz hinaus war, aber das
hier.... fasziniert stellte er fest, dass es mit jedem
weiteren gebrochenen Knochen mehr und mehr weh tat.
Er versuchte, all seine
gebrochenen Knochen zusammen zu rechnen und die Summe mal, hm, sagen wir zehn
zu multiplizieren, aber er konnte sich nicht lange genug konzentrieren, um auf
die eigentliche Rechnung zu kommen. Jeder einzelne zermarterte Knochen schrie
ihn um Aufmerksamkeit an, und sobald er sich erst lange genug einem zuwandte,
um ihn hinzuzuzählen, war Mulder unfähig, seine Gedanken von seinen Schmerzen
abzulenken. Nach einer Weile gab er es auf und vertiefte sich in dem Versuch,
einfach noch ein wenig länger am Leben zu bleiben. Vielleicht, wenn Dulexy ging.... vielleicht könnte er sich dann ein wenig bewegen....
vielleicht....
Das pausenlose Klingeln
ihres Handys brachte Scully zurück ins Bewusstsein. Sie öffnete die Augen und blickte sich konfus
um, bevor sie erkannte, dass sie sich in einem Krankenhausbett befand.
Ihre Mutter saß an ihrer
Seite. Allem Anschein nach war sie die ganze Nacht da gewesen. Sie wachte
gerade durch das Klingeln des Telefons auf.
"Mom", krächzte
Scully. "Mom", versuchte sie es noch mal.
Maggie öffnete die Augen
und sah müde aber glücklich in das Gesicht ihrer Tochter.
"Du bist wach",
stellte sie mit sanfter, zufriedener Stimme fest.
Scully bemühte sich um
Klarheit in ihrem benebelten Hirn. Was war passiert? Sie versuchte, die Stücke zu einem Ganzen
zusammen zu puzzeln, als es sie wie der Blitz traf. Mulder. Dulexy. Ihr Wagen,
der von der Straße abkam. Dulexy, der
wartete und sicherlich mit jeder Minute wütender wurde, weil sie nicht
erschien. Und Mulder in seiner Gewalt....
"Mom, könntest du mir
bitte mein Telefon aus der Tasche bringen? Es könnte um Mulder gehen."
Scully versuchte, nicht hysterisch zu klingen, aber sie fürchtete die
Konsequenzen, die Mulder betreffen könnten, weil sie das Treffen mit Dulexy
nicht einhalten hatte können. Was wäre, wenn er Mulder verletzt hatte.... oder
schlimmeres?
Endlich fand ihre Mutter
das klingelnde Handy, aber als Scully dran gehen wollte, hörte es auf.
Erleichtert sah sie einen Moment später das Display aufleuchten, das ihr
zeigte, dass jemand eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte. Hastig
drückte Scully die Nummer zu ihrer Mailbox.
"Mrs. Mulder, hier
ist Sylvia Stiles", meldete sich die ängstliche Stimme. "Es geht um ihren Mann. Ich glaube....
Sie kommen besser her, ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich glaube, dass Justin
ihn... naja, ich kann hier am Telefon nicht reden. Kommen Sie heute her, so
schnell sie können."
Alle Farbe floss aus
Scullys Gesicht, als sie die Nachricht hörte und sie brauchte all ihre
Selbstkontrolle, um das Handy nicht an die Wand am anderen Ende des Zimmers zu
werfen. Sie war sich natürlich sicher gewesen, dass Sylvia gelogen hatte, als
sie behauptet hatte, sie wisse nichts über Mulder, aber sie hatte ihr nichts
nachweisen können und sie hatte nicht gewollt, sich die Frau zum Gegner zu
machen, indem sie ihr ihren Verdacht sagte. Im Nachhinein, dachte sie nach, als
sie ihre zerbeulte Gestalt auf dem Bett aufrichtete, war es gut, dass sie
Sylvia nicht gegen sich gerichtet hatte. Es sei denn Mulder war bereits tot.
"Dana, was tust du
da?" wollte Mrs. Scully erschrocken wissen, als ihre Tochter sich den
Tropf aus ihrer linken Hand zog. "Das kannst du nicht machen!"
"Ich muss gehen,
Mom", sagte Scully geduldig und drückte einen Waschlappen auf ihre Wunde,
um die Blutung zu stillen. Langsam schaffte sie es zum Kleiderschrank, in dem
sie zu ihrer Zufriedenheit ihre Kleidung säuberlich aufgehängt vorfand.
"Es ist vielleicht schon zu spät."
"Zu spät für
was?" fragte ihre Mutter durcheinander.
"Für Mulder."
Als sie sah, wie verängstigt ihre Mutter aussah, fügte sie sanft hinzu,
"Ich bin okay, Mom. Ich habe nur ein paar blaue Flecken, das ist alles.
Ich werde wieder gesund. Ich muss jetzt meinen Mann finden."
Sie stützte sich an das
Bett, als sie ihre Jeans anzog, und schenkte der Krankenschwester, die durch
das piepsende Injektionsgerät alarmiert worden war, keine Beachtung. Im
Hintergrund hörte sie, wie ihre Mutter versuchte, der Schwester die Situation
zu erklären, denn sie war schon voll mit sich selbst beschäftigt, sammelte all
ihre Kräfte, um sich auf das vorzubereiten, was sie fürchtete vorzufinden.
Sie nahm ihre persönlichen
Sachen und ging zum Aufzug. Als ihre Mutter lauthals nach ihr rief, hielt sie
die Aufzugtüren auf, bevor sie sich schließen konnten. Maggie kam den Korridor
herunter gelaufen.
"Du kannst nicht
fahren, dein Wagen ist Totalschaden", informierte Maggie sie. "Wo
auch immer du hin willst, ich muss dich fahren."
"Leih mir einfach
dein Auto, Mom. Es geht mir gut", antwortete Scully ungeduldig und hielt
ihre Hand nach den Schlüsseln aus, die Maggie aber absichtlich hinter ihrem
Rücken fest hielt.
"Ich werde dich nicht
in dieser Verfassung fahren lassen", bekräftigte sie mit der festen
Entschlossenheit in der Stimme, die Scully noch aus ihrer Kindheit kannte.
"Du stehst immer noch unter Beruhigungsmitteln, und das letzte, was du
brauchst, ist noch ein Unfall, bei dem du womöglich umkommst. Also, wo fahren
wir hin?"
"Wir müssen zu
Walter", sagte Scully, als sie ihrer Mutter in die Tiefgarage folgte.
"Ich werde nicht gehen, ohne ihm wenigstens Bescheid zu sagen."
"Gute Idee",
stimmte ihre Mutter zu und half Dana beim Einsteigen. Sie fuhr vorsichtig aber
flink zu dem nahegelegenen Krankenhaus, wo Skinner für den Großteil der letzten
Woche gelegen hatte. Scully war die ganze Fahrt über still und gespannt gewesen
und hatte über Sylvias Nachricht nachgedacht. Sollte das heißen, dass die Frau
wusste, wo Mulder war? Oder hatte sie nur einen Verdacht? Egal, das war mehr,
als sie je zuvor hatten.
Sie versuchte, ihre
Hoffnungen nicht zu hoch zu schrauben, als sie im Fahrstuhl zu Skinners
Krankenzimmer hoch fuhren, aber es war unmöglich, sich nicht an den Glauben zu
klammern, Mulder lebendig und gesund wieder zu finden. Ausgenommen die
gebrochenen Knochen, erinnerte sie sich. Dulexy würde dafür immer noch sterben
müssen.
Als Mulder die Augen
wieder aufschlug, war Dulexy fort. Er blickte sich soweit es ging um, denn sein
Folterer konnte womöglich in einer der dunklen Ecken sitzen. Doch er war
wirklich allein. Langsam beurteilte er die Situation. Er war vollkommen
hilflos, dessen war er sich sicher. Er konnte nicht gehen, er konnte sich nicht
einmal ohne höllische Schmerzen bewegen.
Niemand wusste, wo er war, er war praktisch schon verhungert und
verdurstet, obgleich er sich durch Dulexys Wasserfolter ein wenig wiederbeleben
konnte.
Er war hilflos und
trotzdem wies er sich an, wenn er nicht irgendetwas tat, würde Dulexy erst ihn
umbringen und dann hinter Scully und Emmie her sein. Er hatte keine Angst mehr
vor seinem eigenen Tod, den er im Grunde sogar willkommen hieß, aber seine
Familie musste beschützt werden. Es war alles, was er ihnen noch geben konnte.
Sie durften nicht wegen ihm und seiner Vergangenheit leiden.
Mit Anstrengungen, die
ihre Energie aus schierer Willenskraft schöpften, schaffte Mulder es, sich nach
einigen peinigenden Versuchen auf den Bauch zu rollen. Seine gebrochenen und
geschwollenen Gliedmaßen brannten gnadenlos und der Druck auf seinen Rippen,
der bei der Landung auf seinem Bauch entstand, raubte ihm das letzte bisschen
Luft, das noch in seinen Lungen war. Er blieb liegen und fuchtelte schwächlich
für einige Minuten, bis er sich genügend erholt hatte, um seinen Kopf heben zu
können und seinen Erfolg zu begutachten. Die Schlafzimmertür lag einen Meter
vor ihm.
Dulexy war nur für ein
paar Minuten weg gewesen, aber Mulder wusste, dass er jeden Moment zurück
kommen konnte. Wenn er sich mitten im Flur befinden würde, wenn sein
Geiselnehmer zurück kam, würde er Mulder höchstwahrscheinlich umbringen.
Vielleicht würde Dulexy ihm dieses Mal den Schädel mit dem Rohr spalten, oder
seine Wirbelsäule in zwei Teile zersägen. Wie auch immer, er hatte nichts zu
verlieren. Er würde sowieso sterben. Wenn er doch nur an ein Telefon käme und
Scully warnen könnte, dann könnte er wenigstens in Frieden sterben.
Mulder zwang sich wie
zuvor auf seine Ellbogen, stöhnte auf bei dem stechenden Schmerz seine Arme
überhaupt zu bewegen und zog sich stur vorwärts.
Dulexy hatte die ganze Zeit
zugesehen, wie Mulder zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein hin und her
rutschte, bis es ihm schließlich zu langweilig geworden war. Er hatte sein
hilfloses Opfer vier oder fünf Mal aus der Bewusstlosigkeit geholt, das bei
jeder Ladung Wasser in sein Gesicht spuckte und röchelte. Dulexy hatte
schadenfroh gegrinst, als er Mulders Ausdruck in den Augen sah, der Mal um Mal
feststellen musste, dass er immer noch am Leben war. Irgendwann war er es leid
geworden und war rüber in Sylvias Haus gefahren. Er brauchte Geld. Nachdem er
Mulders Leiche los würde, wäre es wohl besser, für eine Weile die Stadt zu
verlassen, überlegte er. Das Miststück hatte bestimmt irgendwo in der großen
alten Hütte Bares versteckt. Wenn sie es ihm nicht gab, würde er sie umbringen
müssen.
Er stellte seinen Truck in
der Auffahrt ab und nahm die Abkürzung durch das Wäldchen zu dem Haus, in dem
er aufgewachsen war. Justin kannte sich hier seit er ein Kind gewesen war wie
in seiner Westentasche aus, und seit damals hatte sich nicht viel verändert. Er
näherte sich dem Haus von Norden aus, ging um die Ecke an der Küchentür vorbei,
und wollte gerade auf den Gehweg gehen, als er seine Schwester durch das
Schlafzimmerfenster sprechen hörte.
"Ich glaube.... Sie
kommen besser her, ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich glaube, dass Justin ihn...
naja, ich kann hier am Telefon nicht reden.
Kommen Sie heute her, so schnell sie können."
Rasende Wut durchfuhr ihn
wie ein Blitzschlag. Seine Stimmung schlug augenblicklich um, von unbeschwerter
Schadenfreude in mörderische Rage. Sie wollte ihn verraten. Seine eigene
Schwester!
Er sah sich nach etwas um,
dass er als Waffe benutzen konnte, doch er fand nichts passendes.
Also betrat Dulexy lautlos die Küche und kroch vorsichtig durch die
Verbindungstür. Da, vor der Feuerstelle. Ein eiserner Schürhaken. Der würde reichen. Er schnappte sich das Ding
und schlich durch den Flur zu Sylvias Zimmer.
Sylvia hörte die Schritte
auf dem knarrenden Holzfußboden und versteckte das Telefon und die Karte unter
dem Kopfkissen. Das musste Justin sein.
Vielleicht, wenn sie ihm eine Tasse Kaffee anbieten würde und guter
Dinge war, könnte sie ihn loswerden.
"Hallo Justin",
begrüßte sie ihn schnell, als er in das Zimmer kam. "Möchtest du
vielleicht eine...."
Sie konnte ihren Satz nicht
beenden, bemerkte kaum den Schürhaken in seiner Hand, bevor er ihne hoch in die
Luft schwang und ihn auf ihren Schädel knallte. Das Krachen und Knarzen war das
letzte, was sie je hörte.
Dulexy langte noch zwei
Mal zu, zur Sicherheit, bevor er seine Waffe weg legte. Er wickelte die blutige
Masse, die einmal der Schädel seiner Schwester gewesen war, in einen
Bademantel, der am Fußende des Bettes lag, hob dann ihre Leiche hoch und trug
sie den Flur hinunter aus dem Haus. Dort legte er sie grob auf den Boden und
zog die Klappe der Kellertür auf, die einige Meter neben der Küche war. Er hob
Sylvias leblose Gestalt wieder hoch und sah desinteressiert zu, wie sie die
Treppe herunter fiel. Dann knallte er die Tür zu und schlenderte zurück zum
Haus. Er würde gleich in seinen Truck steigen und sich um diese Mulder-Frauen
kümmern, dachte er zufrieden, als er durch das Wäldchen ging. Vielleicht würde
er sie sogar her bringen und Mulder zusehen lassen, während er mit ihnen
spielte—wenn das Arschloch immer noch atmete, wenn er zurück kam. Er musste
lachen bei diesen Aussichten. Dieser Tag wurde einfach immer besser.
"Was machst du denn
so früh schon hier? Und was zum Henker ist mit dir passiert?" verlangte
Skinner von seinem Krankenhausbett aus, als Scully sein Zimmer betrat. Sie war
blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und auf ihrem linken Wangenknochen
prahlte ein dicker Bluterguss.
"Ich habe jetzt keine
Zeit für Erklärungen. Ich brauche deine Hilfe."
Er fuhr seine Rückenlehne
hoch, so dass er sitzen konnte und hob wissbegierig eine Augenbraue.
"Ich dachte, du
hättest dich um Mitternacht mit Dulexy getroffen—was ist mit Mulder?"
Scully biss sich fest auf
die Lippe. Sie würde der Verzweiflung, die sich in ihr breit machen wollte,
jetzt keinen freien Lauf lassen.
"Ich hatte einen
Autounfall auf dem Weg dorthin. Ich bin bewusstlos geworden und man hat mich in
ein Krankenhaus gebracht. Ich bin heute Morgen aufgewacht, als mein Handy
geklingelt hat. Dulexys Schwester hat mir aufs Band gesprochen. Sie hat gesagt,
ich soll sofort zu ihr fahren, sie wollte mit mir reden."
"Hat sie gesagt, wo
wir Mulder finden können?" fragte er gespannt.
Sie schüttelte den Kopf.
Ich wette allerdings, dass sie weiß, wo er ist.
Ich fahre jetzt da hin.
Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist."
"Und was machst du
dann noch hier? Wir haben keine Zeit zu...."
"Ich brauche
Unterstützung. Verstärkung vom FBI. Ich will nichts mehr mit der Polizei zu tun
haben."
Er starrte sie für einen
Moment an, dann begann er langsam und nachdenklich den Kopf zu schütteln.
"Keine Verstärkung, Scully", sagte er bestimmt, zog seine Decke
zurück und versuchte schwankend aufzustehen. "Jedes Mal, wenn Verstärkung
im Spiel war, hat es Mulder nur Müll eingebracht. Wir gehen alleine."
"Walter, du kannst
nicht...."
"Doch, ich kann. Ich
bin viel stärker als du glaubst. Meine Verletzung war bei weitem nicht so
schlimm wie deine damals. Ich bin außerdem schon hier im Krankenhaus herum
gelaufen. Und wir sind vielleicht Mulders letzte Hoffnung."
Er machte alles genauso,
wie Scully zuvor—entledigte sich seiner Infusionsnadel, ließ den piependen
Monitor und die dazugehörige Schwester links liegen und sammelte seine Sachen
so schnell wie möglich zusammen. Er war gerade dabei, seine Schuhe zusammen zu
binden, als Jess mit einem Becher Kaffee in der Hand herein kam.
"Was zur *Hölle*
glaubst du machst du da?" fuhr sie ihn an, stellte die Tasse ab und baute
sich vor ihm auf.
Er störte sich nicht an
ihrem Ärger, als er in Ruhe seine Schnürsenkel weiter zuband. Dann sah er auf und
war gerührt durch die Sorge, die er in ihrem Gesicht sah.
"Scully und ich
müssen Mulder holen ", erklärte er, stand auf und legte eine Hand auf ihre
Schulter. "Wir sind die einzigen, die ihm helfen
können."
"Warum?" fragte
sie sanft. Sie wollte ihn anbrüllen, ihn zurück ins Bett beordern, die
Schwestern um genügend Beruhigungsmittel bitten, die ihn ruhig stellen und vor
jeglicher Gefahr bewahren würden. "Du bist nicht in der Verfassung, um das
Krankenhaus zu verlassen, Walter. Warum kannst du die Polizei das nicht
übernehmen lassen?"
"Sie hat recht,
Walter, es geht dir nicht gut genug. Besorg mir einfach zwei Agenten und lass
uns das regeln. Wir müssen uns beeilen, und du siehst nicht so aus, als
könntest du dich beeilen." Scully hüpfte praktisch vor lauter Unruhe von
einem Fuß auf den anderen. Sie verschwendete hier nur Zeit, während Mulder.... weiß der Himmel, was Mulder gerade passierte. "Du
könntest außerdem deinen Job deswegen verlieren", erinnerte sie ihn.
"Wir werden das
alleine regeln, Scully", bestand er stur darauf, als er sich anschickte,
jegliches Bitten und Flehen von Jess, Mrs. Scully und den beiden Schwestern
ignorierend zur Tür zu gehen. "Ich stehe ein Jahr vor meiner
Pensionierung. Wenn die mich deswegen feuern wollen, verzichte ich mit Freuden
auf meine Pension, wenn wir Mulder dafür zurück bekommen."
Scully nickte in
Zustimmung, weil sie nicht noch mehr Zeit mit Streitereien verlieren wollte.
Mrs. Scully wusste, dass sie überstimmt war und händigte ihr die Autoschlüssel
aus.
"Und dass du mir ja
lebend wieder zurück kommst", warnte sie mit einem bösen Blick zuerst auf
Dana, dann auf Walter. "Ihr beide. Und bringt Fox nach Hause."
"Ja, Mom", warf
Scully über ihre Schulter, als sie sie stehen ließen und so schnell es zwei
verletzten Menschen möglich war zum Wagen liefen.
Mulder hielt wieder an, um
sich zu erholen. Er musste sich endlich der Erschöpfung unterwerfen, die ihn
bezwang. Er hatte keine Kraft mehr, keine Möglichkeit....
aber er hatte neue Hoffnung geschöpft. Er hatte fast eine Stunde dafür
gebraucht, aber er war jetzt auf halbem Wege durch den Flur in die Küche, und
da, an der Wand über ihm, gute drei Meter weiter, hing sein Ziel. Ein Telefon.
Er hatte fast vor Glück
geheult, als er es gesehen hatte. Er war nämlich schon drauf und dran gewesen
aufzugeben, weil seine pausenlos protestierenden gebrochenen Knochen jede
Bewegung zur Hölle machte. Immer wieder wurde ihm schwindelig und er sah nur
noch grau, so dass er anhalten musste. Aber sobald er wieder klar sehen konnte,
begann er mit den tiefsten Atemzügen, die er nehmen konnte—nicht tief genug,
aber sie reichten aus --, sein Streben erneut.
Er hatte herausgefunden,
dass er mit seinen Beinen nur wenig nachhelfen konnte. Weil seine
Unterschenkelknochen kaputt waren, konnte er sie nicht anheben, so dass er
höchstens mit seinen Knien drücken konnte, soweit es ohne Anheben ging. Die
meiste Arbeit hing nach wie vor an seinen Armen, auch wenn seine zertrümmerten
Unterarme mit jeder Bewegung Feuer spuckten.
Er kam langsam vorwärts, Zentimeter um Zentimeter, aber seine
Fortschritte waren sichtbar. Zum Glück war der Boden im Flur aus Holz und nicht
mit Teppich ausgelegt, so dass er leichter rutschte. Allerdings hatte es ihm
einige Splitter aus dem lange vernachlässigten Holz in Bauch und Armen eingebracht,
die momentan allerdings seine kleinste Sorge waren.
Er hatte gerade seinen
Kopf nach der letzten erzwungenen Ausruhphase gehoben, als er ein Geräusch
hörte, dass ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er lag regungslos und
lauschte auf die Schritte, die sich über den quietschenden Holzboden draußen
vor der Küche näherten.
Tränen des Frustes und der
Angst wollten aus seinen Augen brechen, doch er hielt sie stur zurück, denn er
war ohnehin schon ein toter Mann. Es war egal, ob Dulexy ihn hier auffinden
würde oder da, wo er ihn verlassen hatte. Ganz gleich wie er es drehte, es
würde sein letzter Tag auf dieser Erde sein. Er biss die Zähne fest gegen den
Schmerz zusammen, der jetzt nicht mehr so einfach zu ignorieren war, weil er
sich nicht mehr aufs Fortbewegen konzentrieren musste, und wartete auf das
Schlimmste.
Er hörte, wie die
Küchentür geöffnet wurde und Dulexys schweren Gang über den Fußboden, aber er
konnte sich nicht dazu bringen aufzusehen, als er herein kam. Er legte seine
Wange auf den kalten Boden und schloss die Augen in Erwartung des ersten
Schlages.
Doch der kam nicht.
Stattdessen klangen die
Schritte, als ob sich deren Besitzer aus der Küche in einen anderen Raum
bewegte, dann schnell zurück zur Tür und das Haus verließ. Ein paar Sekunden
später hörte Mulder das Anlassergeräusch eines Wagens und das unverwechselbare
Motorengeräusch von Dulexys Truck, der weg fuhr. Mulder konnte sein Glück kaum
fassen. Dulexy war weg.
In der nächsten Sekunde
fiel ihm ein, wohin Dulexy wohl fahren würde—zu Scully und Emmie—und mit neuer
Entschlossenheit fiel sein Blick auf das Telefon an der Wand. Er musste das
Telefon erreichen, bevor Dulexy seine Familie erreichte.
Er brauchte fast noch eine
weitere Stunde bis dahin. Er ergriff das Kabel und schaffte es, es von der Wand
zu reißen. Doch alles, was er hörte, war Stille.
Das Telefon war tot.
Scully blickte auf der
Fahrt besorgt zu Skinner. Er sah überhaupt nicht gut aus—sein Gesicht war ganz
blass und eingefallen. Er hatte sich zurück an die Kopfstütze gelehnt, die
Augen geschlossen und sie konnte den dünnen Schweißfilm auf seiner Haut sehen.
Jedes Mal, wenn der Wagen über eine Unebenheit fuhr, zuckte er zusammen.
"Hättest verdammt
noch mal im Krankenhaus bleiben sollen", murmelte sie ärgerlich.
"Scully, ich sage
dir, du brauchst mich. Ich schaffe es schon."
Sie erwiderte daraufhin
nichts mehr, sondern fuhr bedachtsam weiter, um Unebenheiten zu vermeiden.
Schließlich bog sie von der Straße in einen staubigen Weg ein. Sie fuhr
langsamer und biss sich angestrengt auf die Unterlippe, weil sie sich auf die
holprige Straße konzentrierte.
Als sie am Ende den Wagen
vor dem Haus anhielt, öffnete Skinner mitgenommen die Augen.
"Sieht verlassen
aus", schloss er.
"Es sah nicht viel bewohnter
aus, als ich das letzte Mal hier war", gab Scully zurück, während sie sich
abschnallte.
Sie erwartete eigentlich,
dass Sylvia Stiles ihnen aus dem Haus entgegen gelaufen kam, doch alles blieb
still, als sie sich der Vordertür näherten.
"Miss Stiles?"
rief sie durch die Tür und klopfte hörbar an. "Ist jemand zu Hause?"
Niemand antwortete. Als
einige weitere Versuche ebenfalls erfolglos blieben, zog Scully die Tür auf und
trat in eine große Eingangshalle. Sie blinzelte einige Male, um ihre Augen an das
dunkle Licht zu gewöhnen und ging auf die Tür zu, von der sie annahm, dass sie
zum Wohnzimmer des Hauses führte. Skinner folgte ihr. Sie kamen in kleines
Arbeitszimmer, gemütlich und mit einer bewohnten Atmosphäre, trotzdem leer.
"Sylvia?" rief
Scully noch einmal. Sie zeigte zu dem Korridor, der aus dem Arbeitszimmer
führte. Am anderen Ende des Flurs zu ihrer Rechten lag eine große Küche, und
zur linken schienen einige Schlafzimmer zu sein. Sie wählten letztere und waren
nur ein paar Schritte gegangen, als sie erstarrten.
"Oh mein Gott!"
entfuhr es Scully leise, als sie auf den Boden sah.
Skinner folgte ihrem Blick
und entdeckte, was sie so erschreckt hatte.
Kleine Tropfen, wirr und in verschiedener Dichte, aber unverwechselbar
Blut, waren überall auf dem Boden verteilt. Die Spritzer wurden weniger und der
Abstand zueinander größer auf dem Weg zur Küche, und sie wurden mehr und
dichter auf dem Weg in ein Schlafzimmer.
Skinner stützte sie, als
sie schwankte und auf den riesigen Blutfleck auf dem Bett starrte.
"Was hat dieser
Bastard ihm angetan?" stieß sie hervor, unfähig wegzusehen von dem Ort,
von dem sie sicher war, dass Mulder dort seinen letzten Atemzug getan hatte.
"Natürlich ist es
nicht angeschlossen, du Idiot—in diesem Haus hat seit Jahren keiner mehr
gewohnt!" schalt er sich selbst, als er sich ein wenig beruhigt hatte.
"Such einfach einen anderen Weg."
Der Klang seiner eigenen
Stimme beruhigte Mulder beachtlich, so kratzend und heiser sie auch klang. Es
erinnerte ihn irgendwie daran, dass er wahrhaftig noch am Leben war, und er
alles tun sollte, um das auch zu bleiben.
Es erschien ihm jetzt
unmöglich, Scully vor Dulexy zu warnen. Sie würde sich auf ihre eigenen
Instinkte und ihren Verstand verlassen müssen, um sich und Emmie zu retten.
Andererseits würde ihn niemand retten, außer er
selbst, schloss er. Er hatte es durch den Flur in die Küche geschafft. Vielleicht, wenn er all seine Kraft
zusammenkratzen würde, würde er es aus dem Haus schaffen und ein Versteck
suchen können. Seine Muskeln probten den Aufstand, als er ihnen ankündigte,
dass sie wieder arbeiten mussten, aber er ignorierte ihre Beschwerden.
"Lass sie sich zusammenschließen", murmelte er mit Blick auf die
Küchentür gerichtet, die glücklicherweise offen stand. Er würde nie im Leben jetzt aufstehen können.
Es musste sich vollkommen auf seine Ellbogen, Knie und Hüften verlassen.
Langsam und mit eine Sturheit von der Mulder vorher hätte schwören können,
dass er sie nicht mehr aufbringen würde, begann er seinen Weg zu der Tür. Nach weiteren zwanzig anstrengenden Minuten
erreichte er sie und fing fast wieder erleichtert an zu weinen, als sie sich
ohne Probleme aufmachen ließ. Er zog
seinen Rumpf über die Schwelle und biss sich fest auf die Lippe, um nicht
aufzuschreien, als er seine Beine über die Erhebung zog. Noch ein paar Meter
weiter und er war an der Treppe. Jetzt legte Mulder seinen Kopf auf das feste,
kühle Holz und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Fünf Treppen. Fünf Treppen
nur führten bis zum Boden, die aussahen wie eine Meile. Wie würde er das je
schaffen können? Er hatte viel zu lange gebraucht, um hierhin zu gelangen,
Dulexy hatte wahrscheinlich schon seine Familie erledigt und war auf dem Weg
zurück. Selbst wenn er es die Treppen herunter schaffen würde, ohne sich das
Genick zu brechen—es gab nichts weiter als Staub und wucherndes Unkraut da
unten. Er würde sich nicht so leicht über den Boden ziehen können wie über den
Holzboden. Dulexy würde wahrscheinlich zurück kommen und ihn mitten auf dem Hof
in seinem Fluchtversuch erwischen. Und dann würde er ihn zweifellos den Rest
des Weges zu dem Tod, der ihm so nahe erschien, entlang prügeln.
Zur selben Zeit, in der
die Verzweiflung ihn abermals überkam, glimmerte ein winziger Funken Hoffnung
in ihm auf. Er war zum ersten Mal seit Tagen draußen, und das bloße Gefühl der
Freiheit baute ihn wieder ein wenig auf.
Die Sonne schien an einem knackigen Herbsttag, die Vögel sangen...
"Und du liegst hier und badest in der Sonne, anstatt dein Leben zu retten,
Vollidiot", meckerte er über sich selbst.
Er steckte Entmutigung,
die ihn drohte einzuholen, zurück und nahm die Treppen in Angriff.
"Ein Schritt nach dem
anderen, Mulder", keuchte er, als er langsam seinen rechten Arm herunter
ließ, so dass sein Ellbogen auf der ersten Treppe lag. "Einen nach dem anderen."
Er hatte gerade seinen
zweiten Ellbogen auf die Stufe geschafft, als er etwas hörte, dass das Blut in
seinen Adern gefrieren ließ.
Ein Auto fuhr auf der
Straße vorbei, irgendwo hinter den Bäumen vor ihm. Er konnte es ganz deutlich
hören. Es war nicht allzu weit weg, wenn er richtig vermutete. Fürs erste
fürchtete er, dass Dulexy zurück kehrte, aber als sich auf der Straße, die zu
dem Haus führte, niemand näherte, schloss er, dass es jemand anderes gewesen
sein muss, der einfach nur vorbei fuhr.
Andererseits, wenn es eine
Straße in der Nähe gab, könnte er es vielleicht bis dahin schaffen. Vielleicht
würde er jemanden finden, der ihm half.
"Noch vier
Stufen", sagte er zu sich und lehnte sich hinab, um Stufe Nummer Zwei zu
bezwingen.
Mulder schaffte es in
Rekordzeit zum Boden, als er mit einem Ellbogen auf der zweiten Stufe
ausrutschte und sein ganzer Körper auf den Boden gerissen wurde. Mit einem
qualvollen Aufprall traf er auf dem steinharten Boden auf. Sämtliche Atemluft wich aus seinen Lungen und
er glitt erleichtert in die Schwärze, die ihn wohlig einhüllte.
"Verfall nicht in
Panik, Scully, noch nicht", beschwichtigte er sie, während er sie am Arm
festhielt. "Wir wissen nicht, ob das Mulders Blut ist."
Sie drehte sich mit Hoffnungslosigkeit
in ihren Augen zu ihm um. "Wessen Blut sollte es sonst sein?" fragte
sie mit einer Stimme, die sich fast gebrochen anhörte, und er erkannte mit
einem Mal, wie schwierig das alles für sie gewesen sein musste. Natürlich
wusste er, dass es nicht leicht war -- ein Familienmitglied entführt und
gequält zu wissen war eines der schlimmsten Dinge, die einem widerfahren
konnten—aber jetzt konnte er die Sache mit ihren Augen sehen. Sie hatte so viel
getan und alles versucht, um Mulder sicher da rauszuholen, und alles, was sie
getan hatte, war in noch mehr Leid für den Menschen ausgeartet, den sie retten
wollte. Sein Ton wurde sanfter.
"Es könnte Sylvia
Stiles' Blut sein", sagte er, und als er sah, wie sich ihre Augen
weiteten, merkte er, dass sie diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen
hatte.
Sie folgten der Blutspur
durch den Flur in die Küche, doch dort endete sie und sie fanden absolut
nichts, als sie das ganze Haus durchsuchten.
"Die Scheune",
fiel es Scully plötzlich ein. "Ich wette, Dulexy hat sie getötet und ihre
Leiche in die Scheune gebracht. Wenn das so wäre, hätte er Mulder überallhin
bringen können."
Skinner war sich sicher,
dass sie beide Leichen—Sylvias und Mulders— in der Scheune finden würden, aber
das sagte er ihr nicht. Es gab keinen Grund, Scully noch weiter aufzuregen,
wenn er falsch lag. Als sie langsam ihren Weg zu der Scheune gingen, betete
Skinner, er möge Unrecht mit seiner Meinung haben.
Scully zog die schweren
Türen auf, während er keuchend an der Scheunenwand lehnte. Der Adrenalinstoß,
der ihm vom Krankenhaus bis hierhin geholfen hatte, war schon lange versiegt.
Jetzt wollte Skinner nichts weiter, als sich in die Arme seiner Frau fallen zu
lassen und sich von ihr umsorgen zu lassen. Aber Mulder, wenn er noch am Leben
war, wollte womöglich das gleiche, sagte er sich, also raffte er sich auf und
stellte sich aufrecht hin. Er folgte ihr hinein und ließ seine Augen sich an
das schummrige Licht gewöhnen.
Scully, die Energie
gewonnen zu haben schien, wo er keine mehr hatte, huschte so schnell sie konnte
von Stapel zu Stapel und lugte in und um jedes Hindernis herum. Sie kletterte
wieder auf den Heuboden, sah mit klopfendem Herzen über den Rand und schluckte
ihre Enttäuschung herunter, als der Boden genauso unberührt wie zuvor aussah.
Sie durchsuchte jede Ecke
und Winkel des alten Gebäudes und gab es schließlich auf.
"Ich schlage vor, wir
rufen die Polizei, Walter", sagte sie niedergeschlagen und setzte sich auf
eine Kiste. "Sie können das Grundstück viel besser durchsuchen als
wir."
Er nickte zustimmend. Er
wusste, dass es ihr sehr schwer fallen musste, die Kontrolle über die Situation
jemand anderes zu übergeben.
"Wir haben unsere
Handys im Auto liegen lassen", erinnerte er sie und sie gingen, Skinner
von Scully gestützt, sogar noch langsamer als vorher zurück zum Auto.
Er machte die Beifahrertür
auf und griff nach seinem Telefon. Doch als er sah, dass Scully vorne etwas
gesehen haben musste, legte er es wieder zurück auf den Sitz. Scully war im
Begriff gerade einzusteigen, doch sie hielt in ihren Bewegungen inne. Skinner
folgte ihrem Blick und entdeckte, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen
hatte. Nahe der Kücheneingangstür an der Seite des Hauses war eine Klapptür,
offenbar von einem Kohlenkeller.
"Die Blutspur endet
in der Küche", sagte sie immer noch hinschauend.
Er sah von der Tür zurück
zu ihr und wies dann mit dem Kopf zu dem Keller.
"Sei
vorsichtig", warnte er sie. Sie nickte. Langsam stieg sie aus dem Wagen
und näherte sich der Tür im Boden. Wollte sie wirklich wissen, was darunter
verborgen war? Wenn sie Mulders Leiche dort finden würde....
aber vielleicht war er noch am Leben, verletzt, und wartete auf sie.
Dieser Gedanke trieb sie
voran, und sie riss die Tür auf. Das Tageslicht strömte die Treppe herunter und
schien auf etwas, dass offenbar die Beine einer Frau waren.
"Jemand liegt
hier", rief sie zu Skinner. "Es könnte Sylvia sein."
Vorsichtig stieg sie die
Treppen herunter und konnte schon bevor sie die unterste Stufe erreichte sehen,
dass es definitiv Sylvias Leiche war, die auf dem dreckigen Boden lag. Von der
blutigen Wunde in ihrem Schädel und der Art wie sie lag zu urteilen war sie
tot. Scully sah sich weiter in dem kleinen Raum um und stellte erleichtert
fest, dass es keine weiteren Leichen hier gab. Mulder war hier weder lebendig
noch tot, was Scully als gutes Zeichen wertete.
Er öffnete die Augen und
fluchte. Es gab nichts Schlimmeres als kopfüber eine Treppe runterzufallen,
wenn man schon fast tot war, entschied er. Die gebrochene Rippe, die ihm das
Atmen erschwert hatte, war verrutscht. Jetzt machte sie das Atmen geradezu
unmöglich, zumindest auf der Seite, wo sie sich in die Lunge grub. Er konnte
kaum genug Luft einatmen, um bei Bewusstsein zu bleiben. Er blieb bäuchlings
liegen und keuchte kurz und stoßend.
Es war vorbei. Er war
besiegt. Er konnte jetzt nichts mehr tun. Es war ausgeschlossen aufzustehen und
zu der Straße zu gehen, er hatte keine Möglichkeit um Hilfe zu rufen, und
früher oder später würde Dulexy zurück kommen. Er konnte nur hoffen, dass Scully
und Emmie rechtzeitig weg gekommen waren, bevor er sie erreichen konnte. Er
wünschte sich sehnlichst zu wissen, ob es geklappt hatte, denn wenn sie in
Sicherheit waren, könnte er die Augen schließen und in Frieden sterben. Das war
sein größtes Bedauern—dass er es nie erfahren würde.
"Er ist nicht
hier", berichtete sie, als sie wieder ins Sonnenlicht trat. "Aber Sylvia ist tot. Ihr Schädel ist
eingeschlagen und es war offensichtlich ihr Blut, das wir drinnen gesehen
haben."
Skinner hörte sie kaum. Er
starrte gedankenvoll auf die Bäume, die auf der Südseite des Hauses lagen.
"Was ist da hinter
den Bäumen?" fragte er und nickte in die Richtung.
Sie folgte seinem Blick.
"Ich habe vor etwa einer halben Meile eine Straße gesehen", sagte sie
kurz darauf.
"Dann sehen wir sie
uns mal an."
"Die
Polizei...."
"Ich habe sie bereits
angerufen. Sie sind unterwegs. Lass uns sehen, wo die Straße hinführt, dann
kommen wir wieder her und machen unsere Aussage."
Sie nickte und hielt ihm
ihren Arm hin, um ihm den Weg zurück zum Wagen zu erleichtern. Skinner
schwächelte immer mehr, das sah sie ihm deutlich an. Er würde nicht mehr lange durchhalten.
Sie fuhr langsam die
gepflasterte Straße zurück und suchte nach der Abzweigung, die sie vorher
gesehen hatte. Gerade als sie überzeugt war, dass sie die Straße entweder
verpasst oder sie sich nur eingebildet hatte, sah Scully sie. Es war nicht
wirklich eine Straße, mehr ein breiter Weg.
Achtsam lenkte Scully den Chevy ihrer Mutter über die Kante des Asphalts
und versuchte das leise Ächzen Skinners zu überhören. Die alte Straße war sehr
zerfurcht und überwachsen, und als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass
jemand sie kürzlich benutzt haben musste.
Wieder wurde er durch ein
Motorengeräusch geweckt. Dieses Mal fuhr das Auto allerdings nicht vorbei.
Dieses Mal hörte er, dass es auf das Haus zukam. Das Haus, vor dem er lag, vollkommen
ungeschützt mitten auf dem Hof. Dulexy parkte seinen Wagen immer neben dem
Haus—Mulder hatte es durch sein Kommen und Gehen bestimmen können. Wenn er an
seinen gewöhnlichen Parkplatz fuhr, wie ständen dann die Chancen, dass er ihn
nicht sehen könnte?
Gleich Null. Er war ein
toter Mann. Logisch, dachte er mit einem Kichern, er war bereits jetzt schon
ein (fast) toter Mann. Gerade richtig um ausgeblutet und in den Tiefkühlschrank
gesteckt zu werden. Eine Hälfte von Mulder würde reichen, um eine Familie durch
vier lange Winter zu bekommen.
Diese wahnsinnigen
Gedanken überkamen ihn, als er merkte, wie durch und durch verrückt es war,
hier zu liegen und morbide Witze zu reißen, während Dulexy immer näher kam. Er
musste sich verstecken, oder zumindest.... naja… sterben während er es versuchte.
Er verkniff sich ein weiteres verrücktes
Kichern und entdeckte ein paar Büsche nicht weit von wo er lag. Offenbar hatte
das Haus einmal einen gut bepflanzten Hof gehabt, denn jetzt, nach Jahren der
Vernachlässigung war er stark überwuchert an einen und spärlich bewachsen an
anderen Stellen. Wenn er sich in den Büschen verstecken könnte, könnte er
vielleicht warten, bis Dulexy in seinen betrunkenen nächtlichen Tiefschlaf
verfiel, und sich dann zur Straße abmühen.
Er biss die Zähne zusammen
und erhob sich wieder auf seine Ellbogen. Seine Hände und Unterarme waren
inzwischen gehörig angeschwollen. Es war klar, dass er sich so nicht mehr lange
vorwärts bewegen konnte. Für einen Moment dachte er daran, sich seitwärts zu
den Büschen zu rollen, doch er verwarf diese Idee schnell wieder. Durch das
ständige Aufkommen seiner Brust auf den harten Boden würde seine gebrochene
Rippe sich wahrscheinlich in sein Herz bohren. Wenn er schon sterben müsste,
dann ganz bestimmt nicht durch Eigenverschulden, dachte er stur. Fest presste
er die Kieferknochen aufeinander, um nicht zu schreien, und begann vorwärts zu
rücken.
Scully hielt den Wagen vor
dem klapprigen Haus an. Es war offensichtlich unbewohnt, denn die vordere
Treppe fiel halb in sich zusammen und einige Fenster waren zerbrochen. Doch
trotzdem strahlte es etwas aus—eine Belebtheit, die eigentlich nicht in dieser
längst verlassenen Struktur sein sollte.
Ihre Augen leuchteten auf,
als sie aus dem Wagen stieg. Mulder war hier, oder zumindest war er hier
gewesen. Sie konnte es fühlen. Kopfschüttelnd schob sie diesen Unfug von sich.
Es gab keine Psychokinese, und selbst wenn, hatte sie die Fähigkeit dazu nicht.
"Warum bleibst du
nicht im Wagen?" schlug sie Skinner vor, der leichenblass auf seinem Sitz9
hockte. Aber sie wusste, schon bevor sie den Satz überhaut zu Ende sprach, wie
er reagieren würde.
Er warf ihr einen bösen
Blick zu und schwang die Autotür auf, an der er sich festhielt, als er sich
heraushievte.
//Gott, ich wünschte,
Männer würden einfach mal zugeben, wenn ihnen etwas weh tut!// dachte sie mit
einem Anflug von Ärger, aber sie hielt sich zurück. Sie sah keinen Grund,
Walter zu entmutigen, wenn er so war—wie ein Bulle.
Sie ging vor ihm her auf
die Haustür zu, und als er sie einholte, hatte sie schon geklopft, keine
Antwort erhalten und war hinein gegangen. Sie blieb nach zwei Schritten stehen
und sah sich um. Der Grundriss des Hauses sah dem, wo Sylvia Stiles gelebt hat
und gestorben war, sehr ähnlich. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob dieses
Haus zu dem Grundstück der Frau gehörte, doch jetzt waren all ihre Zweifel
ausgeräumt.
Im Wohnzimmer, in dem sie
gerade standen, schien alles an seinem Platz zu sein, also machten sie sich mit
einem gegenseitigen Zunicken auf den Weg ins Schlafzimmer. Scully ging wieder
voraus. Wieder hielt sie abrupt an und wieder wich alle Farbe aus ihrem
Gesicht, als sie das Blut auf dem Boden sah. Doch das hier waren keinen
Tröpfchen Blut, dies waren breite Streifen Blut, die sich auf dem groben
Holzboden abzeichneten. Und wieder führte die Spur in die Küche, dünner und
schwächer werdend, je dichter sie an der Küche dran war. Diese Dulexy-Familie
hat es wohl mit Küchen, dachte sie plötzlich und presste eine Hand auf ihren
Mund, um sich ein nervöses Lachen zu verkneifen.
Sie ignorierte fürs erste
die Spur, die in die Küche führte, und konzentrierte sich stattdessen auf das
Zimmer, von dem sie auszugehen schien. Ein riesiges, hölzernes Bett stand in
der Mitte des Zimmers, etliche Stücke Seil waren auf dem Boden verteilt und
etwas zog ganz besonders ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Neben einer dunklen
Blutlache lag eine scharfe, silbrig glänzende Schere.
Eine blutbeschmierte
Schere.
"Walter.... glaubst du er.... er hat Mulder hiermit umgebracht und
ihn dann.... in die Küche gezogen?" fragte sie stockend.
Er besah die Szene
kritisch und schüttelte den Kopf. "Dafür liegt hier nicht genügend Blut,
Scully. Wenn Mulder mit einer Schere umgebracht worden wäre, würde alles voller
Blut sein. Es sieht aber so aus, als hätte er Mulder damit geschnitten oder gestochen."
Er sah sich weiter um. "Wir sollten das ganze Haus durchsuchen. Mulder
könnte vielleicht noch hier sein."
Sie gingen zusammen durch
jedes Zimmer, aber sie schienen alle, obwohl der Verfall in allen deutlich war,
unberührt zu sein. Im Wohnzimmer stand ein Lehnstuhl neben einer großen
Ansammlung leerer Budweiser-Dosen, doch ansonsten gab es keine Anzeichen dafür,
dass das Haus während des letzten Jahrzehnts benutzt worden war. Was immer
Dulexy Mulder auch angetan hatte, er hatte es in dem Raum mit dem Blut getan.
"Wenn er sich genauso
viel Mühe gegeben hat, Mulders....—Mulder zu verstecken wie Sylvia, dürften wir
ihn ziemlich leicht finden", überlegte Skinner ruhig und mit einem Nicken
und einem weiteren Blick durch den Raum, der Mulders Gefängnis gewesen war,
machte sie auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche. Sie war am Rande eines
Nervenzusammenbruchs.
Mulder lag schnell und
flach atmend verborgen unter dem dichten Buschwerk. In sein Versteck zu kommen hatte ihn all
seine Kraft gekostet. Er hatte nichts mehr, womit er kämpfen konnte. Wenn
Dulexy ihn jetzt finden würde, wäre es vorbei. Er wünschte sich fast, dass
Dulexy ihn fand und ihn aus dieser Hölle erlöste, die sein Leben während der
letzten Woche geworden war, aber Mulder wusste, dass das Schicksal es ihm nie
leicht machte. Er hatte seine Schwester verloren, hatte vier Jahre im Gefängnis
verbracht und war durch die Hölle gegangen, um schließlich das Glück zu finden,
das er zum Schluss bekommen hatte. Was um alles in der Welt würde ihn glauben lassen,
dass das Leben aufhören würde, mit ihm zu spielen? Die letzten zehn Jahre in
Frieden waren offenbar seine Art, ihn in falscher Sicherheit zu wiegen, so dass
er seine Wachsamkeit schleifen ließ, nur um ihn in dieses letzte,
allerschlimmste Katz- und Mausspiel zu ziehen, bevor er starb.
Er hörte die Küchentüre
auf und dann wieder zu gehen und kniff die Augen zusammen. Wieder wollte er in nackten Angst wimmern, doch er konnte sich gerade noch
zurück halten. Egal wie, sagte er sich, seine Qualen würde bald vorbei sein. Er
versuchte, seinen bevorstehenden Tod als etwas Positives zu sehen. Er fühlte,
wie er schwächer und schwächer wurde bis fast zum Kollaps, mit jeder
verstreichende Sekunde immer näher an den Rand der Klippe gelangte. Er wusste,
dass das Verhungern und Verdursten, die Schläge, das Trauma und der Blutverlust
letztendlich zu seinem Tode führen würden. Bald. Heute. Dieser würde sein
letzter Tag auf Erden sein, und für einen kurzen Moment vergaß er wo er war und
wer ihm auflauerte, und erlaubte sich, dankbar für diesen schönen Tag zu sein.
Über Dulexys Schritten auf dem Hof konnte er die Vögel in den Bäumen zwitschern
hören. Es war ein sehr beruhigender Klang.
Mit einem Mal wurde es
Mulder überwältigend wichtig, dass er nicht hier in den Büschen sterben wollte.
Er wollte draußen im Freien sein, wo das Sonnenlicht seinen Körper wärmte,
bevor er für immer kalt und starr werden würde.
Im Stillen bot er den
Göttern, die ein solches Spiel mit ihm gespielt hatten, einen Handel an: er
würde sie ihn freiwillig nehmen lassen, wenn er zuerst das Sonnenlicht
erreichen könnte. Er maß die Entfernung zu dem Punkt, wo das Sonnenlicht das
Gras berührte—knapp zwei Meter. Etwa seine eigene Körperlänge. Das würde er
doch schaffen, oder? Wenn sein Körper wüsste, dass es das letzte ist, das er je
machen müsse? Er würde es sicher noch ein einziges, kurzes Mal schaffen.
Er hörte kaum das
Anlassergeräusch des Wagens und wie er mit quietschenden Reifen weg fuhr, als
er mit einer Eigenwilligkeit, die immer das Markenzeichen seiner Persönlichkeit
gewesen war, sich auf den Weg zur Sonne machte.
Eine Zeile aus einem alten
Kinderlied fiel ihm plötzlich ein, und ohne es zu merken, begann er die Wörter
zu sprechen. Er sang sie sich selbst vor, ein Singsang der Ermutigung, als er
zentimeterweise aus den schützenden Ästen hervor rückte.
"Setze einen....
Fuß.... vor den.... anderen....", murmelte er, während seine Ellbogen, die
durch den Trip über den Hof platt wie Pfannekuchen waren, ihn über die letzten
Meter zu seiner letzten Ruhestätte zogen.
"Bald.... wirste... über'n.... Boooooden....
lauf'n...." Er hielt an und legte sein Gesicht für ein paar heftige Atemzüge
auf den Boden, sog die Luft ein, so tief er nur konnte und sammelte Kräfte für
seine letzten Züge. Sein Platz zum
Sterben lag jetzt nur noch einen Meter vor ihm. Sobald er ihn erreichte, würde
er für immer ruhen können.
"Ein.... Fuß vor'n.... an...dern..." Seine Finger berührten das warme
Gras. Er wollte es umfassen, aber er
konnte seine Hände nicht bewegen. Aber sein Gesicht—er musste nur den
Sonnenschein auf seinem Gesicht fühlen, bevor er aufhörte. Nur noch dreißig
Zentimeter. "Bald.... wirste.... d...durch
die.... Tüüür.... geh'n... könnn'...", endete er
triumphierend, als sein Kopf dankbar über die Linie kroch, die Licht von
Schatten trennte.
Er schloss die Augen und
badete in der Wärme, die auf seine gebrochene Gestalt fiel und gab auf. Sie
könnten ihn jetzt jederzeit zu sich holen. Er war bereit zu gehen.
Nach und nach merkte er,
dass seine Träumereien von Lärm gestört wurden, und mit einem Wimmern erkannte
er, dass es Dulexys Truck war, der zurück kam. Mulder weigerte sich die Augen
zu öffnen. Die Abmachung war, dass wenn er es bis in die Sonne schaffen würde,
die Götter ihn zu sich holen konnten. Wenn sie das tun wollten, indem sie ihn
zurück in Dulexys Hände trieben, sollte es so sein—aber niemand hat davon
gesprochen, dass er dabei zusehen musste.
Er hörte die Autotür und
jemand rief aus großer Entfernung seinen Namen. Es war gar nicht Dulexys
Stimme, nein, ganz und gar nicht. Es war eine sanfte, feminine Stimme, eine,
die ihn selbst nach all den Jahren mit Verwunderung erfüllen konnte—Verwunderung,
dass diese Frau ihn durch und durch liebte und wollte und bei ihm blieb, obwohl
er auf mehr als nur einem Wege total kaputt war. In genau diesem Moment dachte
Mulder, er sei gestorben. Scully war hier, um ihn zu begrüßen, was bedeutete,
dass Dulexy sie schon erreicht hatte. Vielleicht waren die Qualen nun endlich
vorbei. Vielleicht könnten sie jetzt in Ruhe zusammen sein.
Eine kleine Hand ergriff
seine Schulter und er hielt ein Schluchzen zurück. Ihm tat alles weh. Er hatte gedacht, dass
wenn man tot ist, einem nichts mehr weh tat, aber vielleicht dauerte das ein
wenig. Er drehte seinen Kopf, um aufzuschauen und öffnete die Augen. Er sah ihr
Gesicht und lächelte bevor seine ausgemergelten Nerven überhaupt den Schmerz
registrierten, die diese Bewegung mit sich brachte.
Dann versuchte er zu
schreien, aber er hatte keine Luft mehr. Er sah und fühlte nichts mehr als
dunkle Schwärze, die er begrüßte wie eine lang verschollene Liebe, in die er
fiel und fiel.
Die Uhr hatte endlich
Mitternacht geschlagen.
Das Tagebuch des Fox Mulder
24.
Dezember
Es fühlt sich gut an,
endlich wieder vor dem Computer zu sitzen, obwohl Scully mir wahrscheinlich
alle Knochen wieder brechen würde, wenn sie mich so spät noch vor der Kiste erwischt.
Diese Frau besitzt keinen Funken Toleranz für diesen Mist. Ich sollte
eigentlich im Bett sein.
Es ist fast vier Monate
her, seit Dulexy versucht hat, meine Knochenstruktur zu derangieren. Es ist ein
Wunder, dass ich überhaupt noch laufen kann. Selbst wenn ich aus eigener Kraft
noch nicht so weit komme, versichern mir die Ärzte, dass ich mich wieder völlig
erholen werde. Ich muss einfach regelmäßig diese nicht zu seltenen Quälereien
weitermachen, die sie Bewegungs-Therapie nennen, und nächsten Sommer werde ich
wieder fast ganz der alte sein. Sie sagen, dass ich sogar wieder Basketball
spielen kann, allerdings werde ich nicht mehr sehr weit joggen können. Aber das
ist okay, ich kann ja noch schwimmen und Ballspiele machen und alles Mögliche,
was mir Spaß macht.
Ich kann immer noch meine
Frau und meine Tochter in den Armen halten. Ich würde sogar den Rest meines
Lebens in einem Rollstuhl verbringen, wenn das der Preis dafür wäre, das tun zu
können.
Dulexy war an dem Morgen
nicht mehr zu dem Haus zurück gekommen. Wenn er es getan hätte, hätte er
sowieso niemanden mehr vorgefunden. Emmie war während der Zeit bei Scullys
Mutter gewesen, weil Scully die wichtigste Rettungsaktion meines ganzen Lebens
durchgezogen hatte. Wie oft hat diese Frau meinen Arsch eigentlich schon aus
der Schlinge gezogen? Ich glaube nicht, dass ich das jetzt zählen will. Ich
sonne mich lieber im Glanz des Weihnachtsbaums, den Emmie letzte Woche
dekoriert hatte, und schwelge in dem Gewissen, dass ich dem Teufel wieder
einmal von der Schippe gesprungen bin.
Justin Dulexy hatte wohl
nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis einen Wagen ohne Kennzeichen gefahren,
und jedes Mal, wenn die Polizei ihn angehalten und wieder weiterfahren lassen
hatte, hatte niemand Notiz davon genommen. Es hat erst einen
vierundzwanzigjährigen Highway Patrolman gebraucht, der ihn auf dem
Fahndungsfoto wiedererkannt und verhaftet hatte. Er hatte gestanden, sobald sie angefangen
hatten, ihn bezüglich meines Verschwindens zu befragen, aber Scully und Walter
hatten mich zu der Zeit ja schon gefunden.
Armer Walter. Ich war mir
nicht sicher, ob Jess ihn während der ersten paar Tage nach seiner Expedition
umarmen oder umlegen würde. Nachdem er aus dem AMA-Krankenhaus gegangen war,
landete er gleich darauf wieder darin mit aufgerissenen Nähten und inneren
Blutungen, die eine weitere kleine Operation benötigten. Ich hätte ein verdammt
schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich nicht selbst einige dieser klitzekleinen
Operationen hätte überstehen müssen. Aber im Großen und Ganzen war Walters
Therapie nicht so schlimm. Diesen Gedanken habe ich in Jess' Nähe aber für mich
behalten. Ich bin ja nicht von gestern.
Scully hatte andererseits
fast einen Nervenzusammenbruch erlitten, als sie mich ins Krankenhaus geschafft
hatte. So hat man es mir zumindest erzählt.
Ich war zu der Zeit nicht gerade in Topform gewesen, ich kann mich nur
an einen Haufen hektisch agierender Leute durch einen roten Schmerzensschleier
erinnern. Ein Nervenzusammenbruch sieht meiner Scully gar nicht ähnlich, aber
wenn man mal beachtet, was sie alles durchgemacht hat, glaube ich es trotzdem.
Sie schleppt eine riesige Bürde mit sich herum, weil sie sich die Schuld dafür
gibt, dass Dulexy mich entführt hat. Ich habe versucht ihr klarzumachen, dass
Dulexy ein Irrer ist, dass er mich so oder so dran gekriegt hätte, sie hätte
nichts dagegen tun können. Aber sie will nichts davon hören. Am Ende habe ich
nachgegeben und habe sie mich verwöhnen lassen, damit sie das Gefühl bekam,
etwas für mich tun zu können. Wie schon gesagt, ich bin ja nicht blöd.
Als ich nach meiner
zweiten Operation nach Hause durfte, wurde der miesepetrige, bettlägerige
Ehemann durch einen bis zum Geht-Nicht-Mehr Verhätschelten ersetzt. Ich sei ihr
ausgeliefert, sagte sie an einem der besonders ekligen Tage zu mir, und ich
werde besser schnellstens wieder gesund, oder sie würde mit Emmie zu ihrer
Mutter ziehen und ich könnte hier liegen bleiben und verschimmeln. Ich merkte,
dass ich ihr wirklich ausgeliefert war, obwohl ich wusste, dass es nur leere
Drohungen waren, bremste ich mein Temperament und versuchte höflicher zu sein.
Das war gut so, denn sie hätte mich sonst verhungern lassen, weil meine Arme
und Beine eingegipst waren und ich vollkommen hilflos war. Ich konnte nicht mal
ohne ihre Hilfe aufs Klo gehen.
Emmie fühlte sich so mies
wegen der Dinge, die sie mir vor meiner Entführung an den Kopf geworfen hatte,
dass sie all ihre Freizeit damit zubrachte, mir Gesellschaft zu leisten. Sie
las mir vor oder erzählte mir von der Schule, die ich übrigens auch sehr
vermisse, oder unterhält sich einfach mit mir, bis ich sie schließlich
rausschicken muss, damit sie ihre Hausaufgaben macht oder Freunde besucht. Ich
grummelte mein bestes Grummeln und senkte bedrohlich meine Augenbrauen, aber
sie lachte einfach und küsste mich auf die Wange bevor sie ging. In ihren Augen
konnte ich sehen, dass sie sich über mich lustig machte, weil, wenn sie sich
mir widersetzen würde, könnte ich sowieso nichts dagegen tun. Ich sehe schon,
ich werde ziemliche Schwierigkeiten haben, mich wieder als Familienoberhaupt zu
behaupten, wenn erst einmal alles wieder seinen gewohnten Gang läuft. Zumindest lässt Scully mich immer glauben,
dass ich immer noch der Chef bin, aber nur um mein männliches Ego zufrieden zu
stellen, denke ich.
Ich musste den Jungs mein
Versprechen geben, für die nächste Super Bowl Party das Bier zu stellen, damit
sie mir etwas Vernünftiges zu Essen brachten. Scully hat mich in letzter Zeit
mit so viel gesundem Zeug vollgestopft, dass es mir schon zu den Ohren raus
kommt. Es hat sich allerdings gelohnt—die Jungs haben mich letzte Woche
besucht, während Scully und Emmie Weihnachsteinkäufe erledigt haben, und haben
für mich einen riesigen, fettigen Burger, Pommes Frites und einen Milchshake
hereingeschmuggelt, ohne dass meine Wächterin es bemerkt hatte. Zumindest
glaube ich, dass sie bis heute nichts davon weiß, obwohl sie, als sie
wiedergekommen ist, geschnuppert und mir einen wissenden Blick zugeworfen hat.
Sie hat es allerdings nicht angesprochen, also beharre ich auf meine Intuition
(die mir sagt, dass Scullys Instinkte ihr immer sagen, was ich tue oder lasse)
und lasse mir meinen Eindruck, sie reingelegt zu haben.
Ellery hat mich im
Krankenhaus besucht und sich in Tränen aufgelöst dafür bedankt, ihr das Leben
gerettet zu haben. Das arme Kind gibt sich mindestens ebenso viel Schuld für
meine Entführung wie Emmie, auch wenn keine von beiden jegliche Schuld trifft.
Ich habe mein Bestes getan, um ihr klar zu machen, dass sie lediglich ein Opfer
geworden war. Ich werde allerdings tun was ich kann, um ihr zu helfen—sowohl
als Psychologe, als auch als Freund—denn ich bin nicht gewillt, die beiden
Mädchen ein Leben leben zu lassen, das durch diesen Vorfall völlig aus den
Fugen gerät. So wie meins durch Samanthas Verschwinden beeinflusst wurde. Sie
verdienen besseres, und ich werde dafür sorgen, dass sie es bekommen, und wenn
es das letzte ist, das ich tue.
Verdammt, die Frau ist
gut! Sie hat mich gehört, obwohl ich versucht habe, so leise wie möglich zu
sein. Sie hat gerade nach mir gesehen und versucht, mich zurück ins Bett zu
beordern. Ich nehme an, dass mein Hundeblick dieses Mal Wirkung erzielt hat,
denn ich konnte sie endlich überreden, sich für den Rest der Nacht zusammen mit
mir auf die Couch zu setzen. Wir haben uns im Dunkeln aneinander gekuschelt,
das Feuer im Kamin und den leuchtenden Christbaum angesehen und es einfach
genossen, beieinander zu sein. So eine einfache und wunderbare Sache. Jetzt
macht sie mir gerade Frühstück und ich schreibe auf Geheißen von Jess diesen
Tagebucheintrag zu Ende. Gleich kann ich Emmie für unsere morgendliche
Weihnachtsfeier wecken.
Ich kann es kaum erwarten,
was sie zu meinem Geschenk sagt. Als sie noch klein war, wollte sie immer einen
Hund, doch der erste, den wir ihr geholt haben, war kurz darauf an einer
Krankheit, von der wir gar nicht wussten, dass er sie hatte, gestorben. Und
dann war ihre geliebte Ginger, die sie sechs Jahre lang gehabt hatte, von einem
Auto überfahren worden. Emmie schien sich nie wieder an ein Tier binden zu
wollen, also habe ich Scully schließlich davon überzeugt, ihr etwas ruhigeres,
nicht so aufgekratztes zu geben, das im Haus bleiben konnte.
Vielleicht setze ich das
Kätzchen auf ihr Bett und wecke sie dann. Wer kann schon dem Schnurren einer
kleinen Katze widerstehen? Ich nicht, und Emmie sicherlich auch nicht. Ich habe
sie mit Ellerys Katzen gesehen—Emmie liebt einfach alle Tiere. Ich habe das
Kätzchen gründlich untersuchen lassen. Es ist so gesund wie....
naja, es ist auf jeden Fall bei weitem gesünder als ich.
Ich hoffe, dass Scully
daran gedacht hat Katzenstreu zu kaufen....
Ende